Georgiana. Neue theologische Perspektiven Band 2, herausgegeben im Auftrag der Ev. Bruderschaft St.
Georgs-Orden (St.GO)
Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2017, ISBN 978-3-374-05003-1, 280 Seiten, Broschur,
Format 19 x 12 cm, € 24,00
Lebenslust unterstellt man dem Christentum zu Anfang des 21. Jahrhunderts eher selten, Todesfurcht aber
auch nicht. Man weiß zwar, dass keiner dem Tod entkommt. Aber man feiert die Auferstehung Christi, hat
das Paulus-Wort „Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?
Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unseren Herrn Jesus Christus“ (1. Korinther 15, 55 und 57)
im Ohr und erinnert sich vielleicht auch noch daran, dass die ersten Christen Verfolgung nicht gescheut
haben und mit erstaunlicher Gelassenheit als Märtyrer in den Tod gegangen sind. Thomas A. Seidel und
Ulrich Schacht fragen deshalb, ob hier „ein wesentliches, ›siegreiches Alleinstellungsmerkmal‹“ des
Christentums „sowohl gegenüber dem kraftlosen Stoizismus eines dekadenten römischen Bürgertums als
auch gegenüber den weit verbreiteten, rauschhaften Kulten des Mithras, Dionysos oder der Demeter“ liegen
könnte. Sie legen nahe, dass „Todesfurcht und Lebenslust […] in frühchristlicher Praxis nicht trotzig
gegeneinander“ stehen, „sondern […] in ritueller, alltagspraktischer Verbundenheit“ (Thomas A. Seidel,
Ulrich Schacht S. 5 f.). Dieser Zauber des Anfangs habe aber in der Geschichte des Christentums zu
unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich starke Kräfte entfaltet und in unseren Tagen sei das, was der
Tübinger Theologe Eberhard Jüngel die Entmächtigung, die geistliche Verspottung des Todes nennt,
weitgehend aus der Übung gekommen.
Wer sich damit nicht abfinden will, wird an den Zauber des Anfangs erinnern und fragen, ob er auch heute
noch lebbar ist. Das 10. Erfurter Gespräch zur geistigen Situation der heutigen Zeit stellt sich genau diese
Frage. Der zweite Band in der Reihe Georgiana dokumentiert das gemeinsame Nachdenken. Er erinnert an
den Einspruch gegen den Tod und inszeniert ihn so, dass man Lust bekommt, wider den Stachel des Todes zu
löcken und sein Leben zu genießen.
Unter den in den zehn in Kapiteln wie „Theologische Zeitansage“, ,, Lutherische Seelsorge und die Kunst
des Sterbens“ und „Literarische Fundstücke“ aufgelisteten Beiträgen und den 42 Gedichten ragt Hanna-
Barbara Gerl-Falkovitzs Nahsicht auf die religiösen und kulturellen Überlieferungen der Hoffnung auf ein
Weiterleben nach dem Tod heraus: Gerl-Falkovitz setzt mit der Grundüberzeugung fast aller Religionen ein,
dass, die Toten nicht tot sind, sondern auf irgendeine Weise weiterleben. Die Ausnahme bilde die Vorstellung
vom Leben im Kreislauf der Wiedergeburten insofern, als sich dort im nächsten Leben die Verfehlungen oder
der karmische Gewinn verwirklicht und kein »Danach«. Am deutlichsten wird das bei der erwarteten
Wiedergeburt der Frauen, deren Ziel noch im Ur-Buddhismus die Mannwerdung ist und nicht ein rundum
geglücktes Frausein. Die Griechen kennen ein »dunkles Danach« in einer Schattenwelt, das jüdische Buch
der Weisheit die Resignation und den raschen, heftigen Genuss. Im alten Ägypten wird das Jenseits als
zuweilen die Witwe zuweilen »freiwillig« auf den Scheiterhaufen des Gatten steigt, und ähnlich in China, wo
noch heute „kunstvoll aus Bambus hergestellte Autos vor dem Ahnenaltar verbrannt“ werden, „damit der
Vorfahr im Jenseits über ein Auto verfügt“ (Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz S. 69). „Auch der Koran kennt die
gesteigerten Güter, die Luxusgüter im Jenseits, vor allem in der Weise der glanzvollen Wohnungen im
Himmel, aber auch der gesteigerten Sexualität: Der Märtyrer wird im Jenseits von 70 Houris erwartet, deren
Jungfräulichkeit sich immer wieder herstellt. Eine neue Koran-Übersetzung […] schreibt allerdings von
›weißen Trauben‹, worin sich die Houris bei anderer Vokalisation verwandeln. Aber auch die Schrecken der
Unterwelt sind Gemeinbesitz vieler Religionen“ (Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz S. 70).
