Ludwig Verlag Kiel, 2017, ISBN 978-3-86935-324-1, 132 Seiten, 11 Abbildungen, Broschur, Format 21 x
14,8 cm, € 14,90
Sigmund Freud hat in seiner Schrift Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse vor gut 100 Jahren daran erinnert,
dass sich jede wissenschaftliche Neuerung und auch die von ihm entwickelte Psychoanalyse gegen das
etablierte Denken durchsetzen muss, bevor sie allgemein anerkannt wird. Den größten Anteil am Widerstand
gegen Neuerungen sei aber den Kränkungen des naiven Narzissmus zuzurechnen. So habe Kopernikus die
narzisstische Illusion zerstört, dass sich der Wohnsitz des Menschen, die Erde, im Mittelpunkt des Weltalls
befinde. Dies sei die erste, „die kosmologische Kränkung“ der menschlichen Eigenliebe. Charles Darwin
habe mit seiner These, dass der Mensch selbst aus der Reihe der Tiere hervorgegangen sei, der Vorstellung
ein Ende bereitet, dass der Mensch über den Tieren stehe. Dies sei die zweite, „die biologische Kränkung des
menschlichen Narzissmus“. Am empfindlichsten treffe aber wohl „die dritte Kränkung, die psychischer
Natur ist“, weil sie zur Einsicht zwinge, dass das Ich nicht einmal „Herr […] in seinem eigenen Haus“ ist.
Sie stelle die „Kränkung der Eigenliebe dar […]. Kein Wunder daher, daß das Ich der Psychoanalyse nicht
seine Gunst zuwendet und ihr hartnäckig den Glauben verweigert“ (Sigmund Freud in: Imago. Zeitschrift für
Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V 〔1917〕, S. 1–7).
Wenn der seit 2000 als Professor für allgemeine Zoologie in Kiel lehrende deutsche Zell- und
Entwicklungsbiologe und Zoologe Thomas Carl Georg Bosch den Menschen in seinem für ein breites
Publikum geschriebenen Großessay Der Mensch als Holobiont als multiorganismische Lebensgemeinschaft
von 30 Billionen Körperzellen und 39 Billionen Mikroben, als Ökosystem und als Metaorganismus
beschreibt und die Idee der menschlichen Individualität infrage stellt, muss er wie einst Sigmund Freud mit
erheblichem Widerstand rechnen.
Ausgangspunkt der These ist Boschs Suche nach der Herkunft des Immunsystems, dem er noch bis 2005 die
Abwehr von Krankheitserregern zugeschrieben hat. Mithilfe der sogenannten Sequenzierungstechnologie
entdeckten er und seine Forschungsgruppe 2005 in dem vermeintlich gut bekannten Modellorganismus
Hydra neben Tausenden von eigenen Zellen völlig überraschend eine mindestens ebenso große Zahl an völlig
harmlosen Mikroben. Demnach ist jeder Organismus, einschließlich der des Menschen „multi-organismisch.
Das war nicht nur eine Überraschung, sondern warf sofort die Vermutung auf, dass das Immunsystem
zuallererst dazu dient, die vielfältigen Lebensgemeinschaften und zwischenartlichen Interaktionen in diesen
›Meta-Organismen‹ aufrecht zu halten […]. Heute wissen wir, dass sich alle vielzelligen Organismen von
einfach gebauten Vielzellern bis zum Menschen aus einer Vielzahl von mikrobiellen und eukaryotischen
Arten 〔das heißt von Lebewesen, die über einen Zellkern verfügen〕zusammensetzen, die sich während der
Stammesgeschichte sehr wahrscheinlich auch zusammen entwickelt haben“ (Thomas C. G. Bosch S. 8).
Wenn die Kommunikation zwischen dem Wirtsorganismus und den Bakterien gestört wird, nehmen
komplexe, meist chronische entzündliche Erkrankungen zu. „Auch Gesundheit und Krankheit müssen daher
multi-organismisch betrachtet werden“ (Thomas C. G. Bosch a. a. O.).
Alle unsere Körperoberflächen, so unter anderem unsere Haut, unsere Mundhöhle und unser Darm, sind von
Bakterien besiedelt. Zwischen der Haut, der Mundhöhle, dem Darm und auch dem Gehirn gibt es eine enge
zelluläre und molekulare Verbindung zu den besiedelnden Mikroben. Die allermeisten uns besiedelnden
Mikroben sind keine Krankheitserreger; wir brauchen sie für unsere Entwicklung und auch zum Schutz vor
mögliche infektiösen Erregern. Organismen sind immer multi-organismisch und es gibt „im engeren Sinn
keine Individuen […], die für sich alleine bestehen können“ (Thomas C. G. Bosch S. 12). Wir können nur als
Ökosystem in einer evolutionären Partnerschaft existieren und müssen uns daher „besser als Metaorganismus
oder Holobiont betrachten“ (Thomas C. G. Bosch a. a. O.). Die biologische Tatsache, dass Pflanzen, Tiere
und Menschen in einer Welt von Mikroben leben und jedes Individuum diese Mikroben braucht, um
fortzubestehen, sich zu reproduzieren und weiterzuentwickeln, findet nach Bosch immer mehr Anerkennung
„und hat zu vier wichtigen Erkenntnissen geführt:
• Erstens: Es wird immer deutlicher, dass wir, um die Physiologie, Evolution und Entwicklung einer
bestimmten Art zu verstehen, diese nicht isoliert betrachten können.
