Verlag C. H. Beck, München 2021, 4. Auflage 2021, 365 Seiten, 21 Abbildungen und 10 Karten, Softcover, Format 19,4 x 12,3 cm, € 16,95

Bei der Lektüre von Muriel Asseburgs 2021 in vierter Auflage erschienener prägnanter Geschichte Palästinas und der Palästinenser von der Nakba bis zur Gegenwart fragt man sich, ob dieser von Krieg, Vertreibung, Verlust, Exil und einem bis heute unerfüllten Streben nach nationaler Selbstbestimmung geprägte Überblick nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 mit seinen 1200 Toten auf israelischer Seite und seinen zwischenzeitlich 41 000 Toten auf der palästinensischen Seite infolge des israelischen Krieges gegen die Hamas anders ausgesehen hätte.

Die Staatsgründung Israels im Mai 1948 und der folgende Krieg sind als Nakba, als Katastrophe, in die arabische Geschichtsschreibung eingegangen, bei der Hunderttausende ihre Häuser, ihr Eigentum und ihre Heimat Palästina verloren haben. Mit Palästina ist das gleichnamige ehemalige britische Mandatsgebiet gemeint, das für die meisten Palästinenserinnen und Palästinenser wie auch für die jüdischen Israeli gleichermaßen vorrangiger territorialer Bezugspunkt bleibt, „obwohl die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO mit ihrer Unabhängigkeitserklärung von 1988 eine Zweistaatenregelung akzeptierte und Souveränität fortan lediglich in den 1967 von Israel besetzten Gebieten des Westjordanlandes, Ost-Jerusalems und des Gazastreifens beanspruchte. Im Zentrum der vorliegenden Betrachtung stehen daher nicht nur die Entwicklungen in den palästinensischen Gebieten, sondern auch solche, die Palästinenser in Israel sowie in der Diaspora betreffen“ (Muriel Asseburg, S. 10). Heute leben nach Asseburg rund 5 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser in den palästinensischen Gebieten, 1,6 Millionen in Israel und 6,7 Millionen in der Folge von Flucht, Vertreibung und Arbeitsmigration in anderen Ländern der Welt, insbesondere in den ölreichen Staaten am Persischen Golf.

Den bis heute kontrovers diskutierten Ein- oder Zweistaatenregulierungen stellt Asseburg am Ende ihrer Darstellung darüber hinausgehende Konföderationsmodelle gegenüber. „Konföderationsmodelle stellen eine Kompromissform dar, um nationale Identitäten und territoriale Ansprüche aufrechterhalten und gleichzeitig Wege der Kooperation finden zu können. Allerdings setzen auch sie palästinensische Souveränität voraus – und es ist nicht erkennbar, dass eine israelische Regierungskoalition in absehbarer Zeit bereit sein wird, diese zuzulassen. Angesichts der aktuellen politischen Kräfteverhältnisse stellen Einstaatenmodelle derzeit keine gangbare Lösung für den Konflikt dar: Entsprechende Vorschläge der israelischen Rechten würden nur den Status quo festschreiben. Die Dominanz des jüdischen und palästinensischen Nationalismus sowie damit einhergehende unvereinbare Identitätskonstruktionen (insbesondere der politische Zionismus und das palästinensische Streben nach Eigenstaatlichkeit) stehen der Realisierung eines binationalen Staates entgegen. Entsprechend lehnen laut Meinungsumfragen beide Bevölkerungen eine derartige Regelung bislang mit deutlicher Mehrheit ab. Auch die Führung in Ramallah hält an einer Zweistaatenregelung fest“ (Muriel Asseburg, S. 260).

