Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019, ISBN 978-3-421-04753-3, 496 Seiten, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 22 x 14 cm, € 28,00 (D) / € 28,80 (A) / CHF 38,90
Theologen erzählen Geschichten, wenn sie erklären wollen, warum der Mensch weise, unsterblich wie Gott und gut sein möchte und zugleich seinen Bruder erschlägt. Nach der auf den ersten Seiten der Bibel erzählten Urgeschichte hat Gott den Menschen aus Staub und Erde und damit als „Erdling“geschaffen. Adam will aber mehr und wie Gott sein und wissen, was gut und böse ist. Deshalb teilt er den Apfel vom Baum der Erkenntnis mit Eva. Als Gott „Adam wo bist du?“ ruft und ihn zur Rede stellt, meldet er sich aus seinem Versteck und schiebt die Schuld auf Eva. Der Mensch ist also nach der Bibel von Gott ansprechbar; aber er ist auch ein Lügner und er will mehr sein als er ist. Der Mensch ist aber auch wie Kain. Als Gott das Erstlings-Opfer seines Bruders Abel gnädig ansieht und seine Feldfrüchte verschmäht, wird er zornig und schlägt seinen Bruder Abel tot. Und er ist schließlich auch wie Abel ein potenzielles Opfer.
Philosophen setzten bei ihren Deutungen auf die menschliche Vernunft. So ist für Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) der Mensch von Natur aus gut; im Naturzustand sind alle Menschen gleich, frei, glücklich, zufrieden, solidarisch und sie begegneten einander mit Empathie. Erst das Privateigentum und die Vergesellschaftung verleiten den Menschen dazu, sich mit anderen zu vergleichen. Der Vergleich lässt ihn selbstsüchtig, unwahrhaftig, neidisch, missgünstig und letztlich auch zum Mörder werden. Für Thomas Hobbes (1588 – 1679) ist der Mensch dagegen schon im Naturzustand in erster Linie am eigenen Vorteil und an der Sicherung eigener Interessen interessiert. Er strebt nach der Erhaltung seiner Existenz und will möglichst vieler Güter besitzen. Deshalb kämpft jeder gegen jeden; im Naturzustand herrscht Krieg. Der Mensch ist des Menschen Wolf: „Homo homini lupus“ (Thomas Hobbes). Die Geschichte kennt beides: Mutter Theresa und Adolf Hitler, Stalin und Pol Pot.
Biologen sehen Gut und Böse in der biologischen Evolution vorgegeben. Für den in Harvard lehrenden Evolutionsbiologen und Affenforscher Richard Wrangham gibt es zwei klassische, ihn aber nicht restlich befriedigende Erklärungen für das Nebeneinander von Selbstlosigkeit und Selbstsucht. „Beide Erklärungen gehen davon aus, dass unser Sozialverhalten vor allem von unserer Biologie bestimmt wird. Sie sind sich außerdem einig, dass eine unserer herausragenden Eigenschaften das Produkt der genetischen Evolution ist. Der Unterschied zwischen beiden Erklärungen ist jedoch, welche der beiden Aspekte unserer Persönlichkeit sie für wesentlich halten: unsere Güte oder unsere Aggression. Die erste […] geht davon aus, dass wir Menschen von Natur aus gütig und tolerant sind […]. Die zweite […] davon, dass unsere böse Seite angeboren ist. Wir kommen als selbstsüchtige und neidische Wesen zur Welt […]. Die Philosophen Jean-Jacques Rousseau und Thomas Hobbes sind die Galionsfiguren der beiden Seiten […]. Ich glaube allerdings, dass es einen Ausweg aus dieser Debatte um das Wesen des Menschen gibt […]. Jeder Mensch trägt das Potenzial zu Gut und Böse in sich. Unsere Biologie gibt diese widersprüchlichen Aspekte unserer Persönlichkeit vor“ (Richard Wrangham S. 16 ff.). Die menschliche Natur ist eine Chimäre.
Wrangham versucht nun, das von ihm präferierte Muster in der Evolution zu verorten. Dabei kommt den von ihm erforschten Schimpansen die Hauptrolle zu. „Unter den Primaten sind Schimpansen die aktiv aggressivste Art, die am häufigsten Erwachsene tötet und die auch ein hohes Maß an reaktiver Aggression kennt […]. Und unter den Raubtieren sind Wölfe für ihre tödliche aktive Aggression gegen Artgenossen bekannt“ (Richard Wrangham S. 378). Beim Menschen wurde die reaktive Aggression unterdrückt, während die aktive Aggression hoch blieb. Der Grund liegt nach Wrangham in einem Prozess der Selbstdomestizierung der menschlichen Spezies, „der vor 200 000 Jahren bereits im Gang war und möglicherweise mit den ersten Ursprüngen des Homo sapiens vor etwas mehr als 300 000 Jahren seinen Anfang nahm. Entscheidend waren Männerbündnisse“ (Richard Wrangham a. a. O.): Betamännchen verständigten sich gegen tyrannische Alphamännchen, brachten sie um und hatten damit die Möglichkeit, mehr Nachkommen zu zeugen. „Die unvorhergesehene Folge der Beseitigung von Möchtegern-Tyrannen war die genetische Auslese gegen die Tendenz zur reaktiven Aggression. Die Beseitigung der Alphapersönlichkeit führte dazu, dass Männer erstmals egalitär zusammenlebten. Im Verlauf von 12 000 Generationen wurde das Leben zunehmend ruhiger. Unsere Art ist zwar noch immer nicht absolut friedfertig, doch sie hat vielleicht mehr Ähnlichkeit mit dem Rousseau’schen Ideal als je zuvor“ (Richard Wrangham S. 379).
