Warum die amerikanische Demokratie am Abgrund steht und was wir daraus lernen können
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt
Deutsche Verlags-Anstalt, 2024, ISBN: 978-3-421-07003-6, 352 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Format 22 x 14 cm, € 26,00 (D) / € 26.80 (A) / CHF 35,50
In ihrem Bestseller „Wie Demokratien sterben“ aus dem Jahr 2017 haben die beiden Harvard-Politologen für Regierungswissenschaft Steven Levitsky (vergleiche dazu https://www.gov.harvard.edu/directory/steven-levitsky/) und Daniel Ziblatt (vergleiche dazu https://www.wzb.eu/de/personen/daniel-ziblatt) davor gewarnt, dass Demokratien mit einem Knall sterben oder einem langen Siechtum entgegengehen können. In einigen Ländern ist das schon passiert; daraus ist zu lernen, dass die Demokratie fragil ist.
In ihrem neuen Buch „Die Tyrannei der Minderheit“ beschreiben sie, dass Demokratien weltweit unter Druck geraten, weil das Wachstum in den Industrieländern niedriger als früher ist und Demagogen aus der Angst vor Wohlstandsverlusten Kapital schlagen können. Dazu kommt, dass westliche Gesellschaften multiethnischer, diverser und damit auch stressanfälliger geworden sind. Schließlich können sich in Amerika Minderheiten mithilfe des immer noch geltenden Wahlverfahrens aus vordemokratischen Zeiten Mehrheiten verschaffen (vergleiche dazu und zum folgenden https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/die-tyrannei-der-minderheit-100.html). Als die amerikanische Verfassung 1767 in Philadelphia geschrieben worden war, haben die dort versammelten weißen Männer befürchtet, dass sie von der Mehrheit überstimmt werden könnten. Deshalb haben sie gegenmajoritäre Institutionen entwickelt, die bis heute weiterbestehen. In der Folge sind die
– „Vereinigten Staaten die einzige Präsidialdemokratie der Welt, in welcher der Präsident nicht direkt, sondern durch ein Wahlmännerkollegium gewählt wird. Nur hier kann also ein Präsident ›gegen die an den Wahlurnen ausgedrückte Mehrheit‹ gewählt werden.
– Die Vereinigten Staaten gehören zu den wenigen Demokratien, die weiterhin ein Zweikammerparlament mit einem mächtigen Oberhaus besitzen, und sie sind eine von noch weniger Demokratien mit einem mächtigen Oberhaus, dessen Sitze aufgrund ›gleicher Repräsentanz ungleicher Staaten‹ stark unverhältnismäßig verteilt sind (nur in Argentinien und Brasilien ist die Schieflage noch größer). Vor allem aber sind sie die einzige Demokratie auf der Welt, die einen stark unverhältnismäßig aufgeteilten Senat und in Form des Filibusters ein legislatives Minderheitsveto besitzt. In keiner anderen Demokratie durchkreuzen Parlamentsminderheiten routinemäßig und ständig gesetzgeberische Mehrheiten.
– Die Vereinigten Staaten gehören – neben Kanada, Indien, Jamaika und Großbritannien – zu den wenigen etablierten Mehrheitswahlsystemen, in denen eine Zahl gewonnener Wahlbezirke eine Parlamentsmehrheit ergibt, was dazu führt, dass Parteien, die landesweit weniger Stimmen haben, im Parlament die Mehrheit der Mandate einnehmen.
– Die Vereinigten Staaten sind die einzige Demokratie auf der Welt mit einer lebenslangen Amtszeit von obersten Richtern. In allen anderen Demokratien gelten Amtszeit- oder Altersgrenzen oder beide.
– Im Vergleich zu den Verfassungen anderer Demokratien ist die US-Verfassung am schwersten zu ändern, denn eine Änderung erfordert eine qualifizierte Mehrheit in zwei Parlamentskammern und die Zustimmung von drei Viertel der Bundesstaaten“ (Steven Levitsky, Daniel Ziblatt S. 247 f.).
