Wissenswertes über den aktuellen Kunstmarkt- von einem internationalen Experten erzählt
Prestel Verlag, München, 2012, erweiterte Neuausgabe 2022, ISBN: 978-3-7913-8908-0, 280 Seiten, 72 farbige und 11 s/w Abbildungen, Hardcover mit Schutzumschlag, Format 24,5 x 17,5 cm,
€ 26,00 [D], € 26,80 [A] | CHF 35,50
Wer wie der 1945 in Dunoon, UK geborene Kunsthändler Michael Findley vor fast 60 Jahren in Soho als einer der Ersten Sean Scully, Stephen Mueller, Hannah Wilke, Joseph Beuys und John Baldessari vorgestellt, im Auktionshaus Christie’s intime Einblicke in die Welt der Kunst sammelnden Schönen und Reichen gewonnen, als Direktor der auf den Impressionismus, die europäische Moderne und die amerikanische Malerei und Skulptur der Nachkriegszeit spezialisierten Acquavella Galleries in New York Lucien Freud und James Rosenquist gezeigt, Miquel Barcelo repräsentiert und große Leihgabenausstellungen aus Museen und Privatsammlungen wie „Picassos Marie-Thérèse“ präsentiert hat, hat etwas zu erzählen (vergleiche dazu https://www.michaelfindlay.com/about und https://www.amazon.de/stores/author/B006T8UWLE/about).
Findlay setzt mit folgendem Statement der amerikanischen Sammlerin Emily Hall Tremaine ein, der er „Die schwarze Rose“ von Georges Braque verkauft hat, kurz nachdem das Bild entstanden und sie noch nicht einmal dreißig war. „Jeder Sammler wird von einem der drei Motive angetrieben: von wahrer Liebe zur Kunst, von guten Investitionsmöglichkeiten oder von gesellschaftlichen Verheißungen. Bisher lernte ich keinen kennen, bei dem alle drei eine gleich große Rolle spielten. Um echte Freude und Genugtuung zu erleben, muss die Liebe zur Kunst am stärksten sein. Dennoch würde ich niemandem Glauben schenken, der behauptet, nicht auch am Marktwert seiner Bilder interessiert zu sein. Gesellschaftlich gesehen führt das Sammeln von Kunst zu nicht enden wollender Befriedigung. Unser Interesse brachte uns von Rom bis Tokio unerwartete und unglaubliche Erlebnisse und Freunde ein, wobei letztere ebenso lebendig, fantasievoll und strahlend wie die Kunst sind, die sie sammeln“ (Emily Hall Tremaine, a. a. O. 10). Damit sind der Ton und die gesellschaftliche Ebene gesetzt, auf der Findlay gehandelt, gekauft und verkauft hat.
Wie Tremaine hält auch Findlay den essentiellen Wert der Kunst hoch, sieht aber, dass sich die Kunst nach der Weltfinanzkrise 2008 fest in der Welt der Banken, der Kanzleien, der Unterhaltungsindustrie und in der Modewelt eingenistet und ihr kommerzieller und sozialer Wert exponentiell zu- und ihr essentieller Wert abgenommen hat. Kurz vor dem Zusammenbruch von Lehman Brothers am 15. September 2008 hatte „Sotheby´s Auktionator Oliver Barker den Hammer für eine beispiellose zweitägige Versteigerung von beinahe dreihundert Werken aus den Ateliers von Damien Hirst zu schwingen. Es wurde ein unglaublicher Erfolg, der über 200 Millionen Dollar einbrachte. Besonders symbolhaft scheint hierbei das Starobjekt »Das goldene Kalb« zu sein, ein weißer Ochse in Formaldehyd, mit Hufen, Hörnern und Heiligenschein aus 18-karätigem Gold. Es wurde für 18,6 Millionen Dollar verkauft und von Sebastian Falk in seinem Roman »Week in December«als Cashcow von einem gewissen Liam Hogg verewigt. Das Buch schildert die Tricksereien der Finanzwelt in London und New York, wobei es die Auktion zehn Monate vor den Zusammenbruch setzt. Viele der Hauptprotagonist:innen treffen sich dabei auf der Vernissageparty. »›Ich habe noch immer keinen getroffen, der nicht in Wirtschaft macht‹, knurrte Luce Topping. ›Die halbe verdammte Hedgefond-Industrie scheint nach der Arbeit aus Mayfair herübergekommen zu sein.› »
