Band 88 der Reihe Narratologia, editid by Fotis Jannidis, Matías Martínez, John Pier,
Wolf Schmid (executiv editor)

Verlag Walter De Gruyter, Berlin/Boston, 2023, ISBN 978-3-11-1000122-7, Frontmatter 19 Seiten, Inhalt 270 Seiten, 9 s/w und 12 farbige Abbildungen, 1 Tabelle, Hardcover, Format 23,3 x 16,3 cm, € 89,95

Wer bei Beerdigungen gelebtes Leben zusammenfassen und auf den Punkt bringen musste, ist auf hinterbliebene Partner, Kinder, Familienangehörige und Freunde angewiesen und weiß, dass die von ihm vorgetragenen Lebensläufe auch ganz anders hätten ausfallen können. Erinnerungen gehen auseinander und markante Lebensereignisse werden in aller Regel unterschiedlich gespeichert und bewertet. Vergleichbares gilt auch für das in den vier Evangelien überlieferte Leben Jesu und die Frage, wie sich Gemeinschaften und Einzelne an das Leben Jesu erinnern (vergleiche dazu und zum Folgenden Rainer Riesner, Jesus als Lehrer. Acht Thesen zur Neubewertung der Evangelienüberlieferung. In: Deutsches Pfarrerinnen- und Pfarrrerblatt Ausgabe 3/2024, S. 143 ff.). Deshalb hat in den letzten Jahren der sogenannte memory approach in der Leben Jesu Forschung Einzug gehalten (vergleiche dazu etwa Gerd Theißen / Annette Merz: Wer war Jesus? Der erinnerte Jesus in historischer Sicht. Ein Lehrbuch, Göttingen 2023) und Siegfried J. Schmidt, Memory and Remembrance: A Constructivist Approach. In: https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110207262.3.191/pdf?licenseType=restricted).

Innerhalb der Forschung zu Gedächtnis und Erinnerung gibt es eine skeptische Strömung, für die Erinnerung überwiegend konstruiert und die Frage offen ist, ob eine Rekonstruktion von Vergangenheit überhaupt möglich ist. Zu diesem konstruktivistischen Zweig zählen unter anderem der amerikanische Gedächtnispsychologe Barry Schwartz (vergleiche dazu https://en.wikipedia.org/wiki/Barry_Schwartz_(psychologist)), der französische Soziologe und Philosoph Maurice Halbwachs (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Maurice_Halbwachs) und der liberale Theologe Rudolf Bultmann (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Bultmann und Rudolf Bultmann, Die Geschichte der Synoptischen Tradition, Göttingen 1921). Der zwei Generationen jüngere Neutestamentler Rainer Riesner (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Rainer_Riesner) setzt dagegen darauf, dass die Erinnerung an Jesus als Lehrer in allen urchristlichen Traditionsströmen festgehalten worden ist, das Memorieren wichtiger mündlicher und schriftlicher Texte zur Zeit Jesu im hellenistisch-römischen wie im jüdischen Bereich weit verbreitet war und die Jünger und der Schülerkreis Jesu eine lebendige Traditionsbrücke zwischen der vor- und nachösterlichen Zeit gebildet haben.

Nach der Linguistin und Anthropologin Ruth Hillary Finnegan (vergleiche dazu https://www.thebritishacademy.ac.uk/fellows/ruth-finnegan-FBA/) liegt eine um Worttreue bemühte Überlieferung dann vor, wenn ihr Urheber als inspiriert oder bedeutend angesehen wurde, die mnemotechnische Formung zu einer Eigenexistenz der Überlieferung als oral text im Gedächtnis des Tradenten geführt hat und eine für das Tradieren besonders befähigte Gruppe vorhanden war (vergleiche dazu Ruth Finnegan, Oral Traditions and the Verbal Arts, 2017). Nach Riesner treffen in der synoptischen Jesus-Traditionen alle drei erforderlichen Voraussetzungen zu. Deshalb rechnet er mit der substantiellen Zuverlässigkeit der Erinnerung an den Lehrer Jesus.

Vor dem Hintergrund der Frage, ob eine Rekonstruktion von Vergangenheit überhaupt möglich ist, irritieren die mit hohem Geltungsanspruch vorgetragenen und noch Jahre nach ihrer Veröffentlichung breit goutierten nationalen Meisterzählungen von Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1918 (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Geschichte_1800–1918), Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte (vergleiche dazu https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/A1001125888) und Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen (vergleiche dazu https://www.chbeck.de/winkler-august-lange-weg-westen-deutsche-geschichte/product/31645206).

