Hatje Cantz Verlag, Ostfildern, 2105, ISBN 978-3-7757-4024-1, 184 Seiten, 101 Farbabbildungen, Leinen
gebunden, Format 29,6 x 24,6 cm € 49,80 (D)
Das bis heute in der Adventszeit gesungene Lied „O Heiland reiß den Himmel auf“ zeigt überdeutlich, dass sich sein Verfasser, der 1591 in Kaiserswerth geborene Dichter geistlicher Lieder, Jesuit, Seelsorger, Prediger und Autor der Kampfschrift gegen Folter und Hexenprozesse „Cautio criminalis“ Friedrich Spee von Langenfeld andere Verhältnisse als die in den Konfessionskämpfen, Pest- und Kriegszeiten auf Erden erlebten herbeigesehnt hat. „O Heiland, reiß den Himmel auf, / herab, herab vom Himmel lauf, / reiß ab vom Himmel Tor und Tür, / reiß ab, wo Schloß und Riegel für. … Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, / darauf sie alle Hoffnung stellt? / O komm, ach komm vom höchsten Saal, / komm, tröst uns hier im Jammertal. … Hier leiden wir die größte Not, / vor Augen steht der ewig Tod. / Ach komm, führ uns mit starker Hand / vom Elend in das Vaterland.“ (Friedrich Spee, 1622. Zitiert nach Evangelisches Kirchengesangbuch, Stuttgart 1996, S. 63). Ob der 1899 in Rosario, Argentinien geborene und 1968 in Varese, Italien gestorbene Lucio Fontana mit seinen durch Manifeste vorbereiteten und seit 1949 realisierte Raumkonzepten wie Spee den Himmel offen sehen wollte, ist zumindest offen, aber eher unwahrscheinlich. Seine zuerst in weiße Papiere und später vor allem in monochrome Bilder, aber auch in Skulpturen eingebrachten Löcher und Schnitte sollten den Bildraum öffnen, die Imagination der Betrachter für das sich frei entfaltende, unbegrenzte Kontinuum des Raumes schärfen und die Kunstwerke anfangsweise entmaterialisieren. Seine ab 1963 entstehende Serie „La fine de dio“ kann als Bekenntnis zum Nichts und zum Ende des Unendlichen, des Unfassbaren und Gottes gelesen werden, auch wenn er beim Durchstoßen und Durchschneiden der Leinwand darauf hofft, einen Schimmer des Absoluten zu sehen. Nach Giafranco Kardinal Ravasi soll er Journalisten, die ihn gefragt haben, warum er die Leinwand durchschneidet, wie folgt geantwortet haben: ‚Seht ihr denn
nicht, dass dies ein Schimmer ins Absolute ist? Ein Schritt über die Oberfläche hinaus? Dies also, glaube ich, ist Schönheit: den letzten Sinn erfassen, der in der Alltäglichkeit verborgen ist.“ (Lucio Fontana, zitiert nach einem Interview mit Giafranco Kardinal Ravasi. In: http://www.dbk.de/vorhof-der-voelker/die-initiative/paepstlicher-rat-fuer-die-kultur/)
Wenn der 1963 in Buenos Aires geborene und heute in Berlin lebende argentinische Künstler Miguel
Rothschild Kirchenfenster der Kathedralen von Notre – Dame de Paris, Chartres und Mallorca fotografiert, als Inkjet-Print auf schwarzem Hintergrund ausdruckt, die Fernster mit dem Papierlocher entlang dem Maßwerk perforiert, die ausgestanzten Löcher mit farbiger Folie hinterfängt und die neu entstehenden Bilder mitsamt dem angefallenen Konfetti in Glaskästen ausstellt, kann man sich fragen, ob er eher an Spee oder an Fontana anknüpft oder ob er schlicht neues Licht und frische Luft in die Kirchenräume bringen will. Wenn man Beatrice von Bismarck folgt, erlauben erst die Löcher die Anschauung im sakralen Sinne. „Als öffneten sie den Raum vor dem Bild auf dessen rückwärtige Gefilde hin, ermöglichen sie die >>Offenbarung<< , die der Reihe ihren Titel gibt. Und ganz als benötigte diese himmlische Perspektive den irdischen Fall als ihr konstitutives Gegenüber, liegen die ausgestanzten konfettiartigen Punkte am Boden - vielfarbig, melancholisch, notwendige kollaterale Opfer im Dienste der