In der Folge konnte Trump 2016 Präsident werden, obwohl er mit knapp 63 Millionen Stimmen Clinton unterlegen war, die 66 Millionen Stimmen erhalten hatte. Die Vereinigten Staaten landen deshalb 2023 im Ranking der Länder anhand der Demokratiequalität folgerichtig auf Platz 31 und damit drei Plätze vor dem als defizitär eingestuften Korea. Dänemark steht auf Platz eins, Deutschland auf Platz zwei, Norwegen auf Platz drei (vergleiche dazu https://www.demokratiematrix.de/ranking).
Die amerikanische Demokratie sollte deshalb demokratisiert und die lange überfälligen Verfassungs- und Wahlrechtsreformen in Angriff genommen und durch folgende Maßnahmen in die Wege geleitet werden (vergleiche dazu Steven Levitsky, Daniel Ziblatt S 263 ff.):
Um die Demokratie zu verteidigen, braucht es nach Levitsky und Ziblatt keine Helden. Für die Demokratie einzustehen bedeutet, für sich selbst einzustehen. Die Generation des Bürgerrechtskampfs geht in die Geschichte über. Es liegt jetzt an der heutigen Generation, eine wahrhaft multiethnische Demokratie aufzubauen und die US-Demokratie vor Leuten wie Donald Trump wirkungsvoll zu schützen.
Auch nach dem deutschen Politologen Herfried Münkler ist die Demokratie in Gefahr. Aber er argumentiert von Europa aus und findet andere Gründe (vergleiche dazu und zum Folgenden Herfried Münkler, Die Zukunft der Demokratie, 2022 und das YouTube-Video Herfried Münkler, Demokratie in Gefahr vom 07.05.2023 im DAI Heidelberg):
Nach dem Zusammenbruch des autoritären Sozialismus ist die Vorstellung aufgekommen, dass die Demokratie die alternativlose politische Ordnung sei. Diese Vorstellung hat sich nach Münkler ebenso als falsch erwiesen wie die, dass sich der Wohlstand immer weiter vermehre. Deshalb ist es für die Politik schwieriger geworden, ihrer zentralen Aufgabe, Angst in objektbezogene und damit beherrschbare Furcht zu verwandeln, nachzukommen. Die durch die Dekarbonisierung erzwungene und regierungsamtlich versprochene wirtschaftliche und mentale Wende schein nicht wirklich einzutreten. Nach wie vor stehen frei flottierende Ängste vor der gewachsenen Konkurrenz zu Amerika, China und womöglich auch zu Indien, vor einer womöglich nicht beherrschbaren Inflation und vor Wohlstandsverlusten im Raum. Damit macht sich der Eindruck breit, dass zwar viel geredet wird, aber nichts wirklich passiert. In der Folge geht das Vertrauen in den regierungsamtlich organisierten demokratischen Prozess verloren. Populistische Vorstellungen gewinnen an Rückhalt.
Aber gleichwohl gehen unsere Demokratien trotz aller Krisen und Schwächen nicht zwangsläufig ihrem Ende entgegen, wenn es gelingt, die Bürgerschaft in doppelter Weise an den in Demokratien geforderten Beratungs- und Entscheidungsprozessen zu beteiligen: Es kommt deshalb nach Münkler einmal darauf an, die Partizipation der Bürger an den demokratischen Entscheidungsprozessen zu optimieren. Und zum anderen darauf, das Beratschlagen als einen Wert an sich selber zu begreifen und sich auf den Vorgang des gemeinsamen Beraters einzulassen. Daraus entwickelt sich dann so etwas wie eine politische Urteilskraft der Bürger, auf der Demokratien nach Münkler beruhen. Erst wenn die politische Urteilskraft der Bürger nicht entwickelt wird und fehlt, ist die Demokratie in Gefahr.
ham, 7. Juni 2024