„Sie umgibt der Nimbus des autoritativen Wissens, der noch aus dem Historismus stammt … Dabei wird nicht erst seit Hayden Whites Metahistory … über die strukturelle, quasi architektonische Ähnlichkeit von Historiografie und erzählender Literatur diskutiert. Whites … Theorie hat einen Minimalkonsens hervorgebracht … : Historiografische, faktuale Texte und literarische, fiktionale Erzähltexte teilen das konstitutive Merkmal, dass beide Textformen erzählen, wobei erzählen dabei zunächst im Sinne einer zentralen (und traditionalen) Kulturtechnik verstanden wird.

Anstatt einen ästhetischen Zugriff auf histor(iograf)isches Erzählen zu forcieren, wurde in der Geschichtstheorie in Abgrenzung zur klassischen Erzählforschung in den Literaturwissenschaften eine streng dichotome Fiktionalitäts-versus-Faktionalitäts-Diskussion geführt, die sich letztlich als Methodenstreit einer sich emanzipierenden Geschichtswissenschaft beschreiben lässt … Das Ergebnis ist, dass die geschichtstheoretische Forschung bis zuletzt allenfalls die Wahrheits- und Wirklichkeitsbedingungen von Geschichtsnarration austariert hat und sich damit ohne Not jener selbstauferlegten Binaritätsbeschränkung auf faktual versus fiktiv unterwirft, was nicht zuletzt auch in einer Unschärfe des Konzepts Narration in der Geschichtstheorie begründet liegt, in dem Erzählen und Fiktion oftmals eine semantische Relation zugeschrieben wird. Nicht beachtet wurden die in diesem Kontext dem histor(iograf)ischen Erzählen ganz eigenen ästhetischen Erzählbedingungen … Erzählen, verstanden als ästhetisch-literarischer Modus einerseits und als Analysekategorie andererseits, galt und gilt einigen (wenigen) Historiker:innen per se als wissenschaftlich defizient und eher dem Bereich der Belletristik und der Literaturwissenschaften zugehörig. Dieses zunächst marginal erscheinende Problem … offenbart sich … dann als fundamental, wenn wir uns historiografischen Texten nähern und tatsächlich versuchen, ihre Gemachtheit sowie die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Gemachtheit und ihres So-Seins analytisch und kritisch zu hinterfragen; ein entsprechendes, umfassendes Werkzeug … stellt die Geschichtstheorie … bislang nicht bereit. Diese Forschungslücke zu schließen … ist das Ziel“ der angezeigten Untersuchung (Nicholas Beckmann S. IX f.).

Beckmann nähert sich diesem Ziel über eine Analyse der die Narrative umgebenden Kontextbedingungen an, die „sowohl (para-)textuell als auch erzählerisch und autor:innenschaftlich betrachtet werden müssen, um im weiteren Vorgehen zum Wie und Was des eigentlichen Erzähltextes vordringen zu können. Textstrukturell – meint: an der Textoberfläche –, so die These, unterscheiden sich fiktionale und faktuale Texte nicht maßgeblich voneinander. Die Unterschiede liegen dementsprechend hinter der Architektur des Erzähltextes, in der (Text-)Semantik und -pragmatik, im Erzählmodus und in der -technik, in der Zeitstruktur und vor allem in der erzählten Handlung und ihrer Motivierung“ (Nicolas Beckmann S. 57). Die genannten Unterschiede und das Wie und Was der Narration arbeitet Beckmann in den Kapiteln 4 ›Verlegerische und Autor:innenschaftliche Paratexte als narrationskonstituierende und textstrukturierende Elemente‹, 5 ›Modus und Stimme: Perspektivierung, Fokalisierung und Mittelbarkeit der erzählenden Instanz‹, 6 ›Zur Gestaltung der Zeitstruktur‹ und 7 ›Handlung: Zu Form und Inhalt, dem „Was“ nationalhistoriografischer Narrationen‹ ab.

In seinem Schlusswort stellt Beckmann fest, dass Geschichtsschreibung Literatur ist. Sie „ist narrativ und folgt einer literarischen Ästhetik. Sie ist damit aber keine fiktionale Erzählung – trotzdem ist sie die Fiktion des Faktischen nämlich dann, wenn wir uns vor Augen führen, dass ein geschichtswissenschaftlicher Konstruktionsakt unter keinen Umständen die Wahrheit rekonstruieren kann, sondern eine mögliche vergangene Wahrheit re-konstruiert. Dabei gehen die Historiker:innen detektivisch-untersuchend vor und präsentieren ihre Interpretationen als argumentative Narration, die sie als wissenschaftlich nachprüfbare Erzählung präsentieren. Erzählen Historiograf:innen, bedienen sie sich (auch) klassischer – uns aus der Literaturwissenschaft bekannter – Erzähltechniken“ (Nicholas Beckmann S. 238).

ham, 21. März 2024

Kommentare sind geschlossen.

COPYRIGHT © 2023 Helmut A. Müller