Edition Evangelisches Gemeindeblatt, Verlag und Buchhandlung der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart
GmbH, Stuttgart 2017, ISBN 978-3-945369.45-6, 96 Seiten, Broschur, Format 21,5 x 13,5 cm, € 9,95
Als der 1955 in Stuttgart geborene international renommierte Museumsdirektor, Kulturwissenschaftler und
Kulturmanager Martin Roth im Sommer 2016 verlauten ließ, dass er das unter seinem Direktorat aufgeblühte
und zum Museum des Jahres ausgerufene Victoria and Albert Museum in London zum nächstmöglichen
Zeitpunkt wieder verlassen werde, hat man nach möglichen Gründen gesucht und ihm unter anderem
unterstellt, er wolle in Berlin Kulturstaatsminister werden. Diese Unterstellung hat ihn getroffen, auch wenn
er sich in der Tat wieder stärker und ohne die Fesseln der institutionellen Kommunikationszusammenhänge
politisch engagieren und mehr Zeit für seine Frau und seine Kinder haben wollte. Das Brexit-Votum hat
seinen Entschluss noch bekräftigt.
Sein aus Gesprächen mit seinen drei erwachsenen Kindern über die Notwendigkeit eines deutlich stärkeren
politischen Engagements entstandenes Buch Widerrede stellt seine Gründe noch einmal ausführlich dar. „Sie
werden sich fragen, warum ich meine Stimme erhebe, warum ich Familien aufrütteln will über die
Generationen hinweg. Und warum ich der Meinung bin, dass das Politische, die Wertedebatte und der
ehrliche Gedankenaustausch über die gesellschaftspolitischen Weichen, die richtig oder falsch gestellt
werden können, unseren Alltag wieder viel mehr durchdringen müssen. Ich bin überzeugter Europäer. Das
hat natürlich auch mit meinem Alter zu tun. Als Deutscher des Jahrgangs 1955 habe ich mir schon als junger
Mensch eine andere oder besser: eine zweite sehr starke Identität gesucht. Zuerst war ich Europäer, dann
Deutscher. Schon viele Monate vor der finalen Brexit-Entscheidung war mir klar, dass die von Propaganda
verdorbene Diskussion um den Brexit nicht zu vereinbaren ist mit meiner europäischen Identität […]. Diese
grandiose und ansteckende Dynamik, die von der Welthauptstadt London ausgeht, verliert zwar nicht die
Anziehungskraft, auch nicht die Strahlkraft für die Avantgarde. Aber sie basiert mehr und mehr auf einem
unseriösen politischen Fundament. Für mich war London immer eine Stadt, die funktioniert hat: aufregend,
lebendig, kosmopolitisch. Und ich habe immer das Gefühl gehabt, dass dann, wenn London funktioniert, es
Hoffnung gibt auch für andere Metropolen. Wenn so viele Menschen aus so vielen Ländern relativ friedlich
zusammenleben und zugleich diese Stadt mit diesem Tempo leben und produktiv sein kann, dann ist das
übertragbar.
Statt dessen hat eine schwer verständliche Aggressivität das Referendum bestimmt, die es […] nicht nur in
Großbritannien gibt. Wir erleben sie in Bayern, in Sachsen, nicht nur bei der AfD, bei den Rechtspopulisten
und Europa-Gegnern in den Niederlanden, in Frankreich, Österreich, Polen und Ungarn. Bildung zählt viel
zu wenig, Ernsthaftigkeit nicht, Expertentum nicht, Fakten werden einfach weggewischt, Halbwahrheiten
und Lügen haben Konjunktur. Leute wie Nigel Farage klagen, wie schlimm alles bei uns ist, zugleich sterben
im Mittelmeer Menschen zu Tausenden. Wohin sind wir gekommen, wenn die Maßstäbe derart verrutschen!
[…] Wo sind unsere christlichen Werte? Die Nächstenliebe? Begriffe wie Freiheit, Toleranz und Solidarität
sind mir heilig. Heilig ist ein großes Wort, aber es geht auch um viel“ (Martin Roth S. 13 f.).
