Kösel-Verlag, München, 2018 ISBN 978-3-466-3466-34687-5, 352 Seiten, Hardcover gebunden mit
Schutzumschlag, Format 22 x 14,5 cm, € 22,00 (D) / € 22,70 (A) / CHF 30,90
Es überrascht, dass der 1968 geborene Psychoanalytiker und wissenschaftliche Grenzgänger zwischen
Neurologie und Psychiatrie Raphael M. Bonelli nicht nur die platonische Unterscheidung von [altgriechisch]
›soma‹, Körper, [altgriechisch] ›thymos‹, (sterbliche) Lebenskraft, Gemütsanlage eines Menschen und
[altgriechisch] ›nous‹, Denken, Intellekt, Geist neu wenden und auf Sigmund Freuds Psychoanalyse hin
weiterdenken, sondern sie auch mit dem in der christlichen Ethik oftmals bemühte Miteinander von Eros,
Philia und Agape, also dem Miteinander von körperlicher, geistiger und uneigennütziger Liebe in erfüllten
personalen Beziehungen verbinden kann.
Bei Plato war das, was den sterblichen Körper und die sterbliche Lebenskraft überdauert, noch als
unsterbliche Seele, als [altgriechisch] ›psyche‹ gedacht. Nach Bonelli entfaltet sich die Gesamtheit der
genetisch vermittelten überdauernden Eigenschaften eines Menschen dagegen als dreidimensionale
Konstitution aus Leib (Soma), Lebenskraft (Thymos) und (Noos /Nous), als der Fähigkeit, etwas geistig zu
erfassen. Thymos und Noos /Nous werden naturwissenschaftlich häufig unter dem Begriff >Psyche<
zusammengefasst. „Diese drei Dimensionen bilden ein unteilbares Ganzes und gehen fließend ineinander
über: Körperlichkeit, Emotionalität und Kognition. Alle drei stehen im Dienst des Lebensprinzips und sind
so grundsätzlich auf das Leben hingeordnet. Die Konstitution gleicht einem Eisberg: nur der allerkleinste
Teil ragt ins Bewusstsein hinaus, ein etwas größerer Teil befindet sich im Vorbewussten, aber der
überwiegende Teil ist im Unbewussten lokalisiert“ (Raphael M. Bonelli S. 39 f.).
In der psychiatrischen Diagnostik unterscheidet man gerne zwischen Thymopsyche (etwa Stimmung und
Befindlichkeit) und Noopsyche (etwa Orientierung und Denkstruktur). Beide Funktionen sind somatisch im
Gehirn, also im Körper lokalisiert. „Die dreidimensionale Konstitution ist sozusagen die Verfassung der
Lebens-, Art- und Selbsterhaltung. Übereinstimmung mit ihr wird unbewusst als stimmig wahrgenommen
[…]: der Mensch hat ein gewisses, aber durchaus fehlbares Gespür für die Wahrheit. Das ist die Intuition.
Die Konstitution hat über ihre Triebe, Instinkte und Intuitionen eine wichtige evolutionsbiologische
Funktion“ und „ist niemals asexuell – und damit das Unbewusste auch nicht. Soma beeinflusst Thymos und
Noos […]. Und umgekehrt […]. Die somatische Dimension ist […] für die Thymo- und Noosphäre
grundlegend. So wirkt natürlich auch ein männlicher oder weiblicher Körper spezifisch auf Emotion und
Kognition“ (Raphael M. Bonelli S.40 ff.).
Bei Plato galt der Körper als Kerker der Seele, bei Bonelli wird das Verdrängte zum Kerker: „Wenn das
Über-Ich dem Ich ein (Ich-)Ideal aufs Auge drückt, das nicht zur Wahrheit der Person passt, dann sickert
dieser Inhalt zwar ins Unbewusste ab, verursacht dort aber eine unauflösliche Disharmonie […]: Eine
innerliche Lüge ist unverdaulich. Der Mensch ist dadurch nicht mehr eins mit sich selbst, ist zerrissen,
ambivalent, hat zwei Seelen in der Brust. Ein unbewusstes Schmerzgefühl ist die Folge. Man fühlt sich
unwohl – ohne zu wissen, warum. Der Mensch ist nicht im Gleichgewicht, nicht im Frieden mit sich selbst:
und das, ohne zu wissen, wie ihm geschieht, ohne bewussten Zugriff auf den Konflikt! Aus dieser inneren
Zerrissenheit kommt es zu einer Verdrängung, die (!) scheinbar den inneren Frieden
wiederherstellt“ (Raphael M. Bonelli S. 43 f.).