Nach Gerl-Falkovitz überwindet der Glauben an einen guten Weltschöpfer den gnostischen Dualismus
zwischen Geist und Leib. Damit wird das „Dasein […] liebenswürdig im Sinne einer verlässlichen
Weltordnung, die mit Maß genossen werden darf. Dabei geht sie aber auf ein endgütiges Glück der Heimkehr
zu, und nicht nur auf eine grau-gefährliche Unterwelt oder die völlige Löschung“. Für „diese Zukunft gibt es
im Christentum, vorbereitet durch das Judentum, einen völligen Neuansatz: die Auferstehung des
Fleisches“ (Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz S. 71 f.). Für den Murrhardter Prälaten Friedrich Christoph
Oetinger war deshalb nicht der Tod, sondern „Leiblichkeit […] das Ende der Werke Gottes“ ((F. Chr.
Oetinger, Biblisches und Emblematisches Wörterbuch, mit einem Vorwort von D. Tschizewskij, = Neudruck
der Ausgabe o. O. 1776, Hildesheim 1969, S. 407). Für Oetingers Vision sprechen unter anderem die in den
Evangelien überlieferten Totenauferweckungen und die verklärte Leiblichkeit Jesu, die noch um seine
Wunden weiß: „Verklärte Leiblichkeit Jesu heißt nicht Retuschieren des irdisch Gebrochenen und Verletzten.
An Jesu Leib blieben die Wunden sichtbar, für immer ist er unseren Tod gestorben. Unsere kranke und böse
Wirklichkeit wird nicht übertüncht, sie wird viel mehr: erlöst. An ihm als dem Ersten (von allen) wird
sichtbar: Erlösung ist nicht Auslöschen der Identität. Erlösung ist Steigerung der Identität, Durchsicht auf das
Ganze, zu dem der Leib gehört“ (Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz S. 75 f.). Auferstehung ist dann ein nach
Hause gehen und eine Bewegung auf den eigenen Ursprung zu. „Was aber ist der Ursprung? Mit Augustinus
lautet Lebendigsein, wenn man bis auf seinen Grund geht: videntem videre – den ansehen, der mich schon
immer ansieht. ›Dein Sehen ist Lebendigmachen. Dein Sehen bedeutet Wirken‹ […]. Unerschöpflich den
ansehen, der mich ins Dasein ›ersehen‹ hat, ›entzückt‹ das eigene Dasein als gewollt und angenommen
begreifen heißt daher genauer: nicht den Ursprung entdecken, sondern den Urheber: ›Dich‹“ (Hanna-Barbara
Gerl-Falkovitz S. 81 f.).
Der in Ostberlin geborene deutsche Lyriker Uwe Kolbe argumentiert in seinem Gedicht „Der Dummheit
nachgefragt“ in derselben Logik, wenn er den Schöpfer fragt: „Wie kann einer, Herr, so dumm sein, / den du
gemacht, begabt mit dem Auge/ zu schauen, zu kennen dein Werk, / und mit dem Gedanken, dem Wort, / den
Dank auszusprechen für alles, / was du ihn finden und fassen läßt, / wie kann einer, Herr, so dumm sein, /
doch Angst zu haben vor dem Tod?“ (Uwe Kolbe S. 224).
ham, 11. März 2018