Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 27. Mai 2024 bis 6. Januar 2025 im Deutschen Fußballmuseum Dortmund mit Texten von Marion Ackermann, Horst Bredekamp, Lutz Engelke, Josephine Henning, Jürgen Müller, Manuel Neukirchner, Malte von Pidoll und Frank Schmidt und  Künstler und Künstlerinnen  wie  Sybil Andrews, Dieter Asmus, Willi Baumeister, Cecil Walter Hardy Beaton, Peter Blake, Umberto Boccioni, Carlo Carrà, Ithell Colquhoun, Charles Cundall, Salvador Dalí, Giulio D’Anna, Raoul de Keyser, Nicolas de Staël, Alexander Deineka, Robert Delaunay, Brendan Ellis, George Eisler, Paul Feiler, Ludvig Find, Hubert Andrew Freeth, Fritz Genkinger, Harald Giersing, John Heartfield, Bernhard Heisig, Robert Henderson Blyth, Peter Howson, Hundertwasser, Miloš Jiránek, Ilja Kabakow, Ernst Ludwig Kirchner, Paul Klee, Pyke Koch, Maria Lassnig, Karel Lek, El Lissitzky, Rene Magritte, Jarmo Mäkila, Kasimir Malewitsch, Colin Middleton, Joan Miró, Omer Mujadzic, Peter Nagel, František Xaver Naske, Paul Nelson, Rainer Neumaier, Christopher Nevinson, Felix Nussbaum, Claes Oldenburg, Wolfgang Petrik, Pablo Picasso, Sigmar Polke, Peter Rohn, Alexander Nikolajewitsch Samochwalow, Torsten Schlüter, Valentin Sidorov, Jens Sondergaard, Warwara Fjodorowna Stepanowa, Ivan Tabaković, Lawrence Tonybee, Bart van der Leck, Alan Welsford, Thomas Webster, Rik Wouters u. a.

Deutscher Kunstverlag, Berlin/München, 2024, ISBN 978-3-422-80134-9, 344 Seiten, 120 Farbabbildungen, Hardcover, gebunden, Format 30,5 x 24,5 cm, € 48,00

Bevor ich Ende der 1980er-Jahre den 1936 in Ilmenau geborenen und 2009 in Suttgart verstorbenen Galeristen, Mitbegründer des Kölner Kunstmarkts und Inspirator von Mariposa Hans-Jürgen Müller kennen und schätzen gelernt habe, hatten Kunst und Fußball für mich nichts miteinander zu tun. Kunst war Kunst und Fußball war Fußball. Doch bei Hans-Jürgen Müller ging beides problemlos zusammen. Wenn er irgend konnte, war er an Samstagnachmittagen nicht in seiner Stuttgarter Galerie in der Senefelderstraße, sondern im VFB- Stadion. 

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Müller die 1992 von Christof Daum mit dem von ihm geformten Spitzenteam um Eike Imme, Guido Buchwald, Maurizio Gaudini, Matthias Sommer und Fritz Walter gewonnene Deutsche Meisterschaft und das 100 jährige Jubiläum des 1893 gegründeten Fußballvereins zum Anlass genommen hat, dem VFB und seinem Trainer die Ausstellung „100 Jahre VFB Stuttgart“ zu widmen. Der an der Ausstellung beteiligte Düsseldorfer Maler und spätere Vorsitzende des Künstlervereins „Malkasten“ Robert Hartmann konnte seine Arbeit 1+3=3, 1992, Öl auf Leinwand, 140 x 120 cm, an den Trainer Christoph Daum verkaufen. Hartmanns Titel bezieht sich auf die im Spiel vom 30. September 1992 im Stadion an der Elland Road in Leeds nicht erlaubte Einwechslung eines  vierten Ausländers durch Christoph Daum. Das vom Europäischen Fußballverband angeordnete Wiederholungsspiel am 9. Oktober 1992 in Barcelona verlor der VFB mit 1:2 gegen Leeds United und flog damit aus der Qualifikationsrunde der neugegründeten UEFA Champions League. „Daum und Hoeneß fühlten sich wie der Lottogewinner, der sechs Richtige angekreuzt, aber den Schein nicht abgegeben hat“, kommentierte die Stuttgarter Zeitung mit schwäbischem Sarkasmus.