Warum war die Hirst-Auktion ein solcher Erfolg, wenn die globale Wirtschaft außer Kontrolle geriet? Optimist:innen hielten die Kunst für eine Investitionsmöglichkeit von Kapital, das der Unsicherheit des Aktienmarktes entrissen werden sollte. Pessimist:innen verbuchten es als den letzten Atemzug des Superhypes. Sowohl Sotheby´s als auch Hirst hatten die Auktion mit verschwenderischen Werbeaktionen und weltweiten VIP-Galas zuvor gnadenlos beworben. Zudem ging das Gerücht um, dass sie Finanzierungsmöglichkeiten geschaffen hatten, die es zuvor nie gegeben hatte“ (Michael Findlay, S. 167 f.).
Nach einem kurzen Einbruch hat sich der Kunstmarkt schon 2010 erholt. Im Juni 2009 wurde eine Bronze von Rodins klassischem ›Denker‹ auf einer Pariser Auktion für 3 577 322 Dollar verkauft. Nicht einmal ein Jahr später hat sie der Käufer für 11 842 500 Dollar weiterverkauft. Auch der Wert für wichtige Werke von Warhol stieg gegen Ende 2009 und in 2010 an: „Airmail Stamps“ (1962), ein kleines Gemälde, das 2005 für 1 024 000 Dollar und 2007 für 1 364 500 den Besitzer gewechselt hatte, brachte im Mai 2010 3 890 500 Dollar ein“ (Michael Findlay, S. 175 f.).
In seinem Kapitel über den Wert der Kunst im Cyber-Zeitalter kommt Findlay auf Loïc Gouzer zu sprechen, der 2017 den spektakulären „Salvator Mundi“-Verkauf für unfassbare 450 Millionen Dollar eingefädelt und die Idee des Miteigentums an NFTs propagiert hat (vergleiche dazu https://www.instagram.com/loicgouzer/?hl=de und https://www.monopol-magazin.de/loic-gouzer-verlaesst-christies). „Loïc Gouzer kann so viele Miteigentums-NFTs verkaufen wie Johannes Tetzel Ablässe zu Zeiten Martin Luthers. Der Unterschied liegt darin, dass NFT-Eigentümer:innen mit ihren Käufen auf ihren Smartphones prahlen und den jeweiligen hedonistischen Wert genießen können. Einen größeren Nervenkitzel beschert ihnen die Hoffnung, dass Gouzers NFT-Auswahl deutlich besser abschneidet als ein Lottoschein um die Ecke […].
Kunstsammler.innen, die mehr von Macht als von Schönheit getrieben werden, prahlen gern, wenn sie bereits früh in einer künstlerischen Karriere vom Erwerb bestimmter Werke profitieren. Doch war es guter Geschmack, Voraussicht oder reines Glück, was 2017 zum Kauf von ›CryptoPunk # 5822‹ für eine Summe zwischen einem und 34 Dollar führte, um das NFT dann im Februar 2022 für 23 Millionen US-Dollar weiterverkaufen zu können? Ist eine solche Votalität nachhaltig oder gar gesund? Natürlich nicht. Man nennt den Prozess des Hinzufügens von Transaktionen zur Blockchain (wie die ihrer NFT-Käufe) »Mining«, was in mehrerer Hinsicht zutreffend ist, wenn man an den virtuellen Goldrausch des 21. Jahrhunderts denkt. Noch ist es zu früh, um klare Antworten geben zu können. Es gibt nicht nur kein System, das nicht gehackt werden könnte. Es gibt ein System, das bewusst entworfen wurde, um es der Kontrolle und Regulierung durch den Staat zu entziehen; früher oder später wird es diesen Kontrollen genau deshalb nicht mehr entgehen“ (Michael Findlay, S. 201).
