Konrad Theiss Verlag, Darmstadt 2014, ISBN 978-3-8062-2985-1, 414 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Format 22,3x l 15,5 cm, € 29,95
Wer eine historisch und interkulturell informierte, interdisziplinär angelegte, methodisch reflektierte und auf der Höhe der Zeit argumentiere christliche Sozialethik kennen lernen möchte, ist bei dem jetzt auf Deutsch erschienen Buch „Verdammter Sex“ bestens aufgehoben. Die 1935 geborenen US-amerikanische katholischen Theologin Margaret A. Farley hat als Hochschullehrerin für christliche Ethik an der Yale University unterrichtet und ist Mitglied des katholischen Ordens der Barmherzigen Schwestern. Sie weiß, was sie sagt, bettet ihr Nachdenken über Sexualität und ihre Bedeutung in eine für das interreligiöse Gespräch offene christliche Anthropologie ein und vertritt gut nachvollziehbare Positionen unter anderem zu Fragen der Scheidung, der Homosexualität, der Masturbation und der Prostitution.
Drei große Fragen zur Sexualität sind für ihr Verständnis sexualethischer Normen zentral: „Die erste hat mit dem moralischen Status des menschlichen Körpers zu tun: mit seiner Bedeutung und seinem Wert angesichts der Ganzheit einer Person, seines Gegebenseins und seiner Kontingenz“ (Margret A. Farley, a. a. O. S. 131). Anders als die dualistischen und monistischen Traditionen sieht sie uns Menschen wie Maurice Merleau-Ponty als >>vergeistigte Körper<< und >> verkörperten Geist<<. „Die Tatsache, dass Menschen verkörperter Geist, vergeistigter Körper sind, ist Glanz unserer Gattung und die Grundlage ihrer Verletzlichkeit. Wir leben in einer Welt, in der sich das Heilige offenbart. In der gesamten Schöpfung, in der wir Nahrung und Freude finden können, vernehmen wir in Körper und Geist Gottes Wort. Wir verkörpern uns in innigen Beziehungen miteinander und in weniger innigen … mit vielen anderen in Gesellschaften, wo wir lernen, nicht nur im Körper, sondern auch im Geist zu dürsten. Wir sind es, die sich als Verkörperte selbst befragen und die Gott begegnen können … Und doch macht unsere beseelte Verkörperung uns verletzlich der Welt, uns selbst und sogar Gott gegenüber. Wir sind Außenseiter unter den anderen Geschöpfen, weil wir uns und unser Tun selbst hinterfragen. Unsere Konflikte entstehen (anders als bei den Tieren), weil wir uns als verkörperter Geist, vergeistigter Körper gegenseitig Schaden zufügen. Und wir fordern sogar Gott heraus, indem wir unsere eigene Verkörperung infrage stellen oder den Rest der Schöpfung missachten“ (a. a. O. S. 139). Tiefes Leiden, die Erfahrung, beurteilt, bewertet und in eine Schublade einsortiert zu werden, die Erfahrung von Vergegenständlichung, die Erfahrung von Altern und Tod und die Erfahrung, dass wir uns immer neu innerhalb des Körpers und des Geistes als zerrissen erleben, stellen die Vorstellung von der Einheit von Körper, Seele und Geist zwar ernsthaft infrage aber bestätigen sie dann aber letztlich doch: „ Am Ende findet sich … in den dramatischen Erfahrungen von Zerrissenheit etwas, das trotz allem für die Einheit der Person spricht. Es sind nämlich allesamt Erfahrungen, die nur im vergeistigten Körper, verkörperten Geist möglich sind. Unsere Sprache ist mit der Beschreibung dieser Selbstkonstitution nicht selten überfordert - denn wir sind es, die verkörpert, vergeistigt sind. Wenn du meinen Körper berührst, berührst du mich. Wenn du für meinen kranken Körper sorgst, sorgst du für mich. Wenn unsere Körper in Zärtlichkeit und Liebe zusammenkommen, sind wir es, die zusammen kommen. Die Körper, die wir >>haben<<, sind auch die Körper, die wir >> sind<<. Trotz unserer Unvollkommenheit, unserer Begrenztheit, unserer Erfahrung von Zerrissenheit und von mangelnder Ganzheit sind wir … ganz in uns selbst“ (a. a. O. S. 151 f.). Unser Körper ist deshalb nicht rein passiv, kein Anhängsel, kein bloßes Instrument, er ist konstitutiv für unser Selbst, für uns als Subjekt; „wir >>leben<< unseren Körper, wenn wir ihn benutzen. Unsere Motivation für eine Entscheidung, die Handlung des Sich-Entscheidens und die Entscheidung selbst sind verkörpert und vergeistigt. Daher sind wir als verkörperter Geist, vergeistigter Körper durch unsere Freiheit selbst-transzendent. Darüber hinaus transzendieren wir uns, wenn wir uns für neue Beziehungen öffnen … Wir sind es, die kennen und lieben und gekannt und geliebt werden … - und deshalb transzendieren wir uns selbst als Körper in der Beziehung zu anderen.