Manuel Neukirchner, der Direktor des Deutschen Fußballmuseums, scheint Ähnliches wie ich empfunden zu haben, wenn er im Vorwort zum Katalog ‚In Motion. Kunst und Fußball’ schreibt: „Auf den ersten Blick erscheint das Unterfangen, Fußball und Kunst zusammenzuführen, als ein Paradoxon. Fußball ist Fußball, Kunst ist Kunst“. Aber dann fragte er: „Doch ist das so? Dominiert wirklich das Trennende und nicht das Verbindende, wenn die schönen Künste als Hochkultur und der populäre Fußball als Alltagskultur aufeinandertreffen? Die Ausstellung ‚In Motion – Art & Football‘ und der begleitende Katalog treten den Gegenbeweis an: Fußball und Kunst, in diesem Fall vor allem: Fußball und Malerei, sind von jeher entgrenzte Erscheinungen, frei von Konventionen, reich an freigesetzter Energie, überall auf dieser Welt zu Hause und für alle Menschen gemacht. Beide Phänomene entziehen sich der Norm. Die zum großen Teil erstmalig gezeigten Kunstwerke mit dem Sujet Fußball öffnen ein neues Fenster, die Betrachtenden entdecken beim genauen Hinschauen: Die Malerei erzählt den Fußball, der Fußball erzählt die Malerei. Fußball und Kunst begegnen sich auf Augenhöhe und gehen eine Symbiose ein, die ihnen nur wenige zutrauen“ (Manuel Neukirchner, S. 16). Das VFB-Drama von 1992 und Robert Hartmanns bildnerischer Kommentar gehören in diesen Kontext. Deshalb werden sie hier nachgetragen.

Ansonsten überzeugen das zur Fußball-Europameisterschaft 2024 entstandene voluminöse Überblickswerk zu Kunst und Fußball mit den Essays von Manuel Neukirchner (Das Spiel mit der Kunst und Der platonische Fußball), Jürgen Müller (Fußball als Medien- und Gesellschaftsbild), Malte von Pidoll (Fußball und Kunst), Lutz Engelke (Raum – Kunst – Daten), Josephine Henning (Artist & Athleten) und seinen Kunstwerken aus dem 19., 20. und 21. Jahrhundert durch die Bank. Noch größeres Vergnügen bereiten dann aber Marion Ackermanns alternative Kunstgeschichte „Kluge Frauen lassen ihre Männer toben“ und das weiterführende Gespräch von Lutz Engelke mit Horst Bredekamp zum Thema „Der Ball ist das Symbol der Welt“:

Ackermann erinnert in ihrer alternativen Kunstgeschichte an die zum Glück überholten Zeiten, in denen der Frauenfußball in den Medien keine Rolle gespielt hat, und daran, dass sich die 1903 in Hannover geborene Irene Hoffmann schon 1930 in ihrer Collage mit dem Titel „contrastierende fotomontage“ füreinen von links in das Fußballfeld laufenden Stürmer mit stulpiertem Bein, einen Torwart und zwei weitere Fußballer interessiert hat (vergleiche dazu https://es.pinterest.com/pin/795870565389966070/). Hannah Höchs Collage „Training oder Ertüchtigung“, die ebenfalls einen Stulpenträger zeigt, ist sogar noch fünf Jahre älter (vergleiche dazu https://www.artnet.de/künstler/hannah-höch/ertüchtigung-a-7sbFW0fwIeiIq4jk0PbbYA2). Weibliche künstlerische Positionen kommen in den von Männern dominierten Arenen der 1950er-Jahre, in denen die »Masse als Ring« funktioniert (Elias Canetti), kaum vor. Sinnbildlich dafür steht Peter Sorges Diptychon „Kluge Frauen lassen ihre Männer toben“ von 1970 (vergleiche dazu https://www.kunstsammlung-bund.de/kunstdatenbank/Datenbank/Kunstwerke/0/8/878/878.html?nn=138436). Frauen gehören nicht zur Masse der Arenen, auch nicht zu den Massenmedien, aber sie kommen dennoch vor. Dies wird beispielhaft deutlich im Gemälde „Das Spiel des Jahres“ der britischen Surrealistin Ithell Colquhoun aus dem Jahr 1953, das vermutlich auf das FA-Cup-Finale dieses Jahres Bezug nimmt (vergleiche dazu https://artsandculture.google.com/asset/the-game-of-the-year-ithell-colquhoun/lwEgNmc-X9nPGQ).

