Siedler Verlag, München, 2025, ISBN 978-3-8275-0183-7, 638 Seiten, Hardcover, mit Schutzumschlag, Format 21,8 x 15,2 cm, € 34,00
Wer zur Generation der Nachkriegskinder gehört, die weder von ihren Eltern noch von ihren Geschichtslehrern Genaueres über den Aufstieg des Nationalsozialismus, die Judenverfolgung und den Untergang des Dritten Reichs gehört haben, kann dieses Versäumnis bei der Lektüre von Peter Longerichs Stimmungsgeschichte „Unwillige Volksgenossen. Wie die Deutschen zum NS-Regime standen“ aufarbeiten. Zwar konzentriert sich der bis 2018 an der Universität der Bundeswehr in München lehrende Antisemitismusexperte und Autor weltweit beachteter Biografien über »Heinrich Himmler« (2008), »Joseph Goebbels« (2010) und »Hitler« (2015) in »Unwillige Zeitgenossen« auf die Frage, ob das seit den 1990er-Jahren in der Geschichtswissenschaft dominierende Bild einer dem NS-Regime hohe Zustimmung entgegenbringenden Bevölkerung stimme oder nicht und verneint sie nach der Analyse der „Lage- und Stimmungsberichte“, die die Gestapo, die Landräte und lokalen Polizeibehörden, die Justiz, die Wehrwirtschaftsinspektionen im Reichsgebiet, die dem Wirtschaftsministerium unterstellten Reichstreuhänder, der Sicherheitsdienst des Reichsführers, die NSDAP und die Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Exil zwischen 1933 und 1945 erstellt haben. Aber sein Durchgang durch die zentralen Phasen des Nationalsozialismus zwischen der »Machtergreifung« und dem Unterfang ergibt doch ein in sich konsistentes Gesamtbild der Zeit des Nationalsozialismus.
Die in den Stimmungs- und Lageberichten festzustellenden Defizite, Auslassungen und Verzerrungen können nach Longerich durch die hohe Zahl der Auswertungen weitgehend ausbalanciert werden. Sie lassen sich inhaltlich in sieben Hauptpunkten zusammenfassen:
1. schlechte Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterschaft;
2. geringe Erträge in der Landwirtschaft, Arbeitskräftemangel und Drangsalierung durch den Reichsnährstand;
3. unzureichende wirtschaftliche Lage des Mittelstandes, Angst im Bürgertum vor Verlust von Privilegien;
4. »Kirchenkampf« und Spaltung der protestantischen Kirche;
5. fortwährende Einengung der Aktivitäten der katholischen Kirche jenseits der reinen Religionsausübung;
6. Unzulänglichkeit der lokalen Parteiorganisation;
7. Angst vor einem Krieg beziehungsweise dann im Krieg die immer wieder enttäuschte Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende.
Auf diese in der Berichterstattung zum Ausdruck gebrachten Kritikpunkte konzentriert sich Longerichs Darstellung. In der Summe spiegeln sie ein erhebliches Ausmaß an Unzufriedenheit und innerer Opposition in der damaligen Bevölkerung wider. „Diese Tatsache steht wiederum in offenem Widerspruch zu der in den Berichten immer wieder betonten grundsätzlichen Zustimmung zur Politik des Regimes und lässt diese wie ein Mantra behauptete Übereinstimmung zwischen Volk und Führung vor allem als propagandistische Selbstdarstellung erscheinen. Dies wird umso deutlicher, wenn man sich die im Vergleich dazu geringe positive Resonanz vor Augen hält, die das »große« Kernziel nationalsozialistischer Politik in der Bevölkerung laut der Berichterstattung fand, nämlich die Schaffung einer rassisch homogenen und von der offenen Austragung von Interessen- gegensätzen befreiten »Volksgemeinschaft«, die bereit war, unter großen Opfern und Risiken einen Krieg zur Eroberung von Lebensraum vorzubereiten und zu führen“ (Peter Longerich, S. 23 f.).