In seiner Doktorarbeit habe er sich, so Roth weiter, mit der Kulturpolitik der 1920er und 30er Jahre
auseinandergesetzt und dort genau das gelesen, was er in den Brexit-Wochen und bei der Wahl vom Juni
2017 in London erlebt hat. Deshalb versteht er nicht, dass sich niemand aufgeregt hat, als im Herbst 2015 in
Dresden auf der Pegida-Demonstration Galgen-Attrappen für Angela Merkel und Sigmar Gabriel
hochgehalten worden sind. Kunst und Wissenschaft sind für ihn wesentliche Bestandteile unseres zivilen
Lebens. „Ich bin überzeugt, dass Kunst und Kultur unverzichtbare Grundlage einer Gesellschaft im
demokratischen und friedlichen Zusammenleben sind. Je kreativer eine Gesellschaft ist, umso fähiger ist sie
aufzustehen und damit zu überleben. Kunst und Kultur helfen, Identitäten zu entwickeln und zu
stärken“ (Martin Roth S. 15). Aber es scheint so, dass wir nicht mehr zu wissen, wo wir herkommen und wer
wir sind. Wer „die Bedeutung dieses Identitätsverlustes nicht wahrhaben will, belügt sich selbst. Es geht
nicht nur um Erinnerungen an Verlorengegangenes. Es geht darum, dass und wie Verlorengegangenes fehlt
im realen Alltag. Die Kirchen, die Synagogen, das Selbstbewusstsein in den Bürgerhäusern, das pralle
Leben, der intellektuelle Anspruch“ (Martin Roth a. a. O.).
Aber unser europäisch-westliches Wertesystem kann seine Bedeutung wieder zurückgewinnen, wenn wir
„wieder nachdenken, reden, argumentieren, Erkenntnisse teilen“ und „andere in Stand setzen, dass sie auch
nachdenken, reden und argumentieren wollen. Wer sich nicht engagiert gegen die Rückkehr zum alten
nationalistischen Denken […], der macht sich mitschuldig“ (Martin Roth S. 18f.). Roth geht davon aus, dass
seine Generation diese Wende nicht mehr schaffen wird. Deshalb rät er seinen Kindern: „Was wir jetzt
brauchen, ist […] eine direkte politische Eingriffshandlung. Was macht eure Generation daraus? Reicht es
aus, wie in den USA, darauf zu hoffen, dass die Institutionen so demokratisch sind, dass sie die in jeglicher
Hinsicht undemokratischen Pläne dieses Präsidenten verhindern werden? Ich finde, ihr solltet in die Parteien
gehen, auf die Straße, zu den Diskussionen. Macht das, was ihr schon mit der Offenen Gesellschaft macht in
vielfältiger Weise. Und wenn, was ich sehr hoffe, die kommenden Wahlen in Deutschland das demokratische
System stützen, wie wollt ihr dann langfristig eine solche Politik unterstützen? Reicht es aus […], die
demokratischen Parteien zu unterstützten, oder müsste es nicht heißen: Werdet Mitglieder, aktive Mitglieder!
Dieses ›Wir müssen aufstehen‹, ›Wir müssen reden‹ oder ›Die Demokratie braucht uns‹ – das alles liegt jetzt
in eurer Hand. Macht etwas daraus!“ (Martin Roth S. 61 f.)
Im Schlussteil des Bandes erinnert Roth daran, dass sich unsere Kenntnisse über die Globalisierung, die
internationalen politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen und die internationale Verflechtung von
Geschichte durch die weltweite Reisefreiheit und das Internet wesentlich verbessert haben. Dass seine
Generation die Jahre 2050 oder 2060 nicht mehr erleben wird, enthebt sie nicht ihrer Verantwortung. „So wie
die globale Welt zusammengewachsen ist und die Demokratien daraus die Kraft ziehen müssen, sich
gegenseitig zu stärken, müssen wir erkennen, wie weit die Auswirkungen von Entscheidungen reichen, in der
Klimapolitik, beim Verkehr, in der Sozialpolitik oder der Wissenschaft […]. Mut zu zeigen ist das Gebot der
Stunde, zu reden und zu widersprechen […]. Die Parole müsste heißen: Kein Verpissertum zulassen! Gerade
der Kulturbetrieb kann viel mehr als das, was jene ängstlichen und auf sichere Distanz bedachten Kollegen
sich zutrauen […]. Es ist aus der Mode gekommen, sich zu positionieren. Genau das Gegenteil sollte der Fall
sein. Jeder, dem die Freiheit in Kultus, Kultur und Wissenschaft zugute kommt, müsste diese Freiheit zur
Verteidigung der Demokratie nützen“ (Martin Roth S. 88 f.).
Martin Roth ist am 6. August 2017 verstorben. Sein Vermächtnis Widerrede konnte drei Wochen und einen
Tag nach seinem Tod veröffentlicht werden.
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ham, 5. September 2017