Juli 23

 Aufgaben und Grenzen theologischer Hermeneutik

Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2025, ISBN 978-3-374-07879-0, 212 Seiten, Paperback, Format 19 × 12 cm, 35,00 € 

Wer eine kompakte Zusammenfassung des protestantischen Nachdenkens über Gott seit Schleiermacher, dem frühen Gogarten, Bultmann und der Dialektischen Theologie und seine Konsequenzen für die Gegenwart sucht und komplexe theologische und philosophische Diskussion nicht scheut, ist bei Ulrich H. J. Körtners jüngster von über 2245 Publikationen »Gott verstehen« genau richtig (vergleiche dazu https://www.yumpu.com/de/document/read/70329499/ulrich-h-j-kortner-gott-verstehen-leseprobe und https://etfst.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/i_etfst/ueber_uns/team/koertner/publikationen_koertner.pdf). Sie ist noch rechtzeitig vor seiner Verabschiedung aus dem akademischen Dienst am Lehrstuhl für Systematische Theologie H. B. an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien erschienen (vergleiche dazu https://evang.at/ulrich-koertner-feierlich-aus-akademischem-dienst-verabschiedet/).

Körtner geht es in seiner Publikation nicht wie Rudolf Bultmann in seinem 1925, also vor genau 100 Jahren veröffentlichten Aufsatz »Welchen Sinn hat es von Gott zu reden?« um die These, dass man Gott schon verloren hat, wenn man unter „von Gott“ reden, „über Gott“ reden versteht und damit Gott als die alles bestimmende Wirklichkeit verliert (vergleiche dazu https://jochenteuffel.com/2018/11/20/rudolf-bultmanns-vortrag-welchen-sinn-hat-es-von-gott-zu-reden-von-1925-vollstandiger-text-wer-mit-gottesbeweisen-etwas-uber-gottes-wirklichkeit-auszusagen-meint-disputiert-uber-ein-phantom-man-kann-u/#:~:text=kann.“ – NAMENSgedächtnis-,Rudolf Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden,“), sondern um die Annahme, dass „das Verstehen des Glaubens nicht nur eine Weise menschlichen Selbstverständnisses, sondern in einem distinktiven Sinne zugleich ein Verstehen Gottes ist. 

Vorausgesetzt ist damit die Möglichkeit, dass Gott überhaupt von uns Menschen verstanden werden kann und nicht etwa nur eine Chiffre für ein unnennbares Geheimnis oder eine Lehrstelle in einer Theorie metaphysischer Letztbegründung ist. Verstehen lässt sich Gott nur, wenn er sich selbst in einer uns verständlichen Weise zu verstehen gibt, mit anderen Worten, sich uns offenbart, wobei es sich um die Offenbarung seiner selbst handelt, durch die, metaphorisch gesprochen, die Existenz des von der Selbstoffenbarung Gottes getroffenen Menschen wie auch die Welt im Ganzen, Geschichte und Gesellschaft in einem neuen Licht erscheint. Im Licht der Selbstoffenbarung Gottes werden Mensch und Welt auf letztgültige Weise offenbar. Dieses Offenbarwerden in Raum und Zeit, in der Geschichte von Mensch und Welt, ist sowohl ein letztgültiges und doch kein endgültiges, heißt es doch im 1. Johannesbrief: »Es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein, denn wir werden ihn sehen, wie er ist.« Wir leben mit anderen Worten im Glauben und nicht im Schauen, womit bereits das Thema der Eschatologie und des eschatologischen Vorbehalts angesprochen ist“ (Ulrich H. J. Körtner, S. 6 f.).

