C.H.Beck, München 2021, ISBN 978-3-406-75633-7, 336 Seiten, 116 s/w Abbildungen, Hardcover in Leinen, gebunden mit Lesebändchen, Format 24,5 x 17,5 cm, € 29,95

Der Schweizer Kunsthistoriker Beat Wyss hat Joseph Beuys in seinem 2008 in der Zeitschrift Monopol veröffentlichen gleichnamigen Essay als „Wiedergänger aus der Zwischenkriegszeit“, Künstlerpriester in der Nachfolge des Anthroposophen Rudolf Steiner, Revolutionsrhetoriker und „ewigen Hitlerjungen“ bezeichnet (vergleiche dazu https://www.monopol-magazin.de/der-ewige-hitlerjunge) und damit eine heftige Debatte ausgelöst, die sich bis in die Artikel des Feuilletons fortsetzt, die an seinen am 12. Mai 2021 zu feiernden 100. Geburtstag erinnern (vergleiche dazu etwa Peter Richter, Der letzte Erlöser. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 72, 27. / 28. März 2021, S. 18: https://www.sueddeutsche.de/kultur/joseph-beuys-jubilaeum-kunst-1.5248017, Hanno Rauterberg, Ein deutscher Heiland. In: Die Zeit Nr. 13, 25. März 2021. S. 51: https://www.zeit.de/2021/13/joseph-beuys-kunst-aktivismus-nationalsozialismus-holocaust-werk?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.de und Arno Orzessek, Beuys war kein Systemsprenger. In: Kulturpresseschau, Deutschlandfunk Kultur https://www.deutschlandfunkkultur.de/aus-den-feuilletons-beuys-war-kein-systemsprenger.1059.de.html?dram:article_id=494686).

Der eine Generation später geborene und seit 2011 an der ETH Zürich lehrende andere Schweizer Kunsthistoriker Philip Ursprung schlägt in seiner auf 24 Tableaus aufbauenden Werkmonografie ›Joseph Beuys. Kunst Kapital Revolution‹ vor, die bisher bei Anhängern und Kritikern von Beuys als zwingend angesehene Verbindung von Biographie und Werk aufzugeben, weil sie letztlich das Klischee bediene, dass Künstler Menschen außerhalb der Normen seien: „Es ist Zeit, die Fixierung des Werks auf die Biographie zu lösen, sich von tradierten Erklärungsmustern zu befreien und die Kunst von Beuys stattdessen in den weiteren Zusammenhang mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu rücken … Ich folge nicht der Idee, dass der Krieg der Grund dafür ist, dass Beuys Künstler wurde, und dass eine persönliche Krise die Ursache für die grundlegende Veränderung seines Werks um 1960 ist. Mich interessieren nicht persönliche Krisen von Beuys als solche, sondern die Methode, mittels derer er persönliche, aber auch historische, politische, städtebauliche  und ökonomische Krisen künstlerisch produktiv machte. Und ich folge auch nicht der Idee, dass Kunst die Zeitgenossen polarisiere, weil sie diese mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg konfrontierte. Aus meiner Perspektive ist eine Auseinandersetzung mit der Bonner Republik, der europäischen Einigung und dem Kalten Krieg, also dem Konflikt zwischen dem kapitalistischen und dem sozialistischen Block brisanter als der Rückblick. Ich werde deshalb die Rückbindung an die … Biographie ersetzen durch die Koppelung an die allgemeine Geschichte der Nachkriegszeit“ (Philip Ursprung S. 20 ff.).

