Westend Verlag, Neu-Isenburg, 2023, ISBN 978-3-86489-407-7, 512 Seiten, Hardcover, gebunden, mit Schutzumschlag, Format 23,5 x 17,5 cm, € 36,00
Bei seinen Vorträgen im Hospitalhof Stuttgart habe ich den bis 2002 als Professor für empirische Theorie der Politik am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin lehrenden Mitbegründer des Komitees für Grundrechte und Demokratie Wolf-Dieter Narr in aller Regel als einen der letzten aufrechten Demokraten begrüßt (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Wolf-Dieter_Narr). Wenn ich heute Rainer Mausfeld und seine Publikation ›Hybris und Nemesis‹ ankündigen müsste, würde ich von seiner luziden Darstellung des ursprünglichen Sinns des Demokratie-Begriffs und ihrer anthropologischen Verortung sprechen, also davon, dass Demokratie Volksherrschaft heißt und dass kein Mensch einem anderen unterworfen sein will. Deshalb muss gesellschaftliche Macht in Demokratien radikal an die gesellschaftliche Basis gebunden sein und die Bildung parasitärer Eliten verhindert werden, die den Ertrag der arbeitenden Bevölkerung abschöpfen. Aus unseren hochgradig ausdifferenzierten kapitalistischen Gesellschaften sind nach Auffassung des bis 2016 an der Universität Kiel Allgemeine Psychologie lehrenden Wissenschaftlers zwischenzeitlich Elitenwahloligarchien mit dem Namen Demokratie geworden. Deshalb wird man in ihren Führungsschichten aufrechte Demokraten mit der Lupe suchen müssen. Schließlich würde ich noch anmerken, dass Mausfelds radikale Medien-, Eliten-, Kapitalismus- und Liberalismus-Kritik hoch- umstritten ist.
Am Beginn des langen Wegs zur zivilisatorischen Leitidee der Demokratie stehen nach Mausfeld frühe Jäger- und Sammlerkulturen, die sich zur Einbindung ihrer besten Jäger in die Gruppe einfache Instrumente wie die willkürliche Verteilung von Pfeilen geschaffen haben: Dadurch konnte der Jagderfolg dem Pfeil und nicht mehr dem Jäger zugerechnet werden, der das Tier getroffen hat. In den Städten und Stadtstaaten Mesopotamiens hat man die Eliten durch die von dem Sonnengott garantierte und vom König verkörperte sozialen Normen ›kittum‹ und ›misarum‹, Recht und Gerechtigkeit eingehegt (vergleiche dazu Stefan M. Maul, Der assyrische König – Hüter der Weltordnung, S. 67. In: https://d-nb.info/1231389842/34), im Alten Ägypten durch die unter anderem für Gerechtigkeit, Wahrheit und Recht stehende soziale Norm ›Ma’at‹ (vergleiche dazu Jan Assmann, Maat (ägyptische Mythologie) in: https://de.wikipedia.org/wiki/Maat_(ägyptische_Mythologie)) und im alten China durch das ›Mandat des Himmels‹ (vergleiche dazu https://de.alphahistory.com/chineserevolution/Mandat-des-Himmels-Konfuzianismus/). In Athen wurden unter Solon und Kleisthenes die Fundamente der Demokratie erfunden und unter den Demokraten Ephialtes und Perikles in idealer Weise umgesetzt.