Theologie ist für Körtner ihrem Wesen nach hermeneutisch, weil das Verstehen ein Grundzug des christlichen Glaubens ist. Glauben ist ein Verstehen unserer selbst in unserer Beziehung zu Gott. Gott ist der Verstehensraum des Glaubens. Das besondere Augenmerk des Buches liegt dann auf den leiblichen und sinnlichen Aspekten jeglichen Verstehens. Körtner vertritt nun die These, dass das Organ der vernehmenden Vernunft der Hörsinn ist. „Schon bevor der Mensch sprechen kann, ist er das Wesen, das Sprache hat und sprachlich existiert, weil er hören kann. Die Rezeptivität des Hörens und des Hörsinns liegt der Aktivität des Sprechens voraus. Nur über das Hören entwickelt sich das eigene Sprachvermögen, das als Wesensmerkmal von Personalität und Vernunft gilt … Das Ohr, Organ des Hörsinns, ist auch der Sitz unseres Gleichgewichtssinns und somit wesentlich, damit wir uns im Raum orientieren können. Gleichwohl besteht … kein Grund, die Sinne gegeneinander auszuspielen. Schallwellen können ebenso vom Ohr wie auch vom übrigen Körper wahrgenommen werden. Tiefe Bässe oder Trommelgeräusche lassen den Körper vibrieren. Töne und Musik können also auch durch unseren Tastsinn wie auch im Inneren des Körpers wahrgenommen und erlebt werden … Auch wer Ohren hat zu hören, nimmt beispielsweise Musik nicht nur mit dem Hörsinn, sondern mit allen Sinnen wahr … Der Hörsinn entwickelt sich nicht erst nach der Geburt, sondern schon während der Schwangerschaft.… Die moderne Embryologie und Entwicklungspsychologie zeigen uns, dass die vorgeburtliche Existenz nicht in hermetischer Abgeschiedenheit und Stille verläuft. Vielmehr hört das ungeborene Kind zahlreiche Geräusche im Mutterleib, und zwar nicht nur die Geräusche des mütterlichen Körpers …, sondern auch die mütterliche Stimme und Geräusche, die von außen in den Bauch der Mutter und in die Fruchtblase eindringen … Bereits vier Tage nach der Geburt sind Säuglinge in der Lage, die Stimme ihrer Mutter von anderen Stimmen unterscheiden zu können … So gesehen ist der erste Schrei nach der Geburt eine erste Antwort auf die menschliche Stimme, welche das ungeborene Kind schon vor der Geburt vernommen hat“ (Ulrich H. J. Körtner, S. 59 ff.).

Dass in der Folge der Hörsinn in Körtners theologischer Hermeneutik eine Schlüsselrolle spielt, versteht sich von selbst. „Mit kritischem Seitenblick auf Rudolf Bultmanns Konzeption von Glauben und Verstehen, das ihm zugrunde liegende Modell der durch das Kerygma provozierten Entscheidung, das Konzept des hermeneutischen Zirkels und seine Kategorie des Vorverständnisses hat der Züricher Neutestamentler Hans Weder das Hörenkönnen als basale Voraussetzung des Glaubens bestimmt. Weder beruft sich für diese Modifikation des Ansatzes einer hermeneutischen Theologie auf Paulus. Dieser erklärt in Römer 10,17: »So kommt der Glaube aus dem Hören [bzw. der gehörten Predigt], die Predigt aber durch das Wort Christi.« Das Hören ist nach Weder das anthropologische Korrelat zur paulinischen bzw. reformatorischen Rechtfertigungslehre, weil der Mensch als Hörender rezeptiv ist. Hörend erreicht ihn der Zuspruch, die promissio der göttlichen Gnade, die Zusage der Sündenvergebung. Der Höhrsinn ist demnach der anthropologische Anknüpfungspunkt für die biblische Religion des Wortes: Der glaubende Mensch ist ganz Ohr. Insofern kann man Luthers Satz, wonach der Glaube die Person macht, dahingehend abwandeln, dass das Hören die Person macht – nämlich das Hören der Anrede Gottes, der uns bei unserem Namen ruft“ (Ulrich H. J. Körtner, S.77).

Für Körtner ist nun eine theologische Hermeneutik des Körpers und der Körpersprache in Richtung auf eine Theologie der Medien zu erweitern. Die theologische Tradition spricht klassisch von den Sakramenten, protestantisch aber auch von Heiliger Schrift und Predigt als den media salutis. Gott bedient sich leiblicher Medien, um sich Menschen mitzuteilen. Letztlich kann und muss auch die ganze Welt, verstanden als Schöpfung, als Anrede Gottes begriffen werden.

„Über den Gedanken leiblicher Medien, derer sich Gott bedient, um sich den Menschen zu offenbaren und mitzuteilen, reicht die Vorstellung hinaus, dass Gott selbst einen Körper hat, ohne den er gar nicht fähig wäre, zu kommunizieren … Der christliche Inkarnationsgedanke besagt, dass Gott in der Person Jesu Christi menschliche Gestalt, also einen Körper angenommen hat, dessen genaue Beschaffenheit in der Zuordnung und Unterscheidung von göttlicher und menschlicher Gestalt menschlicher Natur Gegenstand intensiver dogmatischer Debatten in der Alten Kirche war, die zum Trinitätsdogma des Nicäno-Konstantinopolitanum (325/328 n. Chr.) und in weiterer Folge zur Zwei-Naturen-Lehre des Konzils zu Calcedon (451) geführt haben.