An die Stelle der Frage »Was bedeutet das?« tritt die Frage »Wie funktioniert das?«. „Ich frage deshalb weniger nach der spezifischen Ikonographie von Beuys’ Werk als nach dessen Funktion. Wie kam es, dass das Werk von Beuys zu seinen Lebzeiten die Öffentlichkeit polarisierte und bis heute die Interpretation in Bewegung hält? Wie prägen die historischen Ereignisse nach seinem Tod, namentlich die deutsche Wiedervereinigung, die Rezeption eines Werks, dessen Strahlkraft zur Zeit des Kalten Krieges und im Kontext der Bonner Republik am größten war? Und wie verschiebt sich die Wertung eines charismatischen Künstlerbildes angesichts der wachsenden Rolle von Künstlerkollektiven und multipler Autorschaft?“ (Philip Ursprung S. 22 f.). Beuys wagt sich mit seiner Kunst zwar weit auf das Terrain der Politik vor; aber er hat nie zu den staatstragenden Künstlern wie Henry Moore mit seiner Skulptur ›Large Two Forms‹ vor dem Bonner Kanzleramt (vergleiche dazu Two-Large-Forms), Gerhard Richter mit ›Schwarz Rot Gold [856]‹ im Reichstagsgebäude (vergleiche dazu Gerhard-Richter.com) und Hans Haacke mit der Installation ›Die Bevölkerung‹ im Lichthof des Reichstagsgebäudes gehört, „Im Gegensatz zu solchen Auftragsarbeiten, welche die politischen Strukturen naturalisieren, strebte Beuys danach, diese zu verändern. Die Namen der Künstlerkollegen, die Mitte der 1970er Jahre für die Unterstützung der SPD votierten, druckte er auf eine Postkarte mit der Überschrift ›Kitschpostkarte‹ … Die Landschaft, die ich für die 24 Tableaus durchquere, reicht deshalb über das Terrain der Kunstgeschichte hinaus“ (Philip Ursprung S. 23 f.).

Urspung geht davon aus, dass zwischen der Studentenrevolte und den frühen 1990 Jahren in Europa eine Art Machtvakuum bestand, innerhalb dessen die Kultur vorübergehend eine größere Handlungsmöglichkeit und Hebelwirkung erhielt. „In dieser Phase … sah es so aus, als ob die Karten von Politik, Gesellschaft und Ökonomie neu gemischt würden und die Kunst für einen kurzen Moment die Chance hätte, auf den Lauf der Geschichte Einfluss zu nehmen. Beuys nutzte diese Chance, mischte sich ein und scheute sich nicht vor Konfrontation“ (Philip Ursprung S. 24). Eigentlich hatte Ursprung vor, möglichst viele originale Beuys-Werke und Schauplätze aufzusuchen, weil er als Anhänger des »Reenactment« glaubt, dass Reisen auf den Spuren von Künstlern stets auch Begegnungen mit Quellen sind und zu neuen Einsichten führen. Aber die Corona-Pandemie hat die Reisen in die Abruzzen, nach Neapel, nach Gent und Schottland unmöglich gemacht und ihn in diesen Fällen zu klassischen Studien gezwungen.

Die erste Reise führte ihn zum ›Brüdericher Ehrenmal‹ von 1959 für die Toten des Ersten und Zweiten Weltkriegs (vergleiche dazu https://www.nzz.ch/feuilleton/kunst_architektur/joseph-beuys-in-kleve-konzentriertes-gedaechtnis-ld.107535 und https://meerbusch.de/kultur-und-tourismus/volkshochschule-vhs/vhs-news/artikel/beuys-mahnmal-alter-kirchturm-feierlich-wieder-eroeffnet.html). Sie ist in seinem Tableau ›Krieg und Frieden‹ festgehalten, in dem auch das Werk ›Ohne Titel, Munitionskiste mit Kreuz und Sonne, 1947 / 48; Fichtenstamm und Berglampe, 1953‹ seinen Platz gefunden hat. Es erinnert mit seiner leeren Munitionskiste an den Krieg (vergleiche dazu https://www.flickr.com/photos/werner_schnell_images/39942300434). Beuys gehörte zu der Generation von europäischen Künstlern, die den Zweiten Weltkrieg mitgemacht hatten. Es fiel ihm „offensichtlich leichter, das Thema des Zweiten Weltkriegs bildnerisch zu berühren, als es sprachlich zu formulieren. Erst 1968, also über 20 Jahre nach Ende des Krieges, begann er in Interviews von seinen Kriegserfahrungen zu sprechen“ (Philip Ursprung S. 33 f.). Seine 1979 im Katalog zu seiner Retrospektive im Salomon R. Guggenheim Museum veröffentlichte und später von Hans Peter Riegel im Detail widerlegte Erzählung vom Abschuss seiner Ju-87 im Niemandsland zwischen der russischen und deutschen Front über der Krim, seiner Bergung und Pflege durch nomadisierende Tataren und seiner Erinnerung an Filz und den strengen Geruch von Käse, Fett und Milch beim Aufwachen im deutschen Lazarett gehört für Ursprung in den Kontext der seit der Renaissance gepflegten Künstlerlegenden, die der Heroisierung der Künstler dienen (vergleiche dazu auch die von Christiane Hoffmanns referierte kontroverse Deutung und deren Diskussion: Christiane Hoffmanns, Das rechte, völkische Gedankengut des Joseph Beuys. In: die Welt vom 17.05.2018 und https://www.welt.de/kultur/article176458098/Recherchen-eines-Biografen-Das-rechte-voelkische-Gedankengut-des-Joseph-Beuys.html).

