Junius Verlag Hamburg, 2009, ISBN 978-3-88506-666-8, 229 S., 13 s/w-Abbildungen, Broschur,
Format 17 x 12 cm, € 14,90
Die von Peter Geimer, Privatdozent an der ETH Zürich erarbeitete Einführung in Theorien der
Fotografie erfüllt die von der Junius-Taschenbuch-Reihe geforderten Kriterien voll und ganz: Sie
kombiniert einen profunden Überblick über das Themenfeld mit kritischen Analysen der jeweiligen
Ansätze und markiert darüber hinaus den eigenen Ansatz. So lässt sich im Kapitel über Fotografie als
Ausdruck, Spur und Index (Bilder durch Berührung) eine Sympathie für Philippe Dubois‘
fototheoretische Studien ‚Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv‘ nicht
verkennen, die Ansätze von Charles S. Peirce, Rosalind Krauss und Roland Barthes kritisch
zusammenfassen. „Es geht ihm darum, einerseits jenes >>unhintergehbare Gefühl der Wirklichkeit <<
zu begründen, das man im Umgang mit Fotografien >>nicht los wird, obwohl man um alle Codes
weiß, die im Spiel sind und sich in der Handlung vollziehen<<…, andererseits aber auch die
Bedingungen und Grenzen dieses Wirklichkeitsbezug aufzuzeigen, um einen neuen Essenzialismus in
der Fototheorie zu vermeiden“ (Peter Geimer). Deshalb wendet er sich gegen ein Verständnis der
Fotografie, das deren Besonderheit allein in der Betrachtung der fixierten Bilder sucht, „statt das
Zusammenspiel aller bildbestimmenden Faktoren in Betracht zu ziehen… Erst das Zusammenspiel all
dieser Faktoren konstituiert >>die Fotografie<<. Gleichwohl bleibt der Spurencharakter die
notwendige Bedingung… Ausgehend von diesem >>Indexstatus<< der Fotografie sind es vor allem
zwei Akzentuierungen, die Dubois innerhalb des Spurenparadigmas vornimmt… (Für Dubois kann
eine Fotografie) nicht nur von der tatsächlichen Erscheinung des von ihr Gezeigten abweichen, sie hat
für sich genommen keine Bedeutung… Eine Fotografie haftet am Realen, trotzdem bedeutet sie nichts,
solange man ihr keine Bedeutung zuschreibt. Auch die zweite Akzentuierung… zielt auf eine
Bestätigung und gleichzeitige Relativierung der Indexikalität der Fotografie. Diese Relativierung
betrifft die kurze Dauer, in welcher der Spurencharakter unverstellt in Erscheinung tritt: >>Man
beachte…, dass das Prinzip der Spur… nur einen Moment im gesamten fotografischen Ablauf ist.
Denn vor und nach diesem Moment der natürlichen Einschreibung der Welt auf die lichtempfindliche
Fläche gibt es zutiefst kulturelle, codierte, gänzlich von menschlichen Entscheidungen abhängigen
Gesten, (… – all das, was vor dem entscheidenden Moment liegt und schließlich im Druck auf den
Auslöser gipfelt; danach: all diese Entscheidungen wiederholen sich beim Entwickeln und beim
Abziehen…) Nur zwischen diesen zwei Serien von Codes, allein im Augenblick der Belichtung selbst,
kann das Foto als reine Spur eines Aktes… angesehen werden<< (Philippe Dubois)… Das eigentliche
Wesen der Fotografie zeigte sich demnach immer nur indirekt oder negativ – als zeitweises Aussetzen
der kulturellen Codes und Sinnzuschreibungen im kurzen Moment der Belichtung. Dieser Moment
bezeichnet die Basis der Fotografie, bleib als solcher aber unbeobachtbar… Möglicherweise … nähert
Dubois sich hier den negativen Definitionen der Fotografie, die deren Wesen- etwa im Anschluss an
die byzantinische Tradition der acheiropoietoi, der nicht von Hand gemachten Bilder … – gerade darin
zu bestimmen versuchen, was die Fotografie nicht ist“ (Peter Geimer). Diese Position verteidigt
Geimer auch gegen die Kritik des Spurenparadigmas: „Sobald man … Aussagen über die Spezifik der
Fotografie treffen will, wird man nicht umhinkommen, ihre Differenz zu anderen Formen der
Repräsentation zu betonen. Die Theorien des Abdrucks, des Index und der Spur münden mithin in
einer Paradoxie: Einerseits insistieren sie zu Recht auf den spezifischen Herstellungsbedingungen
fotografischer Bilder, andererseits tendieren sie dazu, diese Bedingungen …>> dem Denken [zu]
entziehen<< … bzw. sie in Metaphern einzukleiden, die als unpräzise empfunden werden“ (Peter
Geimer). Aus diesem Dilemma könnten nach Geimer negative Theorien der Fotografie und die Rede
vom Automatismus, der Absichtslosigkeit und der nicht von Menschenhand gemachten Bilder
herausführen. „Solange die negative Bestimmung … nicht in Metaphysik umschlägt oder ein
unerklärliches Wesen hinter der Technik sucht, bleibt sie ein legitimer Hinweis auf die partielle
Unverfügbarkeit der Fotografie“ (Peter Geimer).