Christologische Reflexionen verbinden sich des Weiteren sowohl mit Fragestellungen der Sakramentlehre als auch mit solchen der Ekklesiologie. Im Abendmahl werden, konfessionell durchaus sehr verschieden, Brot und Wein als Leib und Blut Christi gedeutet. Bei allen bestehenden theologischen Unterschieden wird doch in den meisten Konfessionen angenommen, dass Christus selbst in der Feier des Abendmahls gegenwärtig ist, auch wenn die Auffassungen darüber auseinandergehen, ob diese Gegenwart physisch oder geistlich zu verstehen ist“ (Ulrich H. J. Körtner, S. 79 f.).

Emil Brunner, Rudolf Bultmann und auch Paul Tillich sind bei allen Unterschieden ihrer theologischen Programme noch davon ausgegangen, dass Gott zumindest in der Form einer offenen Frage präsent ist. Die Theologie der Gegenwart kann dagegen „nicht mehr von der Gottesfrage als unverrückbarer anthropologischer Konstante ausgehen. Wohl fragen Menschen nach dem Sinn ihres Lebens oder dem Sinn der Welt im Ganzen. Aber die Sinnfrage darf nicht umstandslos mit der Gottesfrage gleichgesetzt werden, wie auch die Sehnsucht nach Heil und Erfüllung ganz diesseitsorientierte Antworten finden kann. Der hermeneutische Zirkel von Frage und Antwort wird dadurch gestört, um nicht zu sagen zerbrochen, dass die Gottesfrage in der Moderne nachchristliche Antworten gefunden hat, durch welche sogar die ursprüngliche Frage verdeckt wird. Aus der Überzeugung, bessere Antworten auf die falsch gestellten Fragen des Christentums gefunden zu haben, speist sich das Selbstbewusstsein der Neuzeit. Es gibt einen Gewohnheitsatheismus, für den nicht nur die christliche Antwort auf die Gottesfrage, sondern sogar diese selbst in Vergessenheit zu geraten scheint“ (Ulrich H. J. Körtner, S. 210).

Nach der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD aus dem Jahr 2022 stimmen nur noch 20 % der Befragten dem Satz zu: »Ich glaube, dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat« (vergleiche dazu und zum Folgenden: »Der Tendenz nach geht es weiter nach unten«. Ein Gespräch mit dem Religionssoziologen Detlef Pollack. In: Süddeutsche Zeitung Nummer 166, S. 12 vom 22. Juli 2025). Detlef Pollack führt aus, dass schon in den 1990er Jahren nur etwa 30 % der Befragten an die leibliche Auferstehung Jesu geglaubt haben. Heute würden diese Aussage weitaus weniger bejahen. Nach dogmatischen Gestalten wie Jungfrauengeburt, Erbsünde oder Gottessohnschaft wird in religionssoziologischen Umfragen schon gar nicht mehr gefragt, da bei diesen Fragen die Zustimmungsraten einfach zu gering sind. Stattdessen wird gefragt, ob man an ein höheres Wesen glaubt, aber nicht an einen personalen Gott, wie ihn die Bibel verkündigt, ob man sich ganz allgemein für religiös oder spirituell hält oder ob man das Universum in seiner schöpferischen Kraft als göttlich ansieht. Pollack hält die fortgeschrittene Säkularisierung in Deutschland für den Normalfall. In den meisten Ländern Westeuropas tragen vor allem Prozesse der Modernisierung und die Verflüssigung religiöser Sinnformen zum Bedeutungsverlust der Religion bei. Unter Modernisierung versteht Pollack mehr als nur Industrialisierung, Urbanisierung oder Wohlstandswachstum. Modernisierung bedeutet auch kulturelle Pluralisierung, Relativierung von Wahrheitsansprüchen, Toleranz, ein größeres Vertrauen in das Individuum, Autoritätskritik, Institutionenskepsis. 