Die Reise zur im Beuys-Block des Hessischen Landesmuseum in Darmstadt zu findenden Vitrine ›Auschwitz Demonstration, 1956 – 1964‹ (vergleiche dazu https://www.hlmd.de/museum/kunst-und-kulturgeschichte/block-beuys.html, siehe dort das Bild 3/11), in dem auch die ›Szene aus der Hirschjagd‹ untergekommen ist (siehe a. a. O. Bild 6/11 und 7/11), erweitert sich zum Tableau ›Verdrängen und Zeigen‹ und zum Nachdenken über das Geschichtsbild von Beuys und die Folgen des Holocaust für sein Werk. 1955 erschien Hannah Arendts Buch ›Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft‹, 1964 ihr Buch ›Eichmann in Jerusalem‹. Zwischen 1963 und 1968 fanden in Frankfurt A.a. M. die Auschwitz-Prozesse statt … Beuys’ ›KZ= Essen‹ (1963), ›KZ=Essen 2‹ (1963) und ›Auschwitz Demonstration‹ … sowie Gerhard Richters ›Tante Marianne‹ (vergleiche dazu https://www.aerzteblatt.de/archiv/52391/Opfer-und-Taeter-Tante-Marianne-und-so-weiter) gehören zu den wenigen Kunstwerken in der BRD, die das Leid der Häftlinge in den Konzentrationslagern direkt oder indirekt thematisieren (vergleiche dazu auch Joseph Beuys’ Vorschlag für ein ›Auschwitz-Denkmal‹: Joseph Beuys organische Ästhetik und von Zurichtungen „noch gefährlicher als Auschwitz“ und Joseph Beuys’ Wettbewerbsentwurf für ein Mahnmal in Auschwitz). Nach Ursprung gibt es keine Hinweise darauf, dass Beuys den Nationalsozialismus relativierte. Im April 1980 spricht er in einem Interview mit der deutschen Ausgabe von ›Penthouse‹ von einem irreversiblen Schock, von Trauer, gepaart mit der Suche nach einem Ansatz, das Ganze wieder gutzumachen und davon, dass er sich verantwortlich fühlt, nicht aber von Schuldgefühlen (vergleiche dazu Philip Ursprung S. 60).

Dem 11. Tableau ›Das Gespenst der Revolution‹ ist sein später in Editionen eingegangenes Porträt des Fotografen Giancarlo Pancaldi ›La rivoluzione siamo Noi‹, 1972 vorangestellt (vergleiche dazu Joseph Beuys La rivoluzione siamo Noi). „Das Bild zeigt Beuys lebensgroß vor einem Tor. Ausgerüstet mit Hut, Weste, Jeans, Stiefeln und einer Umhängetasche, bewegt er sich über ein Steinpflaster auf die Kamera zu …Er ist entschlossen – wie jemand, der am Beginn eines langen Marsches steht. Aber er ist zugleich besonnen – wie jemand, der die Zeit nicht aus den Augen verliert, deutlich ist die Armbanduhr an seinem Handgelenk zu sehen. Den Hintergrund bildet der Eingang einer Villa … Die grobkörnige, mit hartem Kontrast kopierte Schwarzweißaufnahme verleiht dem Bild den Eindruck von Zeitlosigkeit. In Beuys’ Handschrift steht am unteren Bildrand ›La rivoluzione siamo Noi‹“ (Philip Ursprung S. 143). Revolution lag um 1970 in der Luft. In Westdeutschland lag eine der Ursachen in der Wahl von Kurt Georg Kiesinger zum Bundeskanzler der großen Koalition 1966 bis 1969, eine andere im Vietnamkrieg und eine dritte in der überholten Hochschulhierarchie. „Im Unterschied zur Bundesrepublik war die Triebkraft der Reformen in Italien ökonomischer Natur. Die Streikbewegung des Jahres 1969 … übte auf die jungen italienischen Radikalen eine mobilisierende und radikalisierende Wirkung aus …“ (Philip Ursprung S. 147). Beuys fragte die Arbeiter im Mezzogiorno nicht, ob sie mit ihm eine Revolution machen möchten. „Auflösen lässt sich dieser innere Widerspruch nicht. Zugleich müssen wir Beuys nicht jederzeit beim Wort nehmen. Der Eindruck der Künstlichkeit, ja sogar einer gewissen Komik, die im ambivalenten Titel zutage tritt, und die Pose, die in ihrer naiven Selbstüberschätzung an die Figur des Tramp in Charlie Chaplins Filmen erinnert, zeugen davon, dass es Beuys beim Thema Revolution nicht allzu ernst war“ (Philip Ursprung S. 148).

