Deutsche Verlags-Anstalt, München, 2021, ISBN: 978-3-421-04850-9, 328 Seiten, 16 s/w Abbildungen, Hardcover mit Schutzumschlag, Format 22 x 14 cm. € 24,00 (D) / € 24,70 (A) / CHF 33,90
Die meisten möchten weniger krank sein, ein Leben lang gesund bleiben und ohne Schmerzen sterben. Wenn die Visionen der Systembiologie Wirklichkeit werden, könnten dieser Wunsch in Erfüllung gehen. Aber was ist Systembiologie und wie nahe sind ihre Versprechungen an der Wirklichkeit?
Nach dem promovierten Neurobiologen, Anthropologen und Wissenschaftsjournalisten Peter Spork können wir schon heute dank moderner Techniken unser Erbgut lesen, die Arbeit einzelner Zellen auf molekularer Ebene über längere Zeit hinweg aufzeichnen, das Gespräch zwischen Erbe und Umwelt belauschen, unsere Mitbewohner im Darm und auf der Haut analysieren und den Einfluss der Psychotherapie auf die Genregulation erfassen. Damit sind wir dabei, das Leben in seiner Gänze zu vermessen und zu verstehen, was Gesundheit ist. Der Körper kommt als biologisches Netzwerk mitsamt seiner Um- und Mitwelt in den Blick. Gesundheit, Krankheit und Altern können dann „als Zustände in nichtlinear geregelten, biologischen, psychologischen und soziologischen Systemen“ begriffen werden, deren unzählige Elemente in hochkomplexen Zusammenhängen zueinander stehen und deren Beziehungen man über Stunden, Monate und Jahre hinweg gezielt verändern kann (Peter Spork S. 16 f.). Und Systembiologie ist dann der Versuch zu verstehen, diese biologischen Prozesse mithilfe der Mathematik zu modellieren. In Zukunft können uns nach der Vorstellung des Züricher Systembiologen Ernst Hafen digitale Zwillingen bei unseren Gesundheitsentscheidungen unterstützen. „Ein digitaler Zwilling ist etwas, mit dem ich wirklich simulieren kann, was passieren wird. Wie sich zum Beispiel mein Körper verändert, wenn ich die Magnesiumkonzentration in eine bestimmte Richtung verändere. Ist es dann gut oder schlecht für mich? (Ernst Hafen nach Peter Spork S. 66 f.; vergleiche dazu auch https://www.berliner-zeitung.de/gesundheit-oekologie/revolution-in-der-medizin-wie-wir-unsere-gesundheit-kuenftig-berechnen-li.152614.amp).
Theoretisch könnte jeder Mensch in Zukunft einen eigenen digitalen Zwilling haben. „Der wird nicht aussehen wie ein Mensch. Er wird ihn auch nicht ersetzen, ihn schon gar nicht bevormunden wollen. Er wird einfach das Produkt sehr vieler, sehr cleverer Algorithmen sein, die mithilfe einer ausgeklügelten Software Prognosen erstellen, wie unser Leben weitergeht und wie es sich wahrscheinlich verändert, wenn wir auf bestimmte Art handeln. Versteckt in irgendeinem technischen Hilfsgerät, das wir bei uns tragen, vielleicht sogar implantiert unter unserer Haut, wird dieser digitale Zwilling uns dabei unterstützen, gesund zu bleiben. Das heißt nicht, dass wir ihm sklavisch gehorchen müssen. Im Gegenteil: Wir werden völlig frei sein … Wir werden selbst entscheiden, ob wir anders essen, als der individualisierte Algorithmus es vorschlägt, oder ob wir und uns weniger bewegen, mehr oder weniger schlafen … Er wird uns dienen, nicht umgekehrt. Er wird uns befreien – von den vielen einengenden, stressenden, überehrgeizigen Anweisungen der Gesundheitsgurus und ihrer Ratgeberliteratur. Und er wird dazu beitragen, eine der größten Schwächen des derzeitigen Medizinbetriebs zu überwinden. Sie besteht in einer Medizin, die nicht individualisiert genug ist“ (Peter Spork S. 67).