„In modernen westlichen Gesellschaften legen die Menschen Wert auf ihre Entscheidungskompetenz und wehren alle Bevormundungsversuche ab. Auch in Existenz- und Glaubensfragen bestehen sie nach Pollack auf ihre Autonomie und folgen nicht mehr autoritativen Vorgaben. Menschen sind zunehmend skeptisch gegenüber allen geschlossenen Weltanschauungen.  In Deutschland und Westeuropa lebt man trotz aller Krisen in relativ gesicherten Verhältnissen. Die moderne Gesellschaft hält viele Partizipations- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten bereit, nicht nur in der Freizeit, sondern auch im Beruf. Deshalb verschiebt sich die Aufmerksamkeit von der Frage nach den ersten und letzten Dingen unseres Lebens zur Frage, was man im Hier und Jetzt tun möchte. Die Moderne kommt nicht als die große Infragestellung der religiösen Wahrheiten in unser Leben, sondern schleicht sich gewissermaßen auf leisen leichten Sohlen in unser Leben ein. Damit kommt es zu einer wachsenden Gleichgültigkeit gegenüber der Religion. Die religiösen Praktiken, die Zeit und Kraft kosten, also Gebet und Kirchgang, nehmen ab, danach auch die Kirchenmitgliedschaft und der Glaube.

Ob Körtner in gleicher Weise wie Pollack mit der fortgeschrittenen Säkularisierung rechnet, ist zumindest offen, wenn er im Schlussteil seiner Publikation schreibt: „Unter heutigen Bedingungen hängt die Möglichkeit, von Gott zu reden, offensichtlich nicht von einer wie auch immer gearteten Frage nach Gott ab, sondern an der Erinnerungsspur der biblisch bezeugten Gottesoffenbarung, so gewiss es keinen natürlichen oder evolutionären Weg von einem allgemeinen Religionsbegriff zum Geltungs- und Wahrheitsanspruch jedes wirklichen Monotheismus gibt. Die Gottesfrage liegt der Offenbarung nicht voraus, sondern wird allererst durch sie in der angemessenen Weise provoziert. Andernfalls lässt sich nicht einmal die Frage nach Gott angemessen stellen. Erst aus dem Misslingen des Gotteswortes entsteht die Frage nach Gott. Das in Erinnerung gerufen zu haben bleibt theologiegeschichtlich das Verdienst Karl Barths. Nur vor dem Hintergrund des biblischen Offenbarungzeugnisses und der dieses wachhaltenden Erinnerung ergibt es einen Sinn, von Gottes Abwesenheit und Verlust in der Moderne zu sprechen.

Soll die Gottesfrage nicht ins Leere laufen, so sind sowohl die eingangs aufgeführten negativen Gottesattribute als auch der Begriff einer negativen Theologie von den biblischen Texten aus zu bestimmen. Dann zeigt sich, dass der der Neuzeit abhanden gekommene oder fremde Gott auf ganz bestimmte, nämlich durch seine Offenbarung bestimmte Weise verborgen ist. Die Verborgenheit Gottes ist biblisch gleichermaßen als Modus seiner Anwesenheit wie seiner Offenbarung zu bestimmen.

Die biblische Tradition bietet eine Möglichkeit, den der Moderne entschwundenen Gott nicht als abwesend, sondern als verborgen, das heißt aber, allem Augenschein zum Trotz gegenwärtigen und wirksamen zu denken – vor allem aber: zu glauben. »Fürwahr, du bist ein verborgener Gott, der Gott Israels, ein Erretter!« (Jes 45,15). Dies ist kein allgemeiner Grundsatz negativer Theologie, sondern im Kontext des Jesajabuches Ausdruck dankbaren Staunens darüber, dass der Gott Israels verborgen durch den Perserkönig Kyros an seinem Volk handelt und dass sich im äußeren Geschichtsverlauf ein Wandel vom Gericht zur Gnade und Erlösung vollzogen hat. Für Luther findet Jes 45,15 in der Menschwerdung und im Kreuz Christi seine endgültige Erfüllung. Hat die Rede von der Verborgenheit Gottes einen christologischen Sinn, indem sie auf das Kreuz Christi bezogen wird, dann ist sie nicht Ausdruck von Resignation oder Skepsis, sondern im Gegenteil assertorisch, d. h. das Amen des Glaubens auf die Zusage (promissio) des Evangeliums. Angesichts neuzeitlicher Erfahrungen der Abwesenheit Gottes ist es die Aufgabe heutiger Theologie, die biblische Rede von der Verborgenheit Gottes als Verheißung begreiflich zu machen, dass weder die moderne Skepsis noch ein um sich greifender Gewohnheitsatheismus das letzte Wort haben werden“ (Ulrich H. J. Körtner, S. 210 ff.).

ham, 22. Juni 2025

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