Das zweite Kapitel verhandelt den in den 1970-er Jahren einsetzenden Diskurs, der den in den
Fotografien aufscheinenden „Realismus“ als unzulässigen Naturalismus kritisiert und als bloßen
Effekt sozialer und kultureller Praktiken, von Zuschreibungen und von Codes begreift. In diesem
Diskurs wird unter anderem nach den sozialen Folgen der ästhetischen Praxis gefragt, weiter nach der
durch Fotografie konstruierten Geschlechterdifferenz und nach den politischen Interessen, die hinter
der Frage nach der fotografischen Wahrheit stehen. Schließlich taucht die Frage auf, ob das
Aufkommen der digitalen Fotografie eine post-fotografische Ära einleitet und das Paradigma des
Realismus auslöscht. Für Wolfgang Ullrich erlaubt es die digitale Technik sehr gut, das Fotografische
zu simulieren und die Realität zu suggerieren. Ullrichs zentrale These besagt, „dass mit dieser Art des
digitalen, das Analoge simulierenden Bilds ein neuer Bildtypus entstanden ist, dem auch eine neue
Form der Rezeption entspricht … Demnach steht es einem Betrachter frei, auch solche Bilder unter
dem Zeichen des Authentischen zu sehen, die den Schein des Analogen lediglich zitieren. Diese
Einstellung nennt Ullrich… >>digitalen Nominalismus<<… Demnach ist unter den Bedingungen der
Digitalisierung jetzt wählbar, welchen Authentizitätsgrad man einem Bild zugesteht…“ (Peter
Geimer). Weitere Kapitel befassen sich mit der Zeit im Bild und Bildern in der Zeit, mit der
Fotografie im Zeitalter von Surrealität, Reproduktion und Zirkulation und mit der Fotografie im
System der Künste. Mit der von Jeff Wall praktizierten gezielten Inszenierung fotografischer
Ereignisse löst sich dann auch die unproduktive Polarisierung auf, „die das Nachdenken über
Fotografie lange Zeit bestimmt hat: Entweder die Fotografie ist objektiv oder sie ist subjektiv;
entweder ist sie eine apparitiv vermittelte Aufzeichnung oder ein kreatives Menschenwerk; entweder
sie wurde entdeckt oder sie wurde erfunden; entweder verlangt sie nach einer realistischen oder nach
einer konstruktivistischen Beschreibung usw. Dieser Polarität ist mit der Frage zu begegnen, die
Barthes bereits in seinen frühen Texten zur Fotografie formuliert hat: >>Wie kann nun die Fotografie
zugleich objektiv und besetzt sein, natürlich und kulturell?<< … Sie kann es, weil beide
Bestimmungen – das Objektive und die Besetzung, das Natürliche und das Kulturelle – sich nicht
ausschließen. Das Vermittelnde, das Indirekte und das Gestaltende ist kein Defizit der Repräsentation,
sondern eine ihrer positiven Bedingungen“ (Peter Geimer).
(ham)
Download: Peter Geimer – Theorien der Fotografie zur Einführung
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