Aus dem Englischen übersetzt von Ursula Wulfekamp und Matthias Wolf

Schirmer/Mosel München, 2014, 345 Seiten, zahlreiche Illustrationen, Hardcover, gebunden, mit Schutzumschlag, Format 28 x 21,5 cm, Jubiläumspreis zum 40. Schirmer/Mosel-Geburtstag 25,00 €

Als Johann Wolfgang von Goethe am 24. April 1819 an Friedrich von Müller schrieb: „Man sieht nur, was man weiß. Eigentlich: Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht“ (an Friedrich von Müller, Schriften zur Kunst, Propyläen, Einleitung, zitiert nach: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Zürich und Stuttgart 1948 ff. Band 13, S. 142), hat er weder Antoine de Saint-Exupérys 1943 in New York erschienenen „Der Kleine Prinz“ noch dessen Ausspruch „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“ kennen können. Aber er hätte sich mutmaßlich mit Saint Exupéry darüber einig werden können, dass es ein erhebliches Hintergrundwissen braucht, um in der Tiefe zu verstehen, was man sieht.

Dem könnte wohl auch der 1939 in New York geborene Kunstkritiker und Professor für Kunstgeschichte an der John Hopkins University in Baltimore Michael Fried zustimmen, auch wenn er sich bei seinem Verständnis von Sehen und Verstehen weder auf Goethe noch auf Saint Exupéry, sondern auf Philosophen wie Kant, Hegel, Heidegger und Wittgenstein und Robert B. Pippin beruft. 

Fried hat sich zwar schon immer für Photographie interessiert und ab seinen Vierzigern Photographien von Berenice Abbott, Walker Evans, Édouard Baldus, Francis Frith und Timothy H. O’Sullivan gekauft, in seiner Wohnung aufgehängt und viele Fotoausstellungen besucht, „wenn auch nicht mit derselben Euphorie wie Ausstellungen moderner Kunst und Skulptur. Doch bis vor Kurzem löste die Photographie keine entscheidenden Impulse bei mir aus, und ohne derartige Impulse – eine Art Erweckungserlebnis, ob nun real oder eingebildet – hatte ich nie das Bedürfnis, mich schriftlich über ein Thema einzulassen“ (Michael Fried, S. 1). Dann lernte er James Welling kennen und ist Jeff Wall begegnet und mit ihm in einen ihn elektrisierenden persönlichen Austausch gekommen.

 Von da an beschäftigte er sich ernsthaft mit neuerer Photographie und sah in bedeutenden Ausstellungen Werke von Welling, Wall, Andreas Gurksy, Thomas Struth, Bernd und Hilla Becher, Thomas Demand, Rineke Dijkstra, Candida Höfer, Hiroshi Sugimoto, Luc Delahaye und anderen Photokünstlern. „Zu meiner eigenen Überraschung packte mich bald der Gedanke, dass all diese Arbeiten – und viele mehr – auf eine Art und Weise künstlerisch zusammenhingen, die meines Wissens bis dahin noch keinem Kunsthistoriker aufgefallen war. So begann ich ein – wie ich dachte – kleines Büchlein zu konzipieren, in dem ich meine Überlegungen zur neueren ›Künstlerischen Photographie‹ darlegen wollte. Allerdings wurde mir bald klar, dass es mit einem schmalen Bändchen keineswegs getan wäre. Um meinem Thema wirklich gerecht zu werden, würde ich mich ausführlich mit über fünfzehn Photographen (und, wie sich herausstellen sollte, auch mit Video- und Filmemachern) beschäftigen müssen, um zu verdeutlichen, was jeden von ihnen ausmacht, und gleichzeitig Verbindungen aufzuzeigen, die ich zwischen ihren jeweiligen Projekten sah. Eben dies versuche ich nun im vorliegenden Buch“ (Michael Fried a. a. O.).

Im ersten Kapitel werden die Anfänge der neueren künstlerischen Photographie durch die Postionen von Hiroshi Sugimoto (vergleiche dazu Hiroshi Sugimoto, U.A. Walker, New York, 1978 in https://www.artsy.net/artwork/hiroshi-sugimoto-ua-walker-new-york-1980 und https://de.wikipedia.org/wiki/Hiroshi_Sugimoto), Cindy Sherman (vergleiche dazu Untitled Film Still #53, 1980, reprinted 1998, Cindy Sherman in https://www.tate.org.uk/art/artworks/sherman-untitled-film-still-53-p11519 und https://de.wikipedia.org/wiki/Cindy_Sherman), Jeff Wall (vergleiche dazu Jeff Wall, The Destroyed Room, 1978 in https://artlead.net/journal/modern-classics-jeff-wall-destroyed-room-1978/ und https://de.wikipedia.org/wiki/Jeff_Wall), Thomas Ruff (vergleiche dazu Thomas Ruff, Portrait Bernd Jünger⟩ in https://www.sothebys.com/en/buy/auction/2020/photographs/thomas-ruff-untitled-bernd-junger-1985), Stephen Shore (vergleiche dazu Holden Street, North Adams, Massachusetts, July 13, 1974 in https://www.moma.org/audio/playlist/45/708 und https://de.wikipedia.org/wiki/Stephen_Shore) und Jean-Marc Bustamante (vergleiche dazu Tableau 

