Aus dem Englischen von Richard Barth
Deutsche Verlags-Anstalt München, 2018, ISBN 978-3-421-04733-5, 1023 Seiten, 32 zumeist farbige Abbildungen, 20 Karten, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, Format 23 x 16 cm, € 48,00 (D) / € 49,40 (A) / CHF 65,00
Für den 1947 in Woodford Green, Essex geborenen, zwischen 1998 und 2014 in Cambridge Modern History lehrenden und für seine Werke zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts unter anderem mit dem Wolfson Literary Award für History ausgezeichneten britischen Historiker Sir Richard John Evans ist es die erste Pflicht eines Historikers, die Vergangenheit zu rekonstruieren, die Stimme der Toten und darunter auch die der sonst vergessenen einfachen Leute zum Hören zu bringen. „Meine Familie kommt ja selbst aus diesen Verhältnissen. Ich stamme aus einer walisischen Familie, mein Großvater war im Bergbau tätig. Er ist früh gestorben, er hat sich an einer Mistgabel verletzt und ist an einer Blutvergiftung gestorben. Seine Frau, danach Witwe, dann mein Onkel und meine Tante haben als Kleinbauern vier Kühe, ein Schwein und etliche Hühner gehalten, und ich habe als Kind mit meinen Eltern oft den alten Bauernhof besucht, bis das alles zugrunde ging“ (Richard J. Evans im Gespräch mit Peer Teuwsen. In: NZZ vom 6.11.2018, vergleiche dazu https://www.nzz.ch/richard-j-evans-man-hat-die-pflicht-den-toten-zuzuhoeren-ld.1423248). Deshalb setzt seine glänzend geschriebene, hochinformative und durch zahlreiche Anekdoten aufgelockerte transnationale Geschichte des europäischen Jahrhunderts mit den Ende der 1820er oder Anfang der 1830er Jahre im württembergischen Ellwangen aufgeschriebenen Lebenserinnerungen des Steinmetzen Jakob Walter (1788 – 1896) ein, der unter Napoleon als gemeiner Fußsoldat in der Grande Armée bis nach Moskau und zurück marschiert war, auf dem Rückzug unermessliches Leid, Hunger, Überfälle gesehen und selbst erlitten hat und mehrmals nur knapp dem Tod entgangen ist.
Sein gesamtes Tagebuch ist von Kriegsmüdigkeit geprägt: „Nach nahezu einem Vierteljahrhundert mehr oder weniger ununterbrochenem Krieg waren die Menschen vor Leid und Verzweiflung wie betäubt. Wenn Jakob Walter irgend etwas wirklich am Herzen lag und ihm Kraft gab, dann sein tiefer katholischer Glaube. Dieser hielt ihn allerdings nicht davon ab, in allen Einzelheiten die zunehmend entmenschlichende Wirkung zu schildern, die der Konflikt auf die Beteiligten entfaltete. Nach der Rückkehr in seine Heimat führte Jakob Walter wieder sein unscheinbares Leben als Steinmetz. 1817 heiratete er und hatte mit seiner Frau zehn Kinder. Fünf von ihnen waren noch am Leben, als Walter, mittlerweile ein vergleichsweise gutsituierter Bauunternehmer und -aufseher, 1856 einen Brief mit Neuigkeiten aus der Familie an seinen Sohn schrieb, der nach Amerika ausgewandert war und in Kansas lebte“ (Richard J. Evans S. 26 f.).
Für Evans geht das lange europäische Jahrhundert mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu Ende. Als der Habsburger Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este und seine Frau Sophie Gräfin Chotek am 28. Juni 1914 in Sarajevo ermordet werden und die Regierung in Wien unter anderem deshalb reagieren muss, weil sie weiteren Gewalttaten vorbeugen will und um ihren Großmachtstatus fürchtet, scheitert der Versuch, den Konflikt diplomatisch einzuhegen. Eine Schlüsselrolle kommt den militärischen Planungen zu. Als Deutschland am 1. August Russland offiziell den Krieg erklärt, den Schlieffenplan in Kraft setzt und Belgien auffordert, den deutschen Truppen keinen Widerstand zu leisten, erklärt Großbritannien Deutschland offiziell den Krieg. „Was an der unübersichtlichen Kette von Ereignissen, die zum Ausbruch des Krieges führten, ins Auge fällt, ist, dass von den Beteiligten […] kaum jemand mit dem Gedanken an einen Kompromiss spielte. Die zwei Staaten, die anfänglich am meisten zögerten, waren ironischerweise Österreich-Ungarn, dessen Führung Deutschland um Rückendeckung bat, und Serbien, dessen Regierung eine ähnliche Bitte an Russland richtete. Der entscheidende Moment in der gesamten Krise war vermutlich, als Deutschland Österreich einen ›Blankoscheck‹ ausstellte, mit Serbien so zu verfahren, wie sie es für richtig hielten […]. Die Staatsmänner, die diese verhängnisvollen Entscheidungen trafen, ritten dabei nicht auf einer Welle der Kriegsbegeisterung. In manchen Gegenden Großbritanniens gingen die Antikriegsdemonstrationen […] bis in die zweite Augustwoche weiter. Und die von den deutschen Sozialdemokraten in den letzten Julitagen organisierten Massenproteste sprachen eine ebenso deutliche Sprache.“ (Richard J. Evans S. 960).
