Angus Hyland & Kendra Wilson
Illustriert von Thibaud Hérem
Aus dem Englischen von Bettina Eschenhagen
Laurence King Verlag, London, 2018, ISBN 978-3-96244-051-0, 144 Seiten, 120 farbige Illustrationen,
Hardcover mit Leinenrücken, Format28,5 x 21 cm, € 28,00
Wer das Wort ›Labyrinth‹ hört, denkt je nach Herkunft und Bildung an das Labyrinth, das Daidalos für den
Minotaurus als Gefängnis auf Kreta erbaut haben soll, an das um 1200 entstandene und noch original
erhaltene Labyrinth in der Kathedrale von Chartres oder an Maislabyrinthe, die in den Sommermonaten zum
Vergnügen auf den Feldern als Irrgärten angelegt werden. Labyrinthe sind seit mehr als 4000 Jahren Teil der
Zivilisation; in den letzten Jahren entstehen immer mehr. Die Herkunft des griechischen Wortes ›labyrinthos‹
ist umstritten. Manche denken an das ägyptische Wort ›Lope-ro-hun.t‹ (›Palast am Eingang des Sees‹),
andere an ›Labrys‹ (Doppelaxt) und wieder andere an eine bei Knossos gefundene Steintafel, die das Wort
›DA-PU-RI-TO-JO PO-TI-NI-JA‹ enthält. Als Labyrinth im ursprünglichen Sinn wird ein System von
verzweigungsfreien Linien oder Wegen bezeichnet, das durch zahlreiche Richtungsänderungen beim
Verfolgen oder Abschreiten des Musters zum Rätsel werden kann. Labyrinthe können als Bauwerk
Ornament, Mosaik, Pflanzung, Grasweg, Zeichnung oder Felsritzung ausgeführt sein. Im weiteren Sinn
können sie Verzweigungen, Sackgassen oder geschlossene Schleifen enthalten. Diese Art nennt man
Irrgärten. Der Duden verwendet Labyrinth und Irrgarten synonym.
Angus Hyland & Kendra Wilson fassen die Begriffe Labyrinth und Irrgarten enger. Nach ihnen hat das
Labyrinth „einen einzigen Weg, und auch wenn der kreisförmig und in Kurven verläuft, ist klar, wo es
langgeht: Er führt ins Zentrum und wieder zurück und verbirgt nichts. Der Unterschied zwischen einem
Irrgarten und einem Labyrinth besteht“ für sie „darin, dass man sich in Ersterem verliert und in Letzterem
findet. So sind denn auch alle Labyrinthe spirituelle, religiöse Orte“. Aber Angus Hyland & Kendra Wilson
wissen natürlich auch, dass Labyrinthe zu Irrgärten und Irrgärten zu Labyrinthen werden können. Die
Rasen-›Irrgärten‹ auf den Britischen Inseln sind auch für sie Labyrinthe und das Minotaurus-›Labyrinth‹ der
griechischen Mythologie, „aus der man nur mit Hilfe des berühmten Fadens herausfindet“, ist zweifellos „ein
Irrgarten“ (Angus Hyland & Kendra Wilson S. 7). Deshalb sind die Bedeutungszuweisungen an die Begriffe
für sie letztlich zweitrangig, „denn beide Wörter bezeichnen eine abstrakte Reise“ (Angus Hyland & Kendra
Wilson, a. a. O.).
Die von ihnen ausgewählten rund 60 realen und imaginären Labyrinthe aus allen Teilen der Welt laden den
Leser zu eigenen imaginäre Reisen in Labyrinthen unter anderem in Algier, Folhamer (Gotland, Schweden),
Herrenhausen, Huanghua Zhen (Peking, China), Koloniehof (Frederiksoord, Niederlande), Longleat
(Wiltshire, UK), Masone (Fontanellato, Italien), Nazca (Pampa de Jumana, Peru