“ (a. a.O. S. 152). Die zweite Frage, die für die Sexualität wichtig ist, ist die Frage nach der zunehmend komplexen Gestalt von Gender, die Frage nach der sozialen und kulturellen Konstruktion des Geschlechts, seiner Rolle bei der persönlichen Identität und in menschlichen Beziehungen jeder Art. Gender ist für Farley wichtig und doch auch nicht. „1. Gender sollte uns nicht voneinander trennen. Wenn wir die Schöpfung betrachten …, sind die Ähnlichkeiten letztlich größer als die Unterschiede … Der Krieg der Geschlechter könnte aufhören, wenn wir sehen, dass wir keine >>gegensätzlichen<< Geschlechter sind, sondern Personen mit etwas unterschiedlichen … Körpern … 2. Die Auflösung der Geschlechtertrennung besteht jedoch nicht in einer unkritischen Vorstellung von gegenseitiger >> Ergänzung<< . Keiner von uns ist als Person >>ganz<< … 3. Gender könnte wichtig sein, aber nicht hinsichtlich der sozialen Rollen … Die Unterschiede … zwischen Frauen und Männern … rechtfertigen keine geschlechtsspezifischen Abweichungen: beim Recht auf Ausbildung und Arbeit, bei der Teilnahme am politischen Leben oder dem Anteil an der Verantwortung in Familie, Gesellschaft und Kirche. Die Beseitigung von Rollenbeschränkungen, die allein auf Gender basieren, erfordert eine politische und moralische Revolution … Für Individuen und Institutionen gibt es offenkundig eine Genderproblematik. Aus diesem Grund ist die >>Gender-Analyse<< für alle unsere sozialen Strukturen, Situationen und Beziehungsmuster notwendig … 2. Gender ist in menschlichen Beziehungen wichtig, besonders in der körperlichen Liebe. Ich beziehe mich hier nicht nur auf Geschlecht und Genitalien, sondern auf die Gesamtheit des Körpers … 3. Letztlich wissen wir nicht genau, was es bedeutet, dass es in dieser Welt und der nächsten >> nicht mehr … Mann und Frau<< gibt. Mit anderen Worten: Wir wissen nicht, was danach kommt“ (a. a. O. S. 179 f.). Die dritte große Frage ist die nach dem Ursprung und Ziel des sexuellen Begehrens. „Begehren, das in Selbstliebe gründet, ist die Form, die Liebe annimmt, wenn es uns nach Selbstbestätigung, Wohlbefinden oder einer Errungenschaft verlangt. Begehren, das in Liebe zu einem anderen gründet, ist die Form, die Liebe annimmt, wenn wir nicht völlig mit dem Objekt unserer Liebe vereint sind … Begehren ist angemessen und gerecht, wenn die Liebe, aus der es entspringt, angemessen und gerecht ist … Aus allem bisher Gesagten ist … deutlich geworden, warum Liebe und Begehren, Beziehungen und Aktivitäten von der Gerechtigkeit >>normiert<< werden sollten …“ (a. a. O. S. 228). Jedem soll zukommen, was ihm gebührt. Aus dem Respekt für die Autonomie und Relationalität jeder Person und aus dem Respekt für Personen als sexuelle Wesen in der Gesellschaft ergeben sich für Farley für gerechten Sex die Normen Unversehrtheit, Einvernehmlichkeit, Gegenseitigkeit, Gleichheit, Verbindlichkeit, Fruchtbarkeit und soziale Gerechtigkeit. Unter der Überschrift „Besondere Fragen“ verhandelt sie unter anderem die Frage, ob die genannten Normen auch für Jugendliche und Sex ohne Bindung und Beziehung Bedeutung haben und kommt zu folgendem abwägenden Schluss: „ Angenommen, sexuelle Praktiken sind schädlich für junge Menschen. Angenommen, einige schätzen diese Praktiken, aber andere nicht. Angenommen, einige fühlen sich benutzt (und von ihren Partner(n) darin unverstanden). Würde eine Moral der sexuellen Tabus die Situation ändern? Vielleicht, vielleicht auch nicht - aber ihre Wirkung könnte auch darin bestehen, im Bereich der menschlichen Sexualität eher Scham und Schuld hervorzubringen statt Weisheit und Vorsicht. Die eigentliche Frage könnte hier sein, ob junge Menschen fähig zur Gerechtigkeit sind … Wenn Gerechtigkeit ihnen in ihren anderen Beziehungen wichtig ist …, kann sie dann auch in ihren sexuellen Beziehungen wichtig werden?