Mit der ersten Fußballweltmeisterschaft der Frauen im Jahr 1991 ändert sich die weibliche Sicht von Künstlerinnen auf den Fußball grundlegend. So setzten sich unter anderem Niki de Saint Phalle (vergleiche dazu https://www.artnet.de/künstler/niki-de-saint-phalle/fussballspieler-7Z5QCcpkrdtwa16R0AvYTA2  und https://www.1stdibs.com/de/kunst/druckgrafiken-und-multiples/figurative-drucke/niki-de-saint-phalle-niki-de-saint-phalle-vive-le-football-1992-museumsplakat-2018/id-a_9956172/#zoomModalOpen), Maria Lassnig (vergleiche dazu https://www.artsy.net/artwork/maria-lassnig-competition-iii) und die Olympiasiegerin Josephine Henning (vergleiche dazu https://www.fifamuseum.com/de/about-the-museum/media/press-releases/fifa-weltfussballmuseum-zeigt-die-von-olympiasiegerin-josephine-hennin-2622089/) mit dem Thema Fußball auseinander. 

Ackermann kommt zu folgendem Schluss: „Fußball durch eine künstlerische weibliche Sicht zu entdecken bedeutet, ihn in seiner Vielfalt wahrzunehmen. Während der professionelle Frauenfußball erst in den letzten drei Jahrzehnten international spürbar an Anerkennung und Beachtung gewinnen konnte, haben Künstlerinnen schon viel früher die Auseinandersetzung mit dem ‚Männersport‘ gesucht. In ihren Werken spiegelt sich ein wachsendes weibliches Selbstbewusstsein wider. Der weibliche Blick auf den Fußball charakterisiert sich durch eine weite Perspektive und fokussiert die verschiedensten Facetten der Sportart, die vom eigentlichen Spiel über Phänomene der (gewaltbereiten) Zuschauermengen bis hin zur politischen Funktion als Friedensbotschafter reicht“ (Marion Ackermann, S. 79).

Für Horst Bredekamp kann der Fußball seine Faszination deshalb nicht verlieren, weil alle Fußballspieler bei dem Anpfiff gleichsam nackt sind. „Auch der größten Begabung kann der erste Ballkontakt misslingen und eine Situation entstehen, die von ihm nicht zu kontrollieren ist. Daher kann der Fußball seine Unschuld niemals ganz verlieren: Geld schießt nicht immer und zwangsläufig Tore. Für mich ist das wie beim mittelalterlichen Totentanz: Vor dem Tod und dem Ball sind alle gleich. Andererseits kann auch dem Kreisliga-Spieler ein Fallrückzieher gelingen, der für ihn eigentlich utopisch ist. Und es gibt Momente etwa des vollendeten Abschlusses nach einem geometrisch vortragenden Konter, die den Charakter von Kunst haben. Glücksmomente wie auch Abstürze von großer Tragik sind in einer Dimension möglich, wie sie vielleicht nur noch in Literatur und Kunst formuliert werden können“ (Horst Bredekamp, S. 88).

ham, 21. September 2024

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