Fundus – Bücher 217, herausgegeben von Harald Falckenberg, Dirk Luckow und Peter Weibel
Philo Fine Arts, Hamburg 2014, ISBN 978-3-86572-688-9, 343 Seiten, 30 schwarz-weiß-Abbildungen,
Hardcover gebunden mit Lesebändchen, Format 16,5 x 10,5 cm, € 26.00

Der 1962 in Hamburg geborene und heute in Berlin lebende Kunsthistoriker, Künstler, Publizist und Honorarprofessor an der Akademie der Bildenden Künste in Wien Tom Holert stellt schon auf der ersten Seite seiner „Übergriffe“ fest, dass der Band kein Buch über Gegenwartskunst und auch kein theoretischer Versuch zu ihrem Verständnis im Grundsatz ist. Statt dessen untersucht es die strukturellen, zeitgeistigen und praktischen Gestehungsbedingungen der Produktion von 12 Künstlerinnen und Künstlern aus dem globalen Norden und Städten wie Berlin, New York, London, Los Angeles, Düsseldorf und Zagreb. Die Texte gehen auf in den Jahren 2000 – 2013 erarbeitete Vorträge und Beiträge für Kataloge und Künstlerbücher zum Thema Medienkunst zurück. Sie verhandeln unter anderem auch die „impliziten und expliziten Anforderungen und Annahmen, die mit dem Titel contemporary art verbunden sind und sich in den Akteuren und Werken verkörpern […]. Sie registrieren zudem alle möglichen Abhängigkeiten, Allianzen, Abgrenzungen im Kontext einer gleichermaßen global strukturierten wie lokal organisierten Kunstwelt sowie so manche mit diesen Bezügen korrespondierende(n) Affekte (und Versuche von deren Kontrolle); sie registrieren Spuren von nahen und fernen Beziehungen zu einzelnen Personen und Institutionen und den mit ihnen verbundenen Inspirationen, Wissensbeständen und Erfahrungsweisen; sie bergen und zeigen, in oft verdichteter, manchmal nur schwer zu entziffernder Form, die Interaktionen und Übergriffe, die Spannungen und Kollaborationen, wie sie sich in eine Vielzahl von Kontakten und Konversationen kristallisieren“ (Tom Holert S. 11 ff.). Und sie legen die nachhaltigen „Verrückungen und Umschichtungen im Verhältnis von Kunst und Kunstkritik, künstlerischer theoretischer Praxis“ offen. „Ein zentrales Moment dieser Rekonfigurationen ist die Aufteilung der Zuständigkeit […]. Kompetenz im Sinne von Zuständigkeit (auch im Sinne von: Berechtigung und Verantwortung) besitzt man nicht einfach, sie muss immer erst behauptet und zuerkannt werden. Wer etwas in der Kunst kann und darf, und wer über diese oder jene Lizenzen und Mandate noch nicht oder nicht mehr verfügt, ist aber nicht nur eine Frage von Macht und Einfluss, von Klassenzugehörigkeit, Bildung und Geld, sondern hängt auch davon ab, welche Modelle von
kultureller Praxis, welcher Begriff von Kunst, welche Gefüge von Ökonomie, Politik und Ästhetik
vorherrschen.

Dadurch, dass die diskursiv-institutionelle Formation ,Gegenwartskunst’ Modernismus und Postmodernismus beerbt hat […], ist die Zuständigkeit, auf angemessene Weise […] über Kunst zu sprechen, Kunst zu machen, Kunst zu interpretieren und zu vermitteln, ein weiteres Mal in Bewegung geraten […]. Ansprüche auf diskursive und ästhetische Autorität werden umverteilt. Wer hat das Sagen? Die Sammlerin, der Kurator, die Künstlerin, der Kritiker, die Betrachterin, der Messedirektor, die Bloggerin? […]. Die Umverteilung und Revirements […] sind im Zusammenhang jener Neuordnung von Ökonomie, Arbeit und Alltag zu sehen, denen der vielfach theoretisierte Prozess der Umstellung vom Industriekapitalismus (und dessen Lebenswelten) auf globalen Finanzkapitalismus, digitale Netzwerke und eine unmittelbar am körperlichen, emotionalen und mentalen Leben der Subjekte ansetzenden Wertschöpfung zugrunde liegt“ (Tom Holert S. 12 ff.).

Im Zuge dieses Revirements verändert sich das Berufsbild ,Künstler / Künstlerin’ in Richtung Multidisziplinarität, unternehmerische Haltung zum eigenen Selbst, Wissensproduktion und Projektorientierung. Gegenwartskunst expandiert praktisch, gattungsmäßig, theoretisch, gesellschaftlich und mit ihrer multiplen Expansion „gehen veränderte politische und ethische Erwartungen an die Kunst und an die Akteure der Kunst einher […]. Das Leitbild einer globalen Gesellschaft des liberalisierten Verkehrs von Geld, Waren und Menschen verlangt, dass die Kunst der Gegenwart die Mobilität und Reaktionsschnelligkeit verkörpert, die den Prozess der Globalisierung insgesamt kennzeichnen soll. Dazu wird erwartet, dass Kunst nicht nur als Anlageform in der Vermögensverwaltung funktioniert, sondern zuverlässig Materialien liefert, die helfen, die gesellschaftlichen, technologischen, ökonomischen und ökologischen Veränderungen zu reflektieren, die die Erfahrungen von Gegenwart individuell und kollektiv prägen. Kunst soll Orientierung stiften, die richtigen Fragen formulieren und möglichst auch beantworten – aber auf ihre Weise, mit den Instrumenten und Methoden einer künstlerischen Ästhetik“ (Tom Holert S. 19f.). Im Zuge der Umverteilung der Rollen verändert sich auch die Kunstkritik; sie wird zunehmend zum Dienstleister und verliert die ihr bisher zugeschriebene Funktion, „eine Instanz des ästhetischen Urteils zu sein“ (Tom Holert S. 24). Damit wandern die Kämpfe zwischen den verschiedenen Akteuren um die Zuständigkeit und Definitionsmacht
dessen, was Gegenwartskunst ausmachen und sein soll, gleichsam in die Unsichtbarkeit.

Deshalb ist es wohltuend, dass Holert die Erstfassung seiner Analyse von Sanja Ivekovićs Performance Übung macht den Meister im Postskriptum vom Juni 2009 unübersehbar in Frage stellt. Damit zeigt er, dass sich auch einmal gewonnene Einsichten verändern können: „Als ich mir Übung macht den Meister […] anlässlich der iederveröffentlichung dieses Essays noch einmal anschaute, wurde mir bald klar, dass ich in der Erstfassung des Textes kaum an der Oberfläche der Komplexität der Arbeit gekratzt hatte. Dies betrifft insbesondere ihre spezifische Temporalität und die vielfältigen Beziehungen zu Sexualität und Feminismus, zur Geschichte des sozialistischen Jugoslawiens, zur Historizität der Nation und zur Position von Frauen im Nationalstaat und dessen Kriegen“ (Tom Holert S. 54 f.). In seiner Deutung von Jeff Walls The Vampires´ Picnic grenzt sich Holert von Rosalind Krauss ab und macht damit deutlich, wie der Kampf um Diskursund Deutungshoheit aussehen kann. In seiner Skizze zu Danica Dakićs Isola Bella zeichnet er nach, wie die Filmemacherin die Autonomie der Darsteller fördert und damit auch einen Beitrag zur Wiederverzauberung und zur Unabhängigkeit der Gestalten liefert: „Die Akteure, die Orte, die Requisiten und Referenzen, mit denen Dakić arbeitet, werden von ihr als hochgradig autonom begriffen und wertgeschätzt; und gerade dies erlaubt es ihr auch, ihre eigenen künstlerischen Interessen zu artikulieren und zu gestalten. Wenn performativ herbeigeführte Liminalität auf Erfahrungen der „Wiederverzauberung der Welt“ (Erika Fischer-Lichte) in der Aufführung beruht, dann besteht Dakić ebenfalls auf einer solchen Wiederverzauberung […]. Indem sie die Ontologien von Theater und Film, von Bühne und Studio, von Aufführung und Projektion so
ineinanderfaltet, wie in […] Isola Bella […], löst sie das Band zwischen Existenz und Figuration und liefert damit ihren Beitrag zur Geschichte der Unabhängigkeit der Gestalten“ (Tom Holert S.261 f.). Holert führt also detailreich und umfänglich in die von ihm ausgewählten Arbeiten ein; man kann, wenn man sich genügend Zeit lässt, unendlich viel von ihm lernen. Eines aber tut er nicht: Er begründet nicht, warum er die genannten und weitere Arbeiten von Sarah Pierce, Stephan Prina, Josephine Pryde, Omar Fast, Candice Breitz, Mark Lewis, Jeroen de Rijke und Wilhelm de Rooij und Bernadette Corporation besprochen hat aber ebenso erwähnenswerte andere nicht. Man könnte deshalb fragen, ob sich seine Auswahl allein dem notwendigerweise subjektiven Zugang und den zufälligen Anfragen von außen verdankt oder ob sie auch den Übergriffen, Kartellen und Absprachen derer geschuldet ist, die Kunst produzieren, kritisieren, kuratieren, handeln, vermitteln und lehren. Wenn dem so wäre, wüsste man gerne, wer zwischen 2000 und 2013 mit wem koaliert und wer sich für andere Künstler eingesetzt hat.

ham, 1.1. 2016

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