In dem am 25. September 2024 aufgezeichneten Gespräch „Gibt es noch Hoffnung für den Nahen Osten?“ unterstreicht die Politologin und Nahostexpertin Asseburg, dass der 7. Oktober 2023 ein Schock und die tiefste Zensur für das Land seit seiner Entstehung gewesen ist (vergleiche dazu in ›pod und die Welt‹ unter https://www.youtube.com/watch?y=k4vr18jbq70). Er wurde in der jüdisch-israelischen Bevölkerung ganz überwiegend als antisemitisches Pogrom empfunden, das das kollektive Trauma der Shoah wiederbelebt hat. Asseburg glaubt, dass diese Dimension für das Verständnis dessen entscheidend ist, wie Israel mit seinem massiven Militäreinsatz, seiner weitreichenden Zerstörung nicht nur der Kapazitäten der Hamas und anderer bewaffneter Gruppierungen, sondern auch der zivilen Infrastruktur, von Wohnhäusern und der Vertreibung von 90 Prozent der Bevölkerung reagiert hat. Wir sehen im Gazastreifen jetzt auf ein Gebiet, das in großen Teilen auf absehbare Zeit unbewohnbar ist, vor extrem hohe Herausforderungen wie dem Ausbruch von Seuchen und Krankheiten steht und letztlich eine Antwort auf die Frage braucht, wie dieses Gebiet wieder aufgebaut und wie ein Weg aus der Gewalt gefunden werden kann. Solange die Sprache der Gewalt, der Vergeltung und der Entmenschlichung dominiert, sind die Konfliktparteien nach Asseburg aber nicht in der Lage, konstruktive Lösungen zu finden. Möglicherweise könnte eine andere Regierung einen gangbaren Weg finden.

Eine Chance sieht Asseburg darin, dass die Amerikaner, die Europäer und die arabische Kontaktgruppe an einem Strang ziehen und bereit sind, politisches Kapital einzusetzen, um zu einer Regelung zu kommen, eventuell eben auch durch militärische Präsenz, ein Engagement im Wiederaufbau, durch Sicherheitsgarantien und durch eine Normalisierung zwischen Israel und Saudi-Arabien. All das sind Elemente, die unter anderem auch in dem Plan, den Joe Biden vorgelegt hat, vorgezeichnet sind und die letztlich eine Selbstbestimmung für beide Völker ermöglichen würden. Hoffnung macht auch, dass in Israel und dem palästinensischen Staat Organisationen existieren, die daran arbeiten, dass es zu einer besseren Konfliktbearbeitung kommt und die an der Zusammenarbeit festhalten. Aber nach einem Jahr und drei Monaten Tod, Vertreibung, Hunger und Leid sind die Palästinenser erschöpft. Ihre Chance auf ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung wird immer kleiner. 

„›Vom Gazastreifen wird nicht mehr viel übrigbleiben‹, sagt ein Kenner des israelischen Militärs.

Israel ruft die Menschen im Norden Gazas auf, das Gebiet zu verlassen. Hilfslieferungen erreichen das Gebiet nicht mehr. Doch was ist das Ziel? Netanyahu hält sich bedeckt. Doch es kursieren radikale Pläne in Israel. Nord-Gaza ist abgeschottet. Auch telefonisch ist es fast nicht möglich, jemanden zu erreichen. Immer wieder schaltet Israel das Mobilfunknetz ab. Samih Ahmeds Stimme hören wir deshalb nur über Sprachnachrichten, die er uns sendet. Der 37-Jährige lebt mit seiner Familie in Jabalia, dem grössten Flüchtlingslager in Gaza, in dem Nachfahren der Flüchtlinge und Vertriebenen aus der Zeit der israelischen Staatsgründung wohnen. «Es ist so furchtbar hier», sagt Ahmed. «Ich möchte einfach bloss noch, dass jemand diesen Krieg beendet, egal wie.» (Ina Rogg am 30.11. 2024 in der Neuen Zürcher Zeitung: https://www.nzz.ch/international/vom-gazastreifen-wird-nicht-mehr-viel-uebrigbleiben-sagt-ein-kenner-des-israelischen-militaers-ld.1859595).

ham, 13. Januar 2025

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