No. 58 ,1982, by Jean-Marc Bustamante in https://www.swissre.com/about-us/art-at-swiss-re/artworks/bustamante-KB0722-tableaux.html und Jean-Marc Bustamante  https://de.wikipedia.org/wiki/Jean-Marc_Bustamante) markiert. Im zweiten Kapitel werden Jeff Walls Werk Adrian Walker (vergleiche dazu  https://www.galerie-schoettle.de/de/kuenstler/JeffWall/ und https://mediarep.org/server/api/core/bitstreams/62ea2398-3fd0-4ba8-a870-89db935a7ae9/content), Aspekte der Versunkenheit und Martin Heideggers Verständnis von Weltlichkeit und Technik behandelt, im dritten Kapitel Jeff Wall, Wittgenstein und das Alltägliche (vergleiche dazu Jeff Wall, Morning Cleaning unter https://www.kunstsammlung.de/de/collection/artists/jeff-wall). Das vierte Kapitel widmet sich Roland Barthes’ Konzept des punctum. Im fünften Kapitel werden Thomas Struths Museumsbilder untersucht, im sechsten verschiedene Werke von Thomas Ruff, Andreas Gurksky und Luc Delahaye. Dazu kommt eine Erörterung von Jean-François Chevriers Beschreibung der neuen Tableau-Form. Die weiteren Kapitel befassen sich unter anderem mit Photoportraits, der Straßenphotographie, den Werken von Thomas Demand, Candida Höfer, Hiroshi Sugimotos „Seascapes“, Struths „Paradise“-Photos, Bernd und Hilla Bechers Typologien (vergleiche dazu Bernd & Hilla Becher – Typologien (*SA),unter https://www.artbooksonline.eu/art-61758).

In seinem Schlusskapitel begründet Fried, warum der Philosophie bei der Interpretation der neueren Photographie seiner Meinung nach eine tragende Rolle zukommt. Demnach kommentieren Heideggers Gedanken zu Weltlichkeit, Sorge und Technik sowie Wittgensteins und Stanley Cavells Überlegungen zum Alltäglichen zentrale Aspekte bestimmter Photographien von Jeff Wall, weil Themen wie die Versunkenheit, das Nicht-Gewahrsein der Komposition des Bildes und das „fast Dokumentarische“ und Alltägliche, die er in seinen Photographien anspricht, sowie bestimmte Aspekte ihres Inhalts wie die allmorgendliche Arbeit des Fensterreinigers keine andere Wahl lassen, als ihre Implikationen bis in die betreffenden philosophischen Texte hinein auszuloten. Dasselbe gilt für seinen Rückgriff auf Wittgenstein, mit dem er die Verschlossenheit von Struths Museumsbildern zu ergründen sucht. Seinen Verweis auf Hegel begründet Fried so: „Was meinen Verweis auf Hegel betrifft, auf Pippin über Hegel, auf das ›wahre‹ oder ›echte‹ Unendliche im Gegensatz zum ›falschen‹ Unendlichen und die allgemeinere Problematik der Individualität von Objekten und ihrer inneren Gegensätzlichkeit untereinander sowohl in Hegels Wissenschaft der Logik (1812–1816) als auch in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, um mich dem Werk der Bechers zu nähern, so mag diese Assoziation vielen Lesern auf den ersten Blick als weit hergeholt erscheinen. Aber wieder erweist sich als die eigentliche Frage, ob nicht eben dieser Rahmen einem ermöglicht, die Tiefen dessen auszuleuchten, was das Werk der Bechers ausmacht, und zwar so große Tiefen wie nie zuvor. Damit meine ich das Verständnis für die ›innere‹ Beziehung ihrer ›Typologien‹ sowohl zur minimalistischen/literalistschen Intervention […], als auch zu den ontologischen Belangen, auf die sie sich in Gesprächen immer wieder bezogen […]. Bedenkt man dann noch die Unterscheidung zwischen ›dem Einzelnen‹ und ›dem Gegenstand‹, wie Wittgenstein sie 1930 traf, und seine Überlegungen von 1916, man müsse Objekte mit Raum und Zeit sehen und nicht in Raum und Zeit, so steht eine ungemein komplexe Matrix zur Verfügung, innerhalb derer man die […] Arbeit der Bechers erforschen kann. 

Hier möchte ich noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass eine auf diese Art verstandene Photographie als ontologisches Medium  gesehen werden kann, was auch heißt, dass die von mir beleuchteten Œuvres durch ontologische Gedanken nicht nur beleuchtet werden, sondern selbst einen positiven Beitrag zu dieser  Gedankenwelt leisten“ (Michael Fried S. 363 f.). 

ham, 20. Juni 2024

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