Die Athenische Demokratie war eine Versammlungsdemokratie und als solche auf einen hohen Grad an Partizipation angewiesen. „Sie wurde durch ein Volk von ›Aktivbürgern‹ getragen, die Haltung der ›Passivbürgers‹ wurde verachtet. Moderne ›repräsentative Demokratien‹ beruhen hingegen … auf einem formal egalitären Wahlvolk von ›Passivbürgern‹, die lediglich ihr Recht auf Zustimmungsverweigerung ausüben können … Die in Athen praktizierte Form eines kontinuierlichen Austauschs über politische Fragen ist nur auf kleinem Raum und in kleinem Maßstab möglich. Auch war die Athenische Demokratie durch einen für moderne Maßstäbe außergewöhnlich hohen Grad eines gesellschaftlichen Konsenses über Normen und Werte gekennzeichnet. Eine zentrale Rolle spielte dabei eine Verpflichtung zur Aufrechterhaltung überlieferter Praktiken und Riten der Götterverehrung; die damit verbundenen öffentlichen Feste waren für die Herausbildung einer politischen Identität als Athener Bürger ganz zentral … Allein diese beiden … genannten Aspekte erlauben keine Übertragung des Athenischen Demokratiemodells auf moderne Gesellschaften“ (Rainer Mausfeld S. 213). Aber das Grundprinzip der Einhegung der Macht durch die „Entwicklung von institutionellen Schutzinstrumenten gegen parasitäre Eliten, deren Macht- und Besitzbedürfnisse eine Gesellschaft zu zerstören drohen“, ist universell anwendbar (Rainer Mausfeld S. 214).
Deshalb kann man das Unbehagen verstehen, das den Autor begleitet, wenn er die Aushöhlung der Volksherrschaft in kapitalistischen Demokratien nachzeichnet. Demnach blieb der bereits in der Antike in gesellschaftlichen Eliten artikulierte Hass auf die Demokratie bis heute prägend. „Da jedoch die Idee der Demokratie in der großen Mehrheit des Volkes eine besondere Faszination entfaltet, hängt sich in kapitalistischen Demokratien die tatsächliche Ablehnung der Demokratie den Mantel der Demokratie um. Damit bedeutet ›Demokratie‹ in kapitalistischen Demokratien gerade Nicht-Demokratie, nämlich die Form einer Elitenherrschaft.
Diese orwellsche Bedeutungsverschiebung muss als eine der spektakulärsten Leistungen des gezielten Angriffs auf das menschliche Bewusstsein angesehen werden. Dass sie so erfolgreich war, ist jedoch kaum überraschend: Je größer die Macht parasitärer Eliten wurde, desto größer wurde auch ihre Fähigkeit, ideologische Macht hervorzubringen, also Ideologien zu schaffen, mit denen sie ihre Macht rechtfertigen und verschleiern können. Mit der psychologischen Verfeinerung und Perfektionierung von Techniken systematischer Manipulation der öffentlichen Meinung, wie sie im späteren 19. Jahrhundert als wissenschaftliches Unterfangen aufkamen und im 20. Jahrhundert ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten, gelang es Machteliten, die Faszinationskraft des Wortes ›Demokratie‹ für ihre Belange zu nutzen. Sie stellten seine Bedeutung geradezu auf den Kopf. War bis dahin die Demokratie für Macht- und Besitzeliten ein Objekt der Verachtung und der Ablehnung, so wurde, wenn nicht schon die Demokratie selbst, so doch das Wort ›Demokratie‹ nun eines ihrer Lieblingsworte“ (Rainer Mausfeld S. 235).
Machiavelli hat den unüberbrückbaren Gegensatz von Volk und Eliten in seinen ›Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio‹ auf die zügellose Habgier und ein unstillbares Machtbedürfnis zurückgeführt, also auf die Gier des Mehrhabenwollens. Deshalb müssen bei der Organisation eines Staates nach seiner Meinung robuste Institutionen geschaffen werden, die den Freiheitsvorstellungen der Bürger Sicherheit und Stabilität garantieren und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gewährleisten. „Vergleicht man die realistische ›Machiavellische Demokratie‹ mit der auf ungeteilter Volkssouveränität und strikter vertikalen Gewaltenteilung beruhenden normativen Demokratiekonzeption der Aufklärung …, so lässt sich unter dem Aspekt emanzipatorischer Wünschbarkeit die Demokratiekonzeption der Aufklärung als eine in ihrem Ziel optimistische Konzeption von Demokratie auffassen und die Machiavellische Konzeption als eine in ihren Zielen pessimistische …, da sie eine Elitenherrschaft als unvermeidbar akzeptiert, aber zugleich institutionelle Möglichkeiten einer radikalen Kontrolle durch die gesellschaftliche Basis und eine Rechenschaftspflicht ihr gegenüber vorsieht …
Am Beispiel der Rolle von Prozeduren der Wahl lässt sich der charakteristische Unterschied zwischen Machiavellischer Konzeption von Demokratie und ›repräsentativer Demokratie‹ oder ›kapitalistischer Demokratie‹ besonders gut deutlich machen. Entgegen der Demokratierhetorik in kapitalistischen Demokratien spielen Wahlen für die eigentliche Leitidee von Demokratie nur eine sehr untergeordnete Rolle. In der Athenischen Demokratie galt für die Bestellung von Ämtern nur das Los als wirklich demokratisches Verfahren …, während Verfahren der Wahl als aristokratisch angesehen wurden. Da es bei Wahlen gerade darum geht, die nach den jeweils dominierenden Wertvorstellungen und Bewertungskriterien ›Besten‹ (›aristoi‹) auszuwählen, sind bei Wahlen, auch wenn sie formal als frei und gleich angesehen werden, die Chancen nicht für alle gleich, ein politisches Amt ausüben zu können. Wahlen sind also historisch aristokratischen Ursprungs. Allgemeine Wählbarkeit für Ämter, selbst unter den Bedingungen des denkbar breitesten Wahlrechts, wird in den meisten Fällen dazu führen, dass wohlhabende und prominente Bürger gewählt werden“ (Rainer Mausfeld S. 251 f.).
Genau dies ist in durch extreme Ungleichheit gekennzeichneten kapitalistischen Demokratien der Fall. „Ende 2020 besaßen die auf der Besitzskala oberen 1,2 Prozent der Weltbevölkerung rund 47,8 Prozent des weltweiten Vermögens. Die unteren 53 Prozent der Weltbevölkerung besaßen hingegen lediglich 1,1 Prozent. Im Jahr 2022 gab es weltweit 2.668 Menschen, weit überwiegend in kapitalistischen Demokratien, mit einem Vermögen von mindestens einer Milliarde US-Dollar. Das Vermögen dieser 0,00000335 Prozent der Weltbevölkerung war doppelt so hoch wie das der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung zusammengenommen. Krisen wirken regelmäßig als Beschleuniger der Ungleichheit. In der Corona-Krise stieg das Vermögen der zehn Reichsten der Welt stärker als in den gesamten 14 Jahren zuvor, nämlichen von 700 Milliarden Dollar auf 1,5 Billionen Dollar, also durchschnittlich um 1,3 Milliarden Dollar pro Tag“ (Rainer Mausfeld S. 357).
Im Neoliberalismus geht es der sogenannten ›liberalen Mitte‹ nach Mausfeld vor allem um den Schutz des Privateigentums und Sicherheit im privaten Genuss. „Im Verlauf des Liberalismus wurden auf der Basis seines Freiheitsbegriffs Rechtsnormen entwickelt, die nicht nur den Einzelnen als Teil der Allgemeinheit schützen, sondern dem Schutz und der Durchsetzung partikularistischer Interessen des Einzelnen dienen. Neben Schutz- und Abwehrrechte traten individuelle Anspruchs- und Herrschaftsrechte, sogenannte subjektive Rechte, zu denen vor allem das klassische Privatrecht sowie soziale Teilhaberechte und die Grund- und Menschenrechte gehören. Vertrags- und Eigentumsrechte wurden zum rechtlichen Fundament für den Kapitalismus. Kapitalismus kann nur existieren, wenn eine Person ein Recht erhalten kann, alle anderen Menschen von der Verfügungs- und Nutzungsgewalt über eine Sache auszuschließen. Mit der Form dieser Rechte ging eine folgenschwere strukturelle Entpolitisierung einher, da die Träger dieser Rechte keine politischen, sondern private Subjekte sind.
Über das Vertragsrecht lässt sich im Kapitalismus … das Verhältnis von Kapitalbesitzendem und Nichtbesitzendem als ein Verhältnis zwischen zwei Eigentümern fassen, die als freie und gleiche Rechtspersonen die Ware ›Arbeitskraft‹ kaufen bzw. verkaufen. Durch einen Arbeitsvertrag zwischen rechtlich Gleichen arbeitet, so John Locke, der als Vater des Liberalismus gilt, der Knecht auf dem Boden des Herrn und schafft, gegen Lohn, Eigentum für ihn“ (Rainer Mausfeld S. 388 f.).
Ende des 20. Jahrhunderts sieht Mausfeld die klassische Demokratie mit Sheldon S. Wolin vermehrt postdemokratischen Regierungstechniken ausgesetzt, die Elemente der liberalen Demokratie mit denen totalitärer politischer Systeme verbinden und zu einer immer stärkeren Entpolitisierung der Bevölkerung führen (vergleiche dazu Sheldon S. Wolin, Umgekehrter Totalitarismus, 2022). Eine verheerende Rolle spielt dabei neben der im 20. Jahrhundert mit Milliarden von Forschungsgeldern ausgestatteten Forschungsinstitute für Psychologie und Sozialwissenschaften die Medien, die die von der Bevölkerung wahrgenommene Wirklichkeit so herrichten, dass der politische Diskurs blockiert, der politische Raum zerstört und der Volksherrschaft die Grundlage entzogen wird.
„Für die von Wolin diagnostizierte und beklagte Einbettung der Medien in die politisch-ökonomischen Zentren der Macht und für ihre ideologische Homogenisierung finden sich auch in Deutschland Belege im Überfluss. Diese Homogenisierung zeigte sich bereits in… dem …Kampagnenjournalismus öffentlich-rechtlicher und privater Medien zur Durchsetzung neoliberaler Transformationen, wie er zwischen 1998 und 2005 im Zusammenhang mit der ›Agenda 2010‹ in der Zeit der Regierungskoalition von SPD und Bündnis 90/Die Grünen flächendeckend die öffentliche Meinung zu formen suchte. Seit 2104 hat sich mit dem US-gestützten Maidan-Putsch in der Ukraine diese mediale Homogenisierung und Radikalisierung weiter gesteigert. Wie groß sie bereits damals schon war, lässt sich auch daran ermessen, dass 2014 der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier anerkennen musste, dass es eine ›erstaunliche Homogenität in deutschen Redaktionen‹ gibt und dass ihm der ›Konformitätsdruck in den Köpfen der Journalisten‹ ziemlich hoch erscheine“ (Rainer Mausfeld S. 445).
Im Ergebnis wird nach Mausfeld die Macht entzivilisiert und diese Entzivilisierung von Macht führt so nah an den globalen zivilisierten Abgrund wie noch nie zuvor in der Geschichte. „Heute können wir nicht mehr wie bisher darauf vertrauen, nach dem nächsten Blick in den Abgrund weitere Chancen auf ein kollektives Lernen aus einer solchen Erfahrung zu haben. Die alte Strategie, die gewaltigen psychischen und gesellschaftlichen – und damit auch ökologischen Folgekosten einer kapitalistischen Gesellschaftsform späteren Generationen aufzubürden, ist an eine natürliche Grenze gekommen. Uns bleibt wohl nicht mehr viel Zeit. Entweder beginnen wir angesichts des zivilisatorischen Abgrunds, in den uns die Entzivilisierung von Macht zu führen droht, entschlossen nach Höhlenausgängen aus dem ideologischen Gewölbe zu suchen und geeignete demokratische Schutzbalken gegen entfesselte Macht zu errichten. Oder wir finden uns mit dem Status quo gegebener Machtverhältnisse ab, schweigen weiter wie bisher und überlassen es nachfolgenden Generationen, über die Gründe unseres Nicht-Handelns und … Schweigens nachzudenken. Die Entscheidung liegt bei uns“ (Rainer Mausfeld S. 474 f.).
ham, 4. März 2024