• Zweitens: Die Gesundheit von Tieren, Menschen und Pflanzen entsteht aus einem komplexen
Zusammenspiel multipler Organismen. Jede Störung innerhalb der komplexen Gemeinschaft hat drastische
Konsequenzen für das Wohlbefinden der Mitglieder.
• Drittens: Der Metaorganismus kann eine wichtige Einheit der evolutionären Selektion sein, eine Selektion
von ›Teams‹ aus vielen Genomen und Arten.
• Und viertens: Diese Betrachtung verortet den Menschen in einem Beziehungsnetz aus vielen dynamischen,
lebendigen, sich entfaltenden und kreativen Organismen“ (Thomas C. G. Bosch S. 48).
Zellen sind gleichwohl keine, wie es der Nobelpreisträger Sydney Brenner 2012 vorgeschlagen hat, Turing-
Maschinen, die festgelegten Programmen folgen. Die Zellen und ihr Verhalten werden „nicht nur maßgeblich
von der jeweiligen Umwelt beeinflusst – und damit von Faktoren, die außerhalb des eigentlichen
Programmes stehen –, sondern Zellen verlagern auch manche überlebensnotwendige Funktionen […] in
Komponenten der sie umgebenden Umwelt“ (Thomas C. G. Bosch S. 20). Bestimmte Aufgaben des
Immunsystems werden von Mikroben erfüllt, die in unserem Körper leben und manche Nervenzellen werden
nicht über Neurotransmitter, sondern über Produkte aktiviert, die von Mikroben stammen. „Lebende Systeme
sind daher nur zu verstehen als ein interagierendes Netzwerk von multiplen Komponenten, die alle für sich in
der Lage sind, Signale aus der zellulären Nachbarschaft nicht nur wahrzunehmen, sondern auch im
Zusammenhang zu interpretieren und für das erfolgreiche Überleben und die eigene Fitness
einzusetzen“ (Thomas C. G. Bosch S. 21). Die im menschlichen Darm lebenden mehr als 100 Billionen
Mikroben stellen ein eigenes Organ dar, das mit etwa zwei Kilogramm so schwer ist wie unser Gehirn und
über die Darm-Mikrobiom-Hirn-Achse vielleicht sogar einige Aspekte unseres Verhaltens steuert.
Der Magen-Darmtrakt ist von dem »Bauchhirn«, einem Nervennetz von mehr als 100 Millionen Neuronen
durchzogen, das verschiedene Funktionen des Darms wie die Sekretion, die Durchblutung und die
Darmmotilität überwacht ; es arbeitet weitgehend autonom. Das zentrale Nervensystem übt nur
modulierenden Einfluss auf die Darmfunktionen aus. Lange Zeit wurde angenommen, dass das Hirn den
Bauch regiert. „Heute weiß man aber, dass der Informationsfluss im Prinzip bidirektional ist“ und 10 % der
Informationen vom Gehirn zum Bauch und 90 % vom Bauch zum Gehirn geleitet werden. Vergleichsweise
neu ist die Vorstellung, dass dabei auch die Gesamtheit der Mikroorganismen, die Mikrobiota des Darms
„gehörig mitredet […]. Erst als in den vergangenen Jahren Veränderungen in der Mikrobiota auch immer
häufiger bei neurologischen und psychischen Erkrankungen wie Depression, Angststörungen und Autismus
beobachtet wurden, begannen Wissenschaftler, sich mit der Möglichkeit auseinanderzusetzen, dass die
Mikroben im Darm auch mit dem Nervensystem interagieren könnten. Zwar haben die Darmbakterien
keinen direkten Kontakt zu den Neuronen des Darms, jedoch können ihre Stoffwechselprodukte mit dem
Darmepithelzellen und somit über das Blut-, Nerven- und Immunsystem vermutlich mit dem gesamten
Organismus kommunizieren. Manche Redensarten wie das ›ungute Baugefühl‹ und ›Liebe geht bekanntlich
durch den Magen‹ kommen daher nicht von ungefähr: Unsere Darmbakterien scheinen unser Verhalten zu
beeinflussen“ (Thomas C. G. Bosch S. 92 f.).
Weitere Kapitel befassen sich mit der Frage, dass und wie der Wirt bestimmt, mit welchen Mikroben er
langfristig zusammenlebt, mit der Rolle der antimikrobiellen Peptide in der Interaktion zwischen Wirt und
Bakterien und der Einsicht, dass zu viel Hygiene Kindern schadet und Kinder, die öfter mit Dreck in
Berührung kommen und mit Haustieren aufwachsen, seltener Allergien und Asthma haben als
vergleichsweise keimfrei aufwachsende Kinder. In seinem Schlusskapitel unterstreicht Bosch noch einmal,
dass die Entdeckung des Mikrobioms, also der Gesamtheit aller den Menschen besiedelnden
Mikroorganismen, unsere bisherige Vorstellung von menschlicher Individualität infrage stellt. Wenn es
stimmt, dass „›Mikroben uns zu dem machen, was wir sind‹〔Rob Knight, 2016〕, berühren diese
Einsichten ganz selbstverständlich auch unsere Vorstellung vom Individuum. Vielleicht müssen wir daher
sogar den von der natürlichen Intuition vorgegebenen Begriff des biologischen Individuums grundlegend neu
interpretieren, um ihm auch unter evolutionsbiologischen Vorzeichen einen neuen Sinn
abzugewinnen“ (Thomas C. G. Bosch S. 115).
ham, 20. Juni 2018
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