Im Ergebnis zeigt die Auswertung der Stimmungsberichterstattung für den gesamten Zeitraum von 1933 bis 1945 einen erheblichen und breit gestreuten Unwillen der Bevölkerung über die Verhältnisse im »Dritten Reich« in den sozialen Großgruppen Arbeiter, Landwirte, Mittelstand und Bürgertum und auch beim überwiegenden Teil der katholischen kirchentreuen Bevölkerung und den Anhängern der protestantischen Bekenntnisbewegung.
Geht man „von den zentralen ideologischen Zielen des Nationalsozialismus aus […], lautet das Fazit: Das Regime konnte sich nicht auf einen breiten Konsens in der Bevölkerung stützen, und das »Dritte Reich« war keine »Zustimmungsdiktatur«. Dabei steht außer Frage, dass die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung sich bei allem Dissens letztlich doch im Sinne des Regimes verhielt und durch ihr alltägliches Handeln dessen Politik mittrug oder zumindest hinnahm und dass Widerstand in seinen verschiedenen Formen eher die Ausnahme war. Nur war diese konforme Haltung überwiegend eben nicht das Resultat innerer Überzeugung und Zustimmung.
Die Anpassung an die Verhältnisse lässt sich dabei nicht in erster Linie durch Repression und Terror erklären. Die Vorstellung von der »allgegenwärtigen« Gestapo ist durch die Forschung längst als Mythos entlarvt worden, und die Angst vor Verurteilung durch Sondergerichte oder Konzentrations- lagerhaft scheint im Alltagsleben der weitaus meisten Menschen keine große Rolle gespielt zu haben. Gewaltsame Unterdrückung und Zwang standen zwar im Hintergrund bereit, mussten in der Regel aber gar nicht angewandt werden, um das Verhalten der Menschen zu steuern. Dafür sorgte viel effizienter ein Bündel anderer Maßnahmen und Strategien: eine engmaschige und klein- räumliche Kontrolle des Alltags durch den weit verzweigten Parteiapparat, der bis in die engste Nachbarschaft hineinreichte, ferner die nationalsozialistische Beherrschung der Öffentlichkeit durch die Propaganda einerseits und durch die Unterdrückung abweichender kollektiver Meinungsbildungsprozesse andererseits sowie schließlich die zahlreichen Anreize materieller und ideeller Art, die das Regime konformen Volksgenossen bot. Anpassung an die gegebenen Verhältnisse, Risikovermeidung, Opportunismus und nicht zuletzt der Mangel an Alternativen spielten im Verhältnis der Menschen zum Regime eine größere Rolle als Konsens und Zustimmung […].
Wie aber durch die Lektüre der Stimmungsberichte erkennbar wird, hat sich die deutliche Segmentierung in unterschiedliche soziale Milieus und politische Lager, die kennzeichnend für das Kaiserreich und die Weimarer Republik war, nach 1933 keineswegs aufgelöst. Vor allem die kirchlich gebundenen Milieus, aber auch Bauern, Angehörige des gewerblichen Mittelstands und das Bürgertum sowie Arbeiter, vertraten deutlich eigenständige Positionen und grenzten sich immer wieder klar vom Nationalsozialismus und seinem Massenanhang ab. Auch trifft die Berichterstattung häufig (aber keineswegs durchgängig) eine markante Unterscheidung zwischen der nationalsozialistischen Bevölkerung und anderen Teilen der Gesellschaft. Von einer durchgehenden »Nazifizierung« der deutschen Gesellschaft kann demnach keine Rede sein.
Die weit verbreitete Vorstellung, dass das NS-System nur deshalb so furchtbar lange Bestand haben konnte, weil es von einer breiten Zustimmung getragen wurde, verkennt meiner Ansicht nach die weitgehende Handlungsautonomie, die eine diktatorische Führung mit der Beherrschung aller ihrer zur Verfügung stehenden Machtmittel erreichen kann. Das an sich anerkennenswerte Bemühen, die Geschichte des NS-Systems von unten neu zu schreiben und das »Volksgemeinschafts«-Projekt als soziale Praxis zu begreifen, kann auch dazu führen, dass das Verständnis für die Funktionsweise der Diktatur verloren geht“ (Peter Longerich S. 472 ff.).
ham, 28. April 2025