„Onlineverkäufe nahmen zwischen 2013 und 2019 stetig zu und erreichten weltweit eine Summe von 6 Milliarden US-Dollar. 2020, als die Pandemie herrschte, verdoppelte sich dieser Betrag auf 12,4 Milliarden US-Dollar. Der […] Kulturökonomin Clare Mc Andrew zufolge »nahm der Anteil der Online-Verkäufe 2019 um 9 Prozent zu, 2020 um 25 Prozent«“ (Michael Findlay, S. 211).
Am 2. Mai 2015 schloss ich mit der in Hongkong lebenden Künstlerin Wong Kit Yi einen Onlinevertrag, um eines von 24 Kunstwerken zu erwerben, die sie während eines zweiwöchigen Stipendienaufenthalts am Nordpol im darauffolgenden Oktober anfertigen wollte. Meine Familie half mir, eine Reihe von Entscheidungen online zu treffen, auf deren Basis ein Algorithmus den Preis für die Arbeit errechnen sollte. Ich musste einen bestimmten Tag und eine Uhrzeit festlegen, wann die Künstlerin unser Werk schaffen sollte, sowie mich zwischen verschiedenen auffallend seltsamen Worten und Farben aus einer Liste entscheiden. Es war möglich, unterschiedliche Antworten durchzuspielen, die verschiedene Preise nach sich zogen (allesamt relativ bescheiden). Wir einigten uns schließlich auf ein Werk, das am Morgen des 10. Oktober entstehen sollte, auf das Wort »lollygagging« – trödeln – und die Farbe »Carried away«. Ich unterzeichnete einen detaillierten Onlinevertrag, zu dem auch Klauseln hinsichtlich des Versäumnisses der Künstlerin gehörten, ihr Werk abzuliefern, sowie eine Vereinbarung, dass ein prozentualer Teil des Preises einer Stiftung zugutekommen würde. Ich bezahlte online mit meiner Kreditkarte […].
Mein Werk von Wong, in dem Video, Fotografie, Text und Performance zusammenkommen, wurde 2017 im Rahmen von North Pole Futures in der immer wieder namens- und ortsändernden K Gallery ausgestellt. Die Galerie gehört Prem Krishnamurthy, befand sich damals in Manhattens Lower East Side und ist momentan in Berlin zu finden. Die Künstlerin nannte es großzügig eine »Gruppen«-Ausstellung, um so auf den Beitrag ihrer 24 Mäzen:innen zu verweisen. Wongs Einsatz von Technologien ist für mich dabei weniger faszinierend als ihre eigenwillige Vorgehensweise, die etablierte Kunstweltsysteme fundamentaler kippt als jedes NFT. Sie arbeitet mit ihrer eigenen »unabhängigen Kuratorin« namens Ali Wong, die denselben Körper bewohnt wie sie selbst, und bedient sich verschiedner Medien, wobei sie immer wieder tief in Forschungsgebiete eintaucht, seien diese soziologisch, mythologisch, ökologisch, ökonomisch oder juristisch. Ich erwarb ein weiteres ihrer Werke, indem ich einen 99 Jahre dauernden Pachtvertrag unterzeichnete, dessen sieben Seiten in flüssiger DNA chiffriert wurden und in meinem Kühlschrank lagern“ (Michael Findlay, S. 228 f.; vergleiche dazu https://www.instagram.com/wong_kit_yi/).