Der Schmerz kann also – wie prinzipiell alles andere auch – abgewehrt und verdrängt werden. „Sowohl
Bewusstes als auch Vorbewusstes und natürlich Unbewusstes kann in Ungnade geraten und der damnatio
memoriae, der Tilgung der Erinnerung, verfallen. Man kann eine große Nase verdrängen, die mangelnden
Gesangskünste, die eigene Schuld oder den Mundgeruch. Das hat zur Folge, dass jeder Außenstehende den
Mangel wahrnimmt – außer man selbst. Man kann aber auch sein Talent verdrängen […]. Das hat wiederum
zur Konsequenz, dass man es nicht pflegen oder ausbauen kann, sodass das Talent verkümmert […]. Auch
die eigene Männlichkeit oder Weiblichkeit kann dieses Schicksal ereilen […]. Am häufigsten wird sicher
Unbewusstes gefesselt, geknebelt und weggesperrt, etwa die Sexualität zur Zeit Freuds. Denn besonders
bedrohlich sind dem Ich jene Inhalte, die […] von der Gesellschaft moralisch geächtet werden […]. Aber mit
dem Wegsperren hat es sich leider nicht: Verdrängtes ist nie einfach verschwunden! Erstens ist permanente
Verdrängungsarbeit nötig […]. Zweitens bricht es trotz solcher Anstrengungen irgendwann emotional,
kognitiv und durchaus somatisch wieder durch: Es kommt zu irrationalen Störgefühlen und daraus folgen
Fehlhandlungen […]. Verhaltensweisen werden dadurch unausgegoren und widersprüchlich. Der Mensch ist
nicht mehr Herr im eigenen Haus. Freud nennt diese seelischen Turbulenzen Neurosen, also folgen von
seelischen Lügen“ (Raphael M. Bonelli S. 45 f.).
Wo aber bleibt dann die Freiheit? „Voraussetzung ist, dass man möglichst wenig verdrängt: Je besser Mann
und Frau ihr Inneres kennen, um so mehr können sie den Selbst- und Arterhaltungstrieb wahrnehmen und
lenkend eingreifen. Das ist besonders dann nötig, wenn kurzfristige Triebbefriedigung (>Ich<) dem
langfristigen Gemeinschaftsgefühl (>Wir<) widerspricht: Triebe sind oft kurzsichtig. Hier kommt die
ethische Grundhaltung ins Spiel: Ist mir eine langfristige glückliche Partnerschaft oder meine kurzfristige
Befriedigung wichtiger? Die Konstitution gibt zwar die prinzipielle Richtung an, kann aber keine Prioritäten
setzen. Erst durch bewussten und begründeten Triebaufschub oder gar Triebverzicht […] entwickelt sich der
Mensch laut Freud zum beziehungsfähigen Wesen […]. Wahrgenommene Regungen, die bewusst in
gutgeheißene Bahnen gelenkt und von schädlichen Auswüchsen weggelenkt werden, stärken das Ich. Das ist
die Kultivierung des Triebes: ⟫Wo Es ist muss Ich werden⟪, sagte Freud kurz und prägnant“ (Raphael M.
Bonelli S. 50 f.).
In nicht weniger als 40 sensibel erzählten Fallgeschichten aus seiner psychotherapeutischen Praxis zeigt
Bonelli, wann und wodurch Liebe in Beziehungen sterben und wie der Eros wiederbelebt werden kann:
„Beide Geschlechter haben ihre Verletzlichkeiten […]. Solange die Geschlechterbeziehung auf gleicher
Augenhöhe stattfindet, ist die Lösung in Griffweite, weil das jeweils andere wertgeschätzt wird. Dazu
müssen beide fähig werden, über den eigenen Schatten zu springen. Das gelingt durch ein reizvolles
Zusammenspiel zwischen Eros und Agape, zwischen bedürftiger und schenkender Liebe. Selbstbewusstsein,
also das bewusste Wahrnehmen des eigenen geschlechtlichen Selbst, ist dafür Voraussetzung: Das Es muss
Ich werden.
Wenn das männliche Es Ich wird, dann kennt es seine Bedürftigkeit: Die Weiblichkeit ist ihm heilsam. Sie
lehrt Empathie, Fürsorge, Verletzlichkeit, Intimität und Liebesfähigkeit. Sie holt ihn aus der Theorie in die
Vielfältigkeit des Lebens […]. Wenn das Weibliche Es Ich wird, dann weiß es, dass die Männlichkeit auch
hilfreich sein kann. Männlichkeit sortiert die Vielzahl an oft widersprüchlichen Gefühlen durch
Systematisierungsvermögen. Männlichkeit erkennt ihre Schönheit an und gibt ihr damit Sicherheit und
Bestätigung. Sie vermittelt eine gesunde Distanz dazu, was andere denken.
Die Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau kann ein Weg zum gesunden Selbstbewusstsein und zur
Selbstverwirklichung sein: Erst an der Frau entdeckt der Mann den umfassenden Sinn seiner Männlichkeit –
und umgekehrt. Es liegt dann an beiden, diese Potenziale zu nutzen, um gemeinsam ein glückliches Leben zu
führen“ (Raphael M. Bonelli S. 324 f.).
ham, 1. Oktober 2018
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