Die Kriegsbegeisterung war von der Mittelschicht und der jungen Generation der europäischen Bourgeoisie getragen. „Von der um ein Vielfaches größeren Zahl an einfachen Soldaten, die ihnen später folgten, kämpften die meisten, weil sie glaubten, ihr Land werde angegriffen, ihr Weltreich sei in Gefahr, ihrer Lebensweise drohe die Vernichtung durch einen skrupellosen Feind. Nicht wenige zogen nur widerwillig in den Kampf, oder weil sie keine Alternative dazu sahen.
In Hamburger Kneipen lauschten als Arbeiter getarnte Polizisten in den letzten Friedenstagen den Diskussionen der sozialdemokratischen Basis. ›Was geht uns das an‹, fragte ein Arbeiter am 29. Juli 1914, ›wenn der österreichische Thronfolger ermordet ist? Dafür sollen wir unser Leben lassen? Wir kommen nie dazu!‹ – ›Gewiss bin ich verheiratet und habe auch Kinder‹, sagte ein anderer, ›aber wenn mein Vaterland in Gefahr ist, dann laß den Staat doch meine Familie ernähren. Ich sag dir, es ist mir ganz egal, ob ich bei der Arbeit sterbe oder fürs Vaterland, und du gehst ebenso mit als ich, das sag ich dir.‹ Wieder ein anderer klagte: Die ›Hurrapatrioten [haben …] den großen Schnabel auf und hausen in den Straßen nach Herzenslust, ohne dass die Polizei sich darum kümmert, ob der Verkehr dadurch gestört wird oder nicht. Wir werden gewarnt vor Umzügen, und die können machen, was sie wollen, bloß weil sie für den Krieg sind und die >Wacht am Rhein< singen‹. Für die Mehrheit in Europa […] blieb der Krieg ein weit entferntes und kaum fassbares Ereignis. Überall sorgten sich die Bauern, was aus ihrer Ernte werden sollte. In einem Dorf in Südostfrankreich löste die von der Sturmglocke überbrachte Nachricht über den Krieg ›Sorge und Bestürzung‹ aus, und alle – Männer, Frauen und Kinder – weinten und klammerten sich aneinander. Aus einer kosakischen Siedlung in Russland berichtete ein reisender Engländer über ähnlich verwirrte Reaktionen: Die auf ihre militärische Tradition stolzen Männer waren kampfeslustig, doch leider war in der Bekanntmachung über den Ausbruch des Krieges nicht erwähnt worden, gegen wen er geführt werde; einige glaubten, der Feind sei China, andere England. Niemand dachte an Deutschland“ (Richard J. Evans S. 962).
Zwischen dem ersten und dem letzten Kapitel werden unter anderem die Rolle Metternichs (1777 – 1859) im Wiener Kongress, die Abschaffung der Leibeigenschaft und die Bauernbefreiung, die Umwälzung der europäischen Politik in der Folge von 1848, die Gründung Italiens und Deutschlands, der Beginn der Demokratisierung und die Einführung der Sozialsysteme unter Bismarck lebendig. „In wenig mehr als zwei Jahrzehnten, zwischen 1848 und 1871 […] waren sowohl Italien als auch Deutschland nun geeint – wenn auch nicht als demokratische Republiken, sondern als konservative Monarchien […]. Das Wiener System war tot, Metternichs inflexibler Konservatismus vom Tisch, eine neue politische Ordnung geboren. Sie sollte, wenn auch mit spürbaren Verschiebungen und Veränderungen, fast bis 1914 Bestand haben. Nach einer kurzen Phase rapider Grenzverschiebungen und der Bildung neuer geopolitischer Einheiten bleiben die wichtigsten europäischen Staaten – Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Österreich-Ungarn, Russland, das Osmanische Reich – sowie viele kleinere Staaten – vom Balkan bis hin zu Skandinavien – nach 1870 über vier Jahrzehnte hinweg innerhalb mehr oder weniger stabiler Grenzen“ (Richard J. Evans S. 371 f.). Ab 1848 war der Nationalismus eine wichtige treibende politische Kraft. Dazu kam die Abschaffung der Sklaverei in einer Reihe europäischer Kolonien, der Beginn der Emanzipation der Frauen und die Ausrufung des Kommunistischen Manifests.