Im 20. Jahrhundert war der Wert der Kunst durch Markenbildung geprägt. Bewegung und Stile wurden national definiert, so etwa der italienische Futurismus. Es war nicht immer der erste seiner Art, der zum Bestseller wurde. So schuf der schottische Künstler Eduardo Paolozzi 1947 das erste Pop-Art-Werk (vergleiche dazu https://www.artlex.com/de/kunstler/eduardo-paolozzi/), aber deutlich berühmter wurde 15 Jahre später Andy Warhol mit seinen Campbell-Suppendosen (vergleiche dazu https://www.singulart.com/de/blog/2018/08/14/campbells-soup-cans-von-andy-warhol/). „Heute überholen auf dem Kunstmarkt Race und Gender die Frage der Nationalität. Seit 2015 liegt ein Interessenfokus des Kunstmarkts auf BIPOC-Künstler:innen – männlich, weiblich oder non-binär. Der Kunstbetrieb hängt vorrangig vom Vermögen weißer privilegierter Menschen ab, wird sich aber immer bewusster, dass die an Kunst Beteiligten diverser werden […]. Ob alt, weiß und männlich oder jung, schwarz und non-binär: Basis der Kunstgeschichte und Treibstoff des Kunstmarkts ist »Das Porträt des Künstlers« – wortwörtlich oder als narrative Begleitung zum Werk. Es hilft, unverwechselbare körperliche Merkmale zu haben (Vincent van Goghs Ohr oder Salvador Dalís Schnurrbart) und wie Warhol oder Basquiat filmreife Lebensgeschichten vorweisen zu können. Natürlich sind sie hochtalentierte, große Künstler, deren Werke die Seelen und Herzen vieler berühren. Aber ihre persönlichen Merkmale verhelfen ihnen zu einer Marke, die unweigerlich leichter zu beschreiben ist als ihre Kunst“ (Michael Findlay, S. 234 ff.).
Gruppen wie ‚ruangrupa‘ (vergleiche dazu https://universes.art/de/documenta/2022/ruangrupa) und Künstler wie David Scott fordern mit Arbeiten wie ‚White Male for Sale‘ (vergleiche dazu https://www.dreadscott.net/portfolio_page/white-male-for-sale/) den Markt und die Gesellschaft heraus. Scotts Endlosvideo zeigt einen jungen weißen Mann mitten auf einer Geschäftsstraße in Brooklyn, der an die Sklaverei erinnert. „Scott hat es als NFT bewusst für den Verkauf auf einer Auktion geschaffen […]. Für Scott besteht das Werk nicht nur aus einem Video-Loop, sondern auch aus der Aufzeichnung, wie es am 1. Oktober 2021 bei Christie´s versteigert wurde (so wie auch Sklaven versteigert wurden). Dadurch wurden sowohl das Kunstwerk als auch der Verkauf zur Botschaft.
Künstler:innen, die weitgehend außerhalb des etablierten Kunstmarktsystems arbeiten, erobern ein neues Territorium für das Ausüben von Kunst – ein Territorium, zu dem die Cyberwelt ebenso gehört wie das Erkunden sozialer Kräfte, die uns spalten und unseren Planeten bedrohen. Letztlich besteht der Wert ihrer Kunst […] darin, in welchem Maß sie uns erkennen, nachdenken und empfinden lässt […].
Schönheit mag augenblicklich ein seltsam altmodisches Wort sein, um den eigentlichen Wert von Kunst zu beschreiben. Doch ich würde vorschlagen, dass Sie sich an Paris ein Beispiel nehmen und das wählen, was Ihnen gefällt – was Ihre Sinne anregt und nicht allein Ihren Verstand (vergleiche dazu https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Rubens_-_Judgement_of_Paris.jpg).
Zwischen dem kommerziellen und dem gesellschaftlichen Wert von Kunst gibt es eine Symbiose. Schließlich reden viele gerne davon, wie viel etwas kostet. Den wesentlichen Wert von Kunst genießt man jedoch besser im Privaten. Um ihn zu erleben, müssen wir Kommerz und Gesellschaft einen Moment lang beiseite lassen und wieder lernen, uns auf das zu konzentrieren, was wir vor Augen sehen“ (Michael Findlay S. 258 ff.).
ham, 15. Juli 2024