Seine im deutschen Pavillon auf der Biennale Venedig 1976 gezeigt ›Straßenbahnhaltestelle‹ (vergleiche dazu https://www.pinterest.de/pin/736901557751544438/) erinnert an seinen Schulweg in Kleve, das Warten auf die Straßenbahn und daran dass er beim Warten gemerkt hat, dass „man mit Material etwa Ungeheures ausdrücken kann, was für die Welt ganz entscheidend ist … Oder sagen wir, dass die ganze Welt abhängt von ein paar Brocken Material. Von der Konstellation des Wo-eine-Sache-steht, des Ortes, geographisch, und des Wie-die-Sachen-zueinander-stehen …“ (Joseph Beuys nach Philip Ursprung S. 216). Auf der Documenta 6 hat Beuys mit der Free International University Workshops zu Themen wie Inflation und Arbeitslosigkeit, alternative Energieformen und Entwicklungen organisiert und dazu parallel seine ›Honigpumpe am Arbeitsplatz‹ gezeigt (vergleiche dazu https://www.youtube.com/watch?v=acHt6zxO74Y). Mit seinen 1980 im Museum vor Hedendaager Kunst, heute S.M.A.K., Gent gezeigten ›Wirtschaftswerten‹ (vergleiche dazu https://www.kulturausflandern.de/veranstaltungen/wirtschaftswerte-museumswerte-1492527022/) hat er den Unterschied zwischen Geldwert und Wirtschaftswert thematisiert und dafür geworben, dass die Macht des Geldes zu brechen.

Sein ambitioniertestes Werk sind seine ›7000 Eichen: Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung‹ auf der Documenta 7 in Kassel geworden (vergleiche dazu https://www.google.de/search?source=univ&tbm=isch&q=7000+eichen+standorte&sa=X&ved=2ahUKEwjV4P3W39_vAhVHhRoKHaK2C-AQjJkEegQIBhAB&biw=1631&bih=919), für das er quasi ganz Kassel gewinnen und aktivieren musste. Die erste Eiche hat er 1982 auf dem Friedrichsplatz gepflanzt, die letzte sein Sohn Wenzel 1987 neben der ersten. Dass die Bäume mit Basaltsteinen gepaart wurden, hing mit der Vorstellung von Rudolf Steiner zusammen, dass Steine kosmische Kräfte in den Erdboden holen und an die Wurzeln der Bäume weitergeben. Mit dem Projekt konnte er weit über den üblichen Rahmen hinaus Menschen für Kunst interessieren. Auch ökonomisch beschritt er Neuland, da die Bäume und Steine unverkäuflich blieben. 

Mit seiner zuerst als Skulptur erarbeiteten und danach als Multiple in einer Auflage von 200 Stück aufgelegten ›Capri-Batterie‹ (vergleiche dazu http://pinakothek-beuys-multiples.de/de/product/capri-batterie/) und seiner Installation ›Palazzo Regale‹ (vergleiche dazu Palazzo Regale) kommt sein eigener Tod in den Blick. Die ›Capri-Batterie‹ „entstand während eines Aufenthalts auf der Insel Capri im Sommer 1985, wo er, bereits schwer erkrankt, die Installation Palazzo Regale‹ … vorbereitete. Die im Dezember 1985 eröffnete Ausstellung ›Palazzo Regale‹ im Palazzo Reale di Capodimonte in Neapel war seine letzte … In den mit Goldfarben bemalten Metallvitrinen sind wie in einer Grabkammer Requisiten von früheren Aktionen sowie sein Luchsfellmantel platziert. Es ist eine deutliche Anspielung auf seinen eigenen Tod – wenn man so will, sein ›Testament‹“ (Philip Ursprung S. 292).

Philip Ursprungs unaufgeregte, an den Zeitläuften und Werken orientierte Publikation wird dazu beitragen, dass Beuys auch in den nächsten drei, vier oder fünf Jahrzehnten in der Kunstszene und darüber hinaus nicht vergessen wird.

ham, 3. April 2021

Kommentare sind geschlossen.

COPYRIGHT © 2023 Helmut A. Müller