Nach Wrangham hat die Fähigkeit, Hinrichtungen zu vereinbaren, „auch unsere moralischen Empfindungen entstehen lassen. In der Vergangenheit wurde es lebensgefährlich, sich nicht in die Gemeinschaft einzufügen, gegen ihre Gebote zu verstoßen und seinen guten Leumund zu verlieren […]. Wer gegen die Regeln verstieß, gefährdete die Interessen der Ältesten und lief Gefahr, als Außenseiter, Zauberer oder Hexe ausgegrenzt zu werden. Dem konnte eine Hinrichtung folgen. Daher begünstigte die Auslese die Entwicklung von emotionalen Reaktionen, die dem Einzelnen half, seine Verbundenheit mit der Gruppe zu zeigen […]. Konformismus wurde buchstäblich zur Überlebensfrage“ (Richard Wrangham S. 379f.).
Archäologische Funde von geplanten Jagden gehen auf das Mittelpleistozän zurück, das etwa vor 781.000 (± 50.000) Jahren begann und vor etwa 127.000/ 126.000 Jahren endete; es ist aber auch denkbar, dass unsere Vorfahren Tieren schon vor zwei Millionen Jahren in Hinterhalten auflauerten. Nachdem sie „gute Jäger geworden waren, konnten sie auch Fremde töten […]. Dale Peterson und ich haben die These aufgestellt, dass die Tötung von Fremden vermutlich bis zu unserer gemeinsamen Linie mit Schimpansen und Bonobos zurückgeht, also in eine Zeit, als unser zentralafrikanischer Vorfahr ein schimpansenähnlicher Jäger und Mörder gewesen sein muss […]. Unabhängig davon, wann die bündnishafte aktive Aggression gegen Fremde begann, hatten diese Tötungen vor der Entwicklung der Sprache kaum Auswirkungen innerhalb von Gruppen. Doch sobald die Menschen in der Lage waren, Gedanken auszutauschen, änderte sich alles. Nun konnten sie ihre gemeinsamen Interessen zum Ausdruck bringen und sich verbünden. Mit dem Beginn der geplanten und von der Gemeinschaft bewilligten Hinrichtungen trat an die Stelle der Tyrannei der Alphas die subtilere Tyrannei der vormaligen Betas. Aus den neuen mächtigen Männerbündnisses gingen die Ältesten hervor, die über die Gesellschaft herrschten – ein System, das sich weitgehend erhalten hat, auch wenn wir statt Hinrichtungen heute Gesetze, Drohungen und Gefängnisstrafen verwenden“ (Richard Wrangham S. 381 ff.).
Im Ergebnis geht der biologische Anthropologe Wrangham also davon aus, dass die menschliche Doppelnatur in der Biologie schimpansenähnlicher Jäger angelegt ist und die Entwicklung der Sprache zum Sowohl-als-auch der chimärenhaften Doppelnatur geführt hat. „Die allgemeinere Erkenntnis, die wir aus der menschlichen Evolution und Geschichte mitnehmen können, ist die, dass Gruppen und Einzelpersonen immer ein Interesse daran haben werden, um Macht zu kämpfen. Dazu müssen sie nicht unbedingt Kriege führen. Patriarchat, Mobbing sexuelle Belästigung, Straßenkriminalität und Machtmissbrauch durch die Reichen müssen nicht ewig Bestand haben. Gleichberechtigte und gewaltfreie gesellschaftliche Ordnungen sind möglich und können in Zukunft noch weit über das hinausgehen, was wir schon heute in Island und anderen relativ egalitären und friedlichen Ländern sehen. Die evolutionäre Analyse zeigt jedoch, dass der Aufbau gerechter und friedlicher Gesellschaften nicht einfacher wird […]. Jede Gesellschaft muss eigene Wege finden. Wenn wir Gewalt verhindern wollen, dürfen wir nicht vergessen, wie leicht es ist, eine komplexe gesellschaftliche Organisation zu zerstörten, und wie schwer es ist, sie wieder aufzubauen […]. Das große Ziel der Menschheit sollte nicht die Kooperation sein. Dieses Ziel ist relativ einfach zu erreichen und in der Selbstdomestizierung und im moralischen Empfinden angelegt. Die größere Herausforderung besteht darin, unsere Fähigkeit zu organisierter Gewalt einzudämmen“ (Richard Wrangham S. 386 ff.).
ham, 30. März 2020