“ (a. a. O. S.256 ff.). Abweichend von der Tradition wird Masturbation auch von Farley für moralisch neutral erklärt, „ was bedeuten kann, dass es von den Umständen und dem Individuum abhängt, ob sie positive oder negative Auswirkungen hat. Es kann auch bedeuten, dass die Praktik zwar in psychologischer Perspektive problematisch sein kann (wenn sie zwanghaft wird zum Beispiel), aber keine moralische Fragen aufwirft … Seit dem ersten Kinsey-Report ist es unmöglich geworden, glaubhaft zu behaupten, dass nur eine Minderheit masturbiere oder dass die physischen und psychologischen Folgen verheerend seien. Vereinzelte Erfahrungsberichte lassen eher vermuten, dass etwaige … Schädigungen das Resultat von Fehlinformationen und unbegründeten Mythen oder Erfahrungen des Makels oder der Schuld sind, die von der vermeintlichen Verletzung eines religiösen oder kulturellen Tabus herrühren. Sicher haben viele Frauen … im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts Selbstbefriedigung zu schätzen gelernt, weil sie ihnen dazu verhalf, ihr eigenes Lustpotenzial zu entwickeln - etwas, das vielen in ihren normalen sexuellen Beziehungen mit Ehemännern oder Liebhabern nicht geglückt war. In diesem Sinn könnte man sagen, dass Masturbation Beziehungen eher gut tut, als dass Sie ihnen schadet. Die Gerechtigkeitsnormen … scheinen in diesen Zusammenhang also nur insoweit anzuwenden sein, als sich Masturbation positiv oder negativ auf das Wohlergehen und die Freiheit des Geistes auswirken kann. Dies ist aber eine empirische Frage, keine moralische“ (a. a. O. S. 259 ff.). Pornographie und Prostitution sind in den letzten 25 Jahren stark umstritten gewesen. Für Farley „ist nicht jeder Gebrauch von Pornographie schädlich …, … die Hauptaufgabe besteht darin, herauszufinden, was schädlich ist oder nicht, welche Bedingungen Menschen in ihrer Bindungsfähigkeit beeinträchtigen, ob und wie Pornographie sexuelle Gewalt erotisiert und welche Personen, die in der Sexindustrie arbeiten, ausgebeutet oder genötigt werden. Und auch was die Prostitution betrifft, wird die Debatte situationsbezogen geführt. Auf der einen Seite gibt es Sexarbeiterinnen, die argumentieren, dass sie sich aus guten Gründen frei für diese Arbeit entschieden haben. Es gibt aber auch Sexarbeiterinnen, die physisch oder aus ökonomischen Gründen in die Prostitution gezwungen werden. Zu klären wäre auch, ob es ein Recht darauf gibt, sexuelle Dienstleistungen zu kaufen oder zu verkaufen … Es bleiben also nicht nur offene Fragen zur Berechtigung von Prostitution als Praxis, sondern unklar ist auch, was wir tun können, um Prostituierten und ihrem sozialen Umfeld Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“ ( a. a. O. S. 263 f. ). Im Zentrum einer christlichen Sexualethik steht für Farley die Berufung menschlicher Personen zur Freundschaft mit Gott, die Beteiligung aller Menschen am fortlaufenden Schöpfungsprozess, die Wichtigkeit des Individuums und der Gemeinschaft, der Auftrag, an der Weiterentwicklung von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung zu arbeiten und der Glaube, dass die Liebe stärker ist als der Tod. Deshalb muss sich eine christliche Sexualethik, die der Gerechtigkeit verpflichtet ist, nicht nur mit Handlungsanweisungen befassen, „sondern auch mit der Person, zu der wir berufen sind … Für Christen besteht das Ideal darin, unser Lieben in eine vollkommene Liebe zu Gott zu integrieren. Unsere Begierden streben nach einer Integration, die unsere Begierde nicht zerstört, sondern sie transformiert, die keine Liebe ignoriert, sondern sie gerecht macht, die niemand verletzt, nicht einmal uns selbst. Das ist die Art von Integrität, die unsere Sexualität nährt und gerecht gemacht … Große Liebe ist eine Liebe, die richtig, gerecht, angemessen und gut ist … sie bietet Raum für ein vielfaches Leben“ (a. a. O. S. 267 ff.). ham, 7.2.2015 Download