Erleuchtung. Nichts weniger als der Raum zwischen Himmel und Erde ist es, den Miguel Rothschild mit seinen Arbeiten durchmisst. Hier, zwischen Sakralem und Profanem, Göttlichem und Irdischem, siedelt er seine Bildsprache an“ (Beatrice von Bismarck, Fallen und gefallen oder zwischen Himmel und Erde S. 171). Der 2011 entstandenen Serie ,Offenbarung’ gehen unter anderem eine Serie über den Heiligen Sebastian aus den Jahren 1996 - 2001 voraus, der bei Rothschild nicht nur von Pfeilen, sondern auch von ihm mit dem Papierlocher zugefügten Löchern durchbohrt ist. Weiter eine Serie von Collagen über die Entstehung des Weltalls, in der die sich gerade eben konfigurierenden Sterne in der Arbeit ,Big Bang’ durch die aus Comicstrips ausgeschnittenen Wörter „Neu“ und „New“ und in anderen Arbeiten durch Nadeln und Nägel ersetzt sind. Und 2012 - 2104 die Serie ,Birds’, in der Darstellungen des Heiligen Geistes aus Gemälden alter Meister die Vögel aus Alfred Hitchcocks Film ,The Birds’ ersetzen. 2012 und 2013 folgen Arbeiten, in denen Angelschnüre aus den aus den Kirchenfenstern ausgestanzten Löchern herauswachsen und 2013 die noch nicht abgeschlossen
Werkgruppe „Memento mori“, in der die zu erwartende Alterung des Fotopapiers auf den Papierabzügen der Fotografien simuliert ist. Dazu kommen Arbeiten wie die Arbeit ,Jesus Safes’ von 2010, in der der nächtliche Himmel über der roten Leuchtreklame, die der Arbeit den Titel gibt, perforiert ist, die Arbeit , Gloria’ von 2013, in der die Vorderfront des Kinos gleichen Namens, aber nicht sein Eingang durchlöchert ist, Elegy I und II von 2013, in denen Bleichmittel gelbbraunen Streifen wie einen Regenschauer in den wolkenverhangene Nachthimmel eingebrannt haben und schließlich diverse Skulpturen wie die aus leeren Lebensmittelbehältern gebaute raumfüllende Skulptur ,Experience Utopia’ von 2005.
„Ganz unabhängig von ihrem Medium öffnen sich Rothschilds Arbeiten in den Raum. Nicht nur mit Nägeln,
sondern auch Löchern, Fäden, Haaren, Strohhalmen oder Pflastern, mit doppelten Glasschichten und
Holzrahmungen verbindet er die Oberflächen seiner Bildobjekte mit davor oder dahinter liegenden
Bereichen. Sie strecken sich aus bis zu den Füßen der Betrachtenden, suggerieren Hinterzimmer des
Bildraums, eine Lichtquelle auf der Rückseite des Gezeigten. Sie bestehen darauf, das nie eine Fläche allein, sondern stets in Kombinationen auftritt, um sich so schließlich doch jeweils zu einem räumlichen Gebilde zusammenzusetzen. Es sind Metaphern, mit deren Hilfe Vordergründiges untrennbar mit Abgründigem, Hintersinnigem oder Entrücktem verkoppelt wird“ (Beatrice von Bismarck S. 172). Dass der Reigen der Annäherungen an das inspirierende Werk Rothschilds noch lange nicht abgeschlossen ist, zeigt nicht zuletzt der Text, mit dem der Verlag für seine rundum gelungene Publikation wirbt. Nach diesem Text ist Rothschild „nichts heilig“. Er „spielt gerne mit Versatzstücken aus der Kirchengeschichte und mit Wahrnehmungsgewohnheiten … Selbst den Urknall stellt er aus Symbolen und Zeichen … auf bemalter Leinwand nach - am Anfang war das Wort? Erfrischend respektlos eignet sich Rothschild kunsthistorische Ikonen an, befreit sie von Status und Rolle und setzt dabei auf die subversive Kraft des Lachens“. Man kann, aber muss sich auch diese Interpretation nicht zu eigen machen, sollte aber das sich noch weiter ausfaltende Werk Miguel Rothschilds unbedingt weiter verfolgen. Wenn man es noch nicht kennt, gehört es zu den wenigen Entdeckungen, die man noch machen kann.
ham, 7.11.2015
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