Band 64 der Reihe Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung

Verlag Walter de Gruyter, Berlin/Boston, 2020, ISBN: 9783110693058, 592 Seiten, Hardcover, gebunden, Format 23,2 x 16,2 cm, 149,50 €

Als die 1953 in Wien geborene und an der University of Pennsylvania Literatur und Kulturwissenschaftlerin lehrende Liliane Weissberg gebeten wurde, ohne Verweis auf Kants berühmte Formulierung zu definieren, was Aufklärung ist, hat sie so geantwortet: „Im 18. Jahrhundert wurde das moderne Individuum konzipiert, der Mensch, der freiheitlich denken und handeln kann. Darauf bauten die Aufklärer einen Komplex von Ideen auf und erhoben Forderungen, für die ich bis heute einstehen möchte: Gleichheit, Menschenrechte, Emanzipation, Redefreiheit. Allerdings haben die Philosophen und Politiker der Aufklärung diese Ideale nicht immer widerspruchsfrei formuliert, geschweige denn umgesetzt. Die Geschichte der Aufklärung ist darum die Geschichte der verpassten Chancen. Deshalb ist sie bis heute aktuell“ (Liliane Weissberg, »Ordnen kann auch gefährlich sein« – Was bleibt von der Aufklärung? In: DIE ZEIT № 44, 17. Oktober 2024, S. 49). So wollte Kant, dass sich Menschen emanzipieren, aber er hat nicht an Frauen gedacht. Und Thomas Jefferson hat in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung die Gleichheit aller Menschen proklamiert, aber selbst 600 Sklaven gehalten. 

Auch Maximilian Lässig stellt sich in seiner von der Universität Trier angenommenen philosophischen Dissertation zur radikalen Aufklärung in Deutschland die Frage, welchen Begriff von Aufklärung er verwenden soll, da das Phänomen vielfältige Antworten zulässt. Er erinnert dann anders als Weissberg an Immanuel Kants Antwort auf die von Johann Friedrich Zöllner (1753 – 1804) 1783 in der Berliner Monatszeitschrift aufgeworfene Frage, was Aufklärung sei. „Bekannt ist dieser Text […] durch die schon fast sprichwörtlich gewordene Definition von Aufklärung als ‚Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit‘. Er gipfelt in dem Appell an seine Leser: ‚Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!’. 

Die beim ersten Lesen sehr positiv wirkenden Aussagen entwickeln auf den zweiten, vor allem über die erste Passage hinausreichenden Blick einen bitteren Beigeschmack: Nicht nur ist die Schuld – und damit die Verantwortung – für ihre Unmündigkeit alleine bei den Menschen selbst zu suchen. Auch können sie nach Kant den Mut nicht aufbringen, dies zu ändern oder sind schlicht durch ‚Faulheit und Feigheit’ nicht dazu in der Lage. Kant nennt zwar ‚Vormünder‘, die diese Menschen wie ‚ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht‘ hätten. um danach Sorge zu tragen, dass sie aus Angst unmündig blieben, indem sie ‚ihnen nachher die Gefahr [zeigen], die ihnen drohet, wenn sie es versuchen allein zu gehen‘. – Dennoch bleibt die alleinige Verantwortung der fehlenden Aufklärung beim Menschen selbst zu suchen und nicht bei den Vormündern“ (Maximilian Lässig, S. 1 f.). Auch KantsVerständnis von Freiheit ist widersprüchlich. Er betont zwar, dass zur Aufklärung nichts anderes erforderlich sei als Freiheit. Aber er schließt ihren öffentlichen Gebrauch aus und schränkt ihn auf den Privatgebrauch ein. Die Grundvoraussetzung für Aufklärung, die Freiheit, besteht nur solange, wie der Landesherr sie gewährt.

Nach der Darstellung der Lebensläufe und Konzepte der radikalen Aufklärer Johann Christian Schmohl (1756 – 1783; vergleiche dazu https://www.mz.de/kultur/johann-christian-schmohl-der-verschollene-im-bermudadreieck-2018719), Karl von Knoblauch (1756 – 1749; vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_von_Knoblauch) und Andreas Riem (1749 –1814 ; vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Andreas_Riem) kommt Lässig nach 540 Seiten zum Ergebnis, dass es kein einheitliches Konzept einer radikalen Aufklärung gab, sondern viele verschiedene aufgeklärte Positionen, die trotz ihrer Unterschiede jeweils für sich Radikalität beinhalten. „Hierdurch ist es auch auf der Ebene einzelner Themen nicht möglich eine radikale Religionskritik, Gesellschaftskritik oder Kritik der zeitgenössischen Politik als einheitliches, alle drei Aufklärer verbindendes Konzept herauszuarbeiten. Freilich lassen sich in den Schriften Parallelen ausmachen, welche sich jedoch plausibler aus dem jeweiligen Diskurs des entsprechenden Themas erklären lassen und somit keinen Hinweis auf eine einheitliche Konzeption oder ein gemeinsames Ziel dieser Aufklärer geben“ (Maximilian Lässig, S. 541). Auch die Bestimmung ihrer positionellen Radikalität verlangt immer eine direkte Relation zum jeweiligen Thema.