Weitere Kapitel sind dem Niedergang des Adels, dem Aufstieg des Bürgertums, neuen wissenschaftlichen Entdeckungen, technischen Erfindungen und der zweiten industriellen Revolution gewidmet. „Parallel zu den politischen Umwälzungen […] zwischen 1848 und 1871 […] hatte sich […] das Verhältnis der Gesellschaftsschichten zueinander gewandelt. Der traditionelle Landadel war geschwächt worden von den Kräften des wirtschaftlichen Wandels, von den politischen Reformen wie der Abschaffung der Leibeigenschaft, von der Errichtung gewählter Parlamente, so beschränkt ihre Befugnisse auch waren, vom Verlust der Standesprivilegien […] sowie vom zunehmenden Reichtum und Ehrgeiz der wirtschaftlichen Elite, der Banker und der akademischen Berufsstände. Eine neue, hybride gesellschaftliche Elite war entstanden, und zwar auf der Grundlage der bürgerlichen Werte Sparsamkeit, Fleiß, Mäßigung und Verantwortungsbewusstsein. Diese Werte hatten mittlerweile in weiten Teilen Europas eine dominierende Stellung in Politik und Gesellschaft erlangt. Ihren Ausdruck fanden sie in der Stadterneuerung, Verbesserungen der Hygiene und der Landwirtschaft, Strafrechtsreformen sowie dem […] Versuch, in der kriminellen und halbkriminellen Unterwelt für Recht und Ordnung zu sorgen. Auch das Kleinbürgertum und die ehrbare Arbeiterklasse, sosehr sich ihre politische Haltung von jener von Ärzten, Anwälten, Lehrern und Geschäftsleuten unterschieden haben mag, wurden […] von diesen Werten beeinflusst“ (Richard J. Evans S. 487).
Die jetzt möglich gewordene Beherrschung der Elemente, die Zähmung der Natur und die Eroberung ganzer Länder war mit der Ausrottung ganzer Völker, Tierarten und Wälder verbunden, die wissenschaftlichen Einsichten mit neuen Herausforderungen an Glaube und Religion und die Pflege des Gefühls mit einem Rückzug des Musiklebens ins Private und den Salon. „Eines der besten Beispiele dafür ist die Musik von Franz Schubert (1797 – 1828): Einen erheblichen Teil seiner Werke schrieb Schubert für musikalische Abende oder Wochenenden, die auf die Familie oder den Freundeskreis beschränkt waren […]. Mit ›Die schöne Müllerin‹ (1823), ›Winterreise‹ (1828) und ›Schwanengesang‹ (1828), Werken, die am besten im kleinen Rahmen zur Geltung kommen, wurde er zum Wegbereiter der intimen Welt des erzählenden Liedzyklus“ (Richard J. Evans S. 610). Caspar David Friedrichs (1774 – 1840) ›Wanderer über dem Nebelmeer‹ (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Wanderer_über_dem_Nebelmeer#/media/Datei:Caspar_David_Friedrich_-_Wanderer_above_the_sea_of_fog.jpg) wird zur typisch romantischen Gestalt, die den Gipfel bereits erklommen hat und in eine ungewisse Zukunft schaut. „Die vielleicht idealtypischste Verkörperung des romantischen Helden als emotionales Wesen war Heathcliff, die Hauptfigur in Emily Brontës (1818 –1848) Roman ›Sturmhöhe‹“ (Richard J. Evans S. 613; vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Sturmhöhe). Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs versucht der Dichter Filippo Tommaso Marinetti (1876 – 1944), den Lärm, die Geschwindigkeit und weitere Aspekte der Zukunft in seinem futuristischen Manifest einzufangen. „›Wir wollen den Krieg verherrlichen‹, schrieb er, ›diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibs‹“ (F. T. Marinetti nach Richard J. Evans S. 721).
Dass mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs das Jahrhundert der europäischen Hegemonie über den Rest der Welt zu Ende gehen würde, hat er nicht gesehen. Mehr als vier Jahre Krieg „zerstörten das unglaubliche Selbstvertrauen, das [Europa] über weite Strecken des Jahrhunderts ausgezeichnet hatte, und beschleunigten und verstärkten die Anfechtungen der europäischen Vorherrschaft in anderen Weltteilen […]. Die Vereinigten Staaten von Amerika betraten die Weltbühne und veränderten das Kräfteverhältnis in zwei Weltkriegen entscheidend zugunsten der Alliierten. Bis 1945 hatten die USA sich zur Supermacht gemausert, die amerikanische Kultur eroberte die Welt im Sturm. Etwas mehr als vier Jahre nach Kriegsausbruch gehörten die einst stolzen Kaiserreiche Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn der Vergangenheit an, und etwas später, 1922, ereilte das Osmanische Reich dasselbe Schicksal. Der russische Zar wurde mitsamt seiner ganzen Familie von Revolutionären ermordet, die Kaiser von Deutschland und Österreich-Ungarn mussten ins Exil in die Niederlande beziehungsweise auf Madeira gehen – und mit ihnen ganze Scharen deutscher Duodezfürsten […]. Der letzte osmanische Sultan, Mehmed VI. (1861 – 1926) verbrachte seinen Lebensabend an der italienische Riviera“ (Richard J. Evans S. 963).
ham, 8. Oktober 2019