Letztlich müssen die drei Spielarten der Systembiologie zusammengedacht werden: „Erstens die ursprüngliche, klassische Variante, die wir seit vielen Jahrzehnten kennen. Sie versucht, das Leben mit mathematischen Gleichungen zu beschreiben. Zweitens die moderne mathematisch-informationstechnische Systembiologie, die Daten über Dateien sammelt. Sie versucht, mithilfe modernster Verfahren der Informatik die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, um in die Zukunft eines Lebens zu blicken. Und drittens die physiologische Systembiologie, die das Leben bis ins kleine Detail erforschen, mechanistisch verstehen, präzise über einen längeren Zeitraum hinweg beschreiben und zumindest tendenziell virtuell zu einem Ganzen zusammensetzen möchte. Alle drei haben ein großes Ziel, das sie nur gemeinsam erreichen werden, die Vermessung des Lebens“ (Peter Spork S. 40 f.). Der Systembiologe Nikolaus Rajewsky untersucht mit seiner Berliner Arbeitsgruppe, wie die RNA die Genexpression reguliert, wann Zellen von einer gesunden Entwicklung abweichen und im europaweiten Konsortium „LifeTime“, wie Zellveränderungen früher erkannt und dann auch therapiert werden können (vergleiche dazu Peter Spork S. 38, https://www.mdc-berlin.de/de/lifetime und https://de.wikipedia.org/wiki/Nikolaus_Rajewsky). Er versteht unter Systembiologie, „›dass man mithilfe der Mathematik vorhersagen kann, was in einer lebenden Struktur passiert‹“ Nikolaus Rajewsky nach Peter Spork S. 41). Damit beginnen wir „schon heute in ersten Ansätzen, das Leben vorherzusagen“ (Nikolaus Rajewsky nach Peter Spork S. 25). Wenn die 37 Billionen Zellen des menschlichen Körpers „erst mal wirklich allesamt verstanden sind“, kann man „diesen Körper virtuell auferstehen“ lassen (Peter Spork S. 40; vergleiche dazu https://commonfound.nih.gov/hubmp).
Aus der Medizin, wie wir sie heute kennen, wird dann Begleitung. „Ärzt✴︎innen werden sich überwiegend um akute Verletzungen und Infektionen kümmern. Sie werden Menschen unterstützen, die aufgrund ihres Alters oder aufgrund einer Behinderung auf Hilfe angewiesen sind. Die meiste Zeit aber werden sie uns schlicht coachen und weitere Maßnahmen wie zum Beispiel Impfungen ergreifen, damit wir gar nicht erst erkranken oder mit einer unumgänglichen Krankheit möglichst gut leben. Als gleichberechtigte Partner✴︎innen werden die Ärzt✴︎innen mit uns auf die vielen Gesundheitsdaten schauen … Sie werden uns zuhören und uns – in Zusammenspiel mit der Auswertung unserer eigenen Daten – Hinweise zur Ernährung, Bewegung, Entspannung, zu unserem Sozialleben und Schlafverhalten geben. Sie werden uns aufklären, wenn wir zu den hochindividuellen Ratschlägen unserer Gesundheits-Apps Fragen haben. Zukünftige Ärzt✴︎innen werden uns dabei helfen, den persönlichen Gesundheitsprozess zu steuern. Und neben Mediziner✴︎innen werden das auch Psycholog✴︎innen, Pflegekräfte, Hebammen, Bewegungs- oder Ernährungsberater✴︎innen tun. Bezahlt werden sie vom Staat oder von den Krankenkassen …
Auch die Wissenschaft wird sich verändern. Es wird nur noch eine allgemeine Wissenschaft vom Leben und Zusammenleben geben. Vielleicht ist es die schon heute existierende Disziplin der Gesundheitswissenschaften, die dieser Vision am nächsten kommt. Biologie, Psychologie, Medizin, Bioinformatik und Soziologie werden nicht länger konkurrieren, sondern arbeiten einander zu. Sie werden gemeinsam unsere systembiologisch gesteuerte Gesundheit erkunden und aufrechterhalten. Die Grundlagenforschung … sollte im Interesse ihrer Unabhängigkeit … weitgehend öffentlich finanziert sein. Sie wird von der Einzellenbiologie über die Biopsychologie und die vergleichende Gesellschaftswissenschaft bis zur Ökologie, Stadtplanung und Klimaforschung all die vielen elementaren Details liefern, die uns das systembiologische Vermessen unser aller Leben und die Gestaltung unserer Gesellschaft immer mehr erleichtern werden. Doch wird das alles nicht zu teuer? Systembiologie kostet sehr viel Geld: die ganze Genomik, Epigenomik, Mikrobiomik, Proteomik, das Züchten von womöglich personalisierten Organoiden und Geweben, das unentwegte Erheben und Erfassen von Daten …, die gigantischen Rechenzentren inklusive der Energie, die sie verbrauchen … und so fort. Die reichen Länder können sich das vielleicht noch irgendwie leisten. Aber was machen die Länder des globalen Südens? … Wird Systembiologie ein Luxusgut für wenige sein? Vieles spricht dagegen“ (Peter Spork S. 281 ff.).
Nach Spork ist das deshalb nicht der Fall, weil viele Krankheiten erst gar nicht mehr auftreten werden und
Systembiologie selbst in den ärmsten Ländern finanzierbar sein wird. Ob sich die von ihm vorgestellte Neuorganisation des Gesundheitswesens unter den derzeit gegebenen politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnissen weltweit durchsetzen lassen wird, ist freilich ebenso offen wie die Vorstellung, dass die Systembiologie Soziologie, Biologie. Psychologie und Medizin miteinander versöhnen wird. Die von Spork kurz angespielte Kontroverse um Harald Welzers Kritik an der Systembiologie deutet an, wie schwer es sein wird, dass sich eingeführte Wissenschaften freiwillig einer noch zu findenden systembiologischen Leitwissenschaft unterordnen: Nach Spork irren der Soziologe und Sozialpsychologe Welzer und andere Kritiker, wenn sie der „digitalen Medizin und letztlich der Systembiologie eine ›Ideologie des messianischen Solutionismus‹ unterstellen, die unsere Lebenswelt ›kolonisieren‹“ will (Harald Welzer nach Peter Spork S. 292 f.). Schließlich werden sich zumindest Vertreter der Geisteswissenschaften an den mechanistischen Vorstellungen von Leben und virtueller Auferstehung reiben und unterstreichen, dass sich die Rückkehr ins Paradies nicht über die Systembiologie erschließen wird.
Zwar kann man sich vorstellen, dass Forscher✴︎innen, die heute „lebendige Systeme mithilfe Künstlicher Intelligenz und Deep Learning“ modellieren, eines „Tages … noch einen Schritt weitergehen und einzelne, rundum verstandenen Zellen im Computer zu kompletten Organismen neu zusammensetzten. Im Kleinen funktionieren solche virtuellen Zusammenbauten von Leben bereits – als Simulation von Zellen oder einfachen Geweben und Organoiden. Gelänge es auch im Großen, wäre das die ›wirkliche Systembiologie‹, sagt Rajewsky. Viele der dafür benötigte Daten seien bereits erhoben. Jetzt gehe es vor allem darum, die geeigneten Werkzeuge und Methoden Schritt für Schritt darum herum zu entwickeln. Dafür bedarf es angesichts der Komplexität der Aufgabe vieler kluger Köpfe aus nahezu allen Gebieten der Natur-, aber auch der Geisteswissenschaften. ›Ethische Aspekte sind selbstverständlich auch sehr wichtig‹, sagt der Berliner Molekularbiologe. Und soziologische, psychologische wie anthropologische Daten spielten ebenfalls an entscheidenden Stellen ins biologische System herein“ (Peter Spork S. 169 f.). Möglicherweise wird man deshalb vielleicht schon in zehn Jahren Krankheiten, die man heute noch nicht versteht, früher und effektiver bekämpfen können. Trotzdem bleibt es nach allem, was man über Lebenszufriedenheit weiß, offen, ob Menschen allein mit gewonnen guten Lebensjahren zufriedener, glücklicher und offener auf ihren Tod zugehen werden (vergleiche dazu etwa https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/47331/lebenszufriedenheit) und es ist nicht ausgemacht, wie die nachwachsenden Generationen mit den größeren Herausforderungen und Kosten umgehen werden, die die angestrebte höhere Lebenserwartung mit sich bringt.
ham, 12. Mai 2021