So kann in Bezug auf die Religion nicht die einfache Frage gestellt werden, ob sich ein Aufklärer als Gegner der Religion verstand, um seinen Aussagen das Label‚radikal‘ zu verleihen. „Nach diesem Verständnis wären lediglich Karl von Knoblauchs religionskritische Schriften mit entsprechender Eindeutigkeit als ‚radikal‘ anzusehen, da er schließlich ausnahmslos alle religiösen Vorstellungen für die Menschen als schädlich und gefährlich erachtete. Andreas Riem sprach sich hingegen für eine philosophisch ‚geläuterte’ Religion aus und empfahl hierbei seine eigene ‚reine‘ Religion: Durch sie würde einerseits das eventuell vorhandene menschliche Bedürfnis nach religiösen Vorstellungen befriedigt und andererseits die menschliche Moral durch die philosophische Reinheit seiner Religion nicht negativ beeinflusst. Wäre nun das das Ablehnen jeglicher Religionsvorstellungen die Voraussetzung für eine radikale Religionskritik, dürfte Riems Philosophie nicht darunter gezählt werden. Da sich jedoch Riems wie auch Knoblauchs Aussagen deutlich gegen eine herkömmliche, von den monotheistischen Religionen vertretene Vorstellung von Religion wandten und Riems Konzept einer ‚reinen‘ Religion nicht dem unter Aufklärern populären Deismus entsprach, beinhalten beide Ausführungen eindeutig Radikalität“ (Maximilian Lässig, S. 542). Johann Christian Schmohls Ausklammerung und ‚Schonung‘ der Religion lässt sich auf sein konsequentes Toleranzverständnis und seine Überzeugung von der absoluten Subjektivität menschlicher Meinungen zurückführen: Indem die Subjektivität die Grundlage von Schmohls Gefühlsreligion darstellt, wird einem dogmatischen Anspruch auf absolute Gültigkeit quasi per definitionem widersprochen. In der Folge ist die Religionskritik der drei Aufklärer dann radikal, wenn sie die allgemein akzeptierte monotheistische Religionsvorstellung durch ein alternatives, mit aufgeklärten Prinzipien vereinbares Konzept ablösen will, das sich deutlich von einer auf absolute Gültigkeit pochenden Religion absetzt.

Dieses differenzierte Konzept einer Aufklärung mit radikaler und moderater Tendenz lässt sich auch auf die Felder der Gesellschaftskritik und die Kritik der herrschenden Verhältnisse anwenden. So hätten Christian Schmohls Ideen zu einer vollkommenen Veränderung der frühneuzeitlichen Gesellschaft und Politik geführt. Zwar war für Schmohl und für Knoblauch die Sicherung der Freiheit das oberste Ziel des Staates. Aber während für Knoblauch Freiheit nicht ohne die garantierte Sicherung des Privateigentums möglich gewesen wäre, „war für Schmohl Freiheit nicht  ohne eine staatliche Kontrolle und ein eventuelles Eingreifen in die Besitzverhältnisse der Bürger denkbar. Riem hätte hierbei hingegen Knoblauch zugestimmt und betrachtete selbst eine staatliche Steuerung des Handelns als Angriff auf das Privateigentum der Bürger. Trotz dieser Übereinstimmung mit Knoblauch lassen sich gerade in Riems politischen und gesellschaftlichen Darstellungen die geringsten Unterschiede zur Ordnung der damaligen Zeit feststellen: Weder forderte er für die deutschen Länder eine Abschaffung der Ständeordnung noch war er generell mit der Herrschaftsform der Monarchie unzufrieden. Der Demokratie stand er hingegen skeptisch gegenüber und wollte die politische Partizipation so begrenzt wie möglich wissen, die idealerweise nur in den Händen ‚vernünftiger‘ Männer liegen sollte“ (Maximilian Lässig, S. 543 f.). Letztlich ergibt sich kein einheitliches Konzept einer ‚radikalen Aufklärung‘, „die sich durch bestimmte inhaltliche Merkmale von einer ‚moderaten Aufklärung‘ unterscheidet. Daher bleibt weiterhin das Bild einer heterogenen Aufklärung bestehen, deren jeweilige Ausprägung individuell untersucht und bewertet werden muss und die als Kritik, der sie alles unterwerfen muss, weder thematisch noch inhaltlich festgelegt ist“ (Maximilian Lässig, S. 546).

ham, 13. November 2024

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