Reihe „Wissen & Leben“, herausgegeben von Wulf Bertram
Schattauer / Balance buch + Medien verlag, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-7945-3080-9, 127 Seiten, 21
Abbildungen, kartoniert, Format 18,5 x 12 cm, € 16.99 (D) / € 17.50 (A)
Der Biologe, Wissenschaftshistoriker, Philosoph und derzeitige Direktor der Universitätsbibliothek Regensburg Rafael Ball erinnert in seinem Großessay an Zeit- und Beschleunigungsvorstellungen von Augustin bis Hartmut Rosa und grenzt davon die digitale Permanenz der pausenlosen Gesellschaft ab. Erst die Dauerverfügbarkeit des Digitalen macht eine pausenlose Gesellschaft möglich; deshalb beginnt das Zeitalter der digitalen Information und Kommunikation (ZdIK) für ihn mit dem Jahr 2002. „Die digitale Permanenz ist ein Ausdruck für die Multiperspektivität der Zeiten. Denn im ZdIK existieren viele Zeiten, die potenziell unbegrenzt sind. Sie ist zugleich Sinnbild für das Internet und seine digitalen Multiperspektiven. Die Zeitvorstellung der Vorsokratiker und des Mittelalters, wonach ein ewiger Rhythmus der Wiederkehr einen kontinuierlichen Kreislauf bedeutet und in Heraklits Aussage >>Alles fließt<< zusammengefasst werden kann, ist damit wieder präsent und im >>Liquid Document<< sogar auch förmlich manifest geworden“ (Rafael Ball S. 20). Räume, Erdteile und Erdzeiten trennen nicht länger. Es entstehen Parallelwelten, Parallelzeiten und Parallelräume und sie führen zu neuen Formen der Gleichzeitigkeit. „Die digitale Permanenz schafft die Zeit im alten Sinne ab, sie ist als Maßeinheit überholt und wird vergleichzeitigt. Es gibt viele, ja unendlich viele Zeiten und Räume. Die Zeitverfügbarkeit in der Linearität ist […] an ihre Grenze gestoßen[…]. Als Alternative bleibt die Eröffnung von Paralleloptionen und beliebig vieler Paralleluniversen […]. Die Schaffung von Parallelwelten überwindet die Last der Verdichtung und lässt uns zurückkehren zum Prinzip […] der permanenten Ausdehnung. Die digitale Permanenz macht frei. Sie macht unabhängig von Raum und Zeit“ (Rafael Ball S. 114 ff.). Schon das Beispiel des Schreibens von Texten auf der konventionellen Schreibmaschine und auf dem Computer verdeutlicht den Wandel: „Während bei der Produktion von Texten in konventioneller, analoger Form jeder Buchstabe auf der Schreibmaschine bedacht sein musste, jeder Fehler das Dokument unwiderruflich zerstörte, boten digitale Speicher […] einen jederzeit abruf- und reproduzierbaren und einen beliebig oft zu variierenden Text. Dies hat schnell zu einer Veränderung der Art und Weise geführt, wie wir Texte entwarfen, verfassten, strukturierten und schließlich auch produzierten“ (Rafael Ball S. 1). An der Frage, was an Wissensbeständen heute noch in Bibliotheken erfasst und aufbewahrt werden soll, wird die Veränderung noch deutlicher. „Die Medienrealität des 21. Jahrhunderts besteht aus liquiden Dokumenten, kollaborativ entstandenen Inhalten und beliebig kombinierbaren Verlagsinhalten. Sie ist mit den klassischen Kategorien der Bibliothekslehre nicht mehr zu erfassen und zu begreifen. Wohin mit der Vorstellung fester Autoren, konkreter Bandzählungen, Auflagen, Erscheinungsjahre und Seitenpaginierungen? […] Neuere, vor allem >>flüchtige<< Medien der informellen und formalen Wissenschaftskommunikation, also etwa Online-Chats, Web-Sites und Blogs, sind […] sehr schwer bibliothekarisch zu >>fassen<<. Durch ihren dynamischen Charakter entziehen sie sich jeder Mindest-Stabilität, die ein geordnetes Erfassen und sinnvolles Aufbewahren erfordert. Kollaborative liquide digitale Dokumente sind nicht mehr greifbar.[…]. Damit ist das Ende der intellektuellen klassischen Katalogisierung und Beschlagwortung gekommen: Die Ordnung des digitalen Wissens muss und kann nun auf eine ganz andere Basis gestellt werden […]. Googles Index ist automatisch angelegt und führt aus Milliarden von Websites weltweit recht schnell und scharf auf die gesuchte Site und die gesuchten Informationen. Er ist aber eben nicht statisch […] und baut sich permanent neu auf“ (Rafael Ball S. 82 ff.). Ob die digitale Permanenz für den User zum Fluch oder zum Segen wird, liegt nach Ball in seiner eigenen Hand. ham, 2.1. 2016 Download