Romane als Krankengeschichten
Psychosozial-Verlag Gießen, 2013, ISBN 978-3-8379-2286-8, 133 S., Broschur, Format 19 x 12,5 cm, € 14,90
Der seit 1978 in einer privaten Praxis in Freiburg tätige körperorientierte Psychoanalytiker Tilmann Moser knüpft mit seinen ‚Lektüren eines Psychoanalytikers‘ an seinen vor 25 Jahren erschienen Band ‚Romane als Krankengeschichten‘ zu Werken von Peter Handtke, Martin Walser und Christoph Meckel an. Wie damals will er auch jetzt aktuelle Literatur mit dem Blick des Analytikers lesen und dabei jeden Rückschluss auf mögliche Persönlichkeitsmerkmale der Autoren vermeiden. Diesmal stehen Fred Uhlmans Erzählung ‚Der wiedergefundene Freund‘, Samuel Becketts Theaterstück ‚Warten auf Godot‘, Romane von Wilhelm Genazino, Philip Roth und Elfriede Jelinek und Charlotte Roches Bestseller ‚Feuchtgebiete‘ und ‚Schoßgebete‘ im Mittelpunkt. Moser betont seinen Respekt „vor der unglaublich einfühlsamen Sensibilität, mit der sie ihre Helden charakterisiert haben. Vermutlich befähigt durch Konflikte und Traumata ihrer eigenen Lebensgeschichte haben sie sich den Zugang offen gehalten zu Erlebnisformen, die zwar in jedem Menschen angelegt sind, aber häufig durch mildernde, korrigierende oder sogar rettende Phasen des Lebens überformt wurden und zu einer Existenz führen, die weniger in einem permanenten Abgrund ausgehalten werden muss. Die Verstörungen der geschilderten >>Helden<< oder >>Antihelden<< bei den untersuchten Autoren stellen in ihrer Radikalität in jedem Fall Bausteine einer tiefenpsychologischen Diagnostik der Moderne dar, die in einem so gewaltsamen Widerspruch steht zu den Schaubildern gelungenen Lebens, wie sie Werbung, politische Propaganda und gängige Wunschbilder von Zufriedenheit und Glück an die Wand malen… Alle Protagonisten – mit Ausnahme derjenigen in ‚Der wiedergefundene Freund‘ von Fred Uhlman – haben Traumatisierungen in frühester Kindheit erfahren, die dazu führen, dass spätere Lebensereignisse und Lebenschancen bereits verzerrt durchlebt werden und in eine destruktive Abwärtsspirale führen. Deshalb scheue ich mich auch nicht zu sagen: In den letzten Jahren habe ich durch die Lektüre ausgewählter Romane mehr über die Nöte meiner Patienten gelernt als durch wissenschaftliche Abhandlungen über >>frühe Störungen<<.… Die tiefenpsychologischen Diagnosen … sind ein Versuch, erlittene Leseerfahrungen auch für nicht professionelle Literaturliebhaber verstehbar zu machen und … einen Fundus von >>begreifender Rezeption<< (zu) vermitteln, der auch für künftiges Lesen verstörender Texte Mut macht“ (Tilmann Moser). In seiner Lektüre von Elfriede Jelineks Roman ‚Die Klavierspielerin‘ grenzt sich Moser unter anderem von Annegret Mahler-Bungers Interpretation des Romans in der Perspektive Freud’scher Masochismus- und Sadismuskonzepte ab und will ihn auch nicht als sich selbst erklärend verstehen. Vielmehr schlägt er vor, den Wunsch der Romanheldin Professor Erika Kohut nach Selbstauslöschung als Folge eines fast totalen Selbstverlusts zu verstehen. „Erikas Selbstverlust beginnt mit der Zeugung, der aber noch eine Instrumentalisierung des vorausgehenden Kinderwunsches zugrunde liegt: Die Mutter beschließt, ein Kind zu wollen, weil sie an einer inneren Leere leidet und sich von einer Schwangerschaft die Steigerung ihres Selbstwerts erhofft. Sobald sie schwanger ist, wird der Fötus narzisstisch besetzt… Der gesellschaftliche Ehrgeiz der Mutter erzwingt das Verschwinden des Vaters. Damit scheidet auch der >>rettende Dritte<<… aus Erikas Seelenleben praktisch aus“ (Tilmann Moser). ‚Die Klavierspielerin‘ wird in Mosers Lektüre zu einem Racheroman: „Die Hypothese: Eine solche gewaltsame Verkennung und Verbiegung eines Selbst, das sich nach eigenen Gesetzen und mithilfe liebevoller Anregung und Förderung entfalten will, erzeuge einen primären Hass, der lange verdrängt werden muss, weil die Bindung an die Mutter überlebensnotwendig ist. Darüber hinaus erzeugt sie das, was Léon Wormser als >>Urscham<< bezeichnet hat: eine Selbstablehnung, die den potenziell vernichtenden ersten Blick zum seelischen Innenausbau der Person verwenden muss. Ein solches Kind wird liebessüchtig, klammert sich an den Eroberer seines Selbst und wirft sich Fremden selbstverachtend an den Hals, wenn es nicht zum Selbstschutz einen Stolz entwickelt, der die Liebesbedürftigkeit aus eben dieser Scham selbstzerstörerisch verbirgt. Sein Urrätsel ist später nicht der Geschlechterunterschied – der wird das Unheil im Untergrund der Seele mit Sicherheit überlagern – sondern das Rätsel der Zeugung, die Geheimnisse im Inneren der Mutter, nicht an der sichtbaren Oberfläche ihres Schoßes. Dort bildet sich die Macht der Aneignung, der aufgezwungenen Entfremdung, aber auch die Macht der Entwertung des Vaters…, der nicht zum zweiten Leuchtgestirn des jungen Lebens werden darf“ (Tilmann Moser). Im Ergebnis wird Elfriede Jelineks Roman für Tilmann Moser zu einem Hohen Lied von Rache, Ekel und Verachtung. Charlotte Roches Bestseller ‚Feuchtgebiete‘ und ‚Schoßgebete‘ zeichnen nach Moser schwere Borderline-Störungen der Helden nach. Wer Mosers Jelinek-, Roche-, Uhlman-, Genazino-, Beckett-, und Roth-Lektüre aufmerksam nachvollzieht, lernt sich selber besser kennen. Damit hat Tilmann Moser sein Ziel erreicht: Er will mit seiner diagnostischen Lektüre „nicht unbedingt überzeugen und vorversteckte Ostereier wiederfinden, sondern anregen, diese Form der von ihm genutzten >>Gegenübertragung<< auf einen Text auch im Leser anzureichern. Er möchte ihn verführen, genauer auf den eigenen emotionalen Widerhall zu achten, den die Lektüre auslöst, also die eigene begleitende Introspektion weiterzuentwickeln und auf diese Weise sich selbst besser kennenzulernen“ (Tilmann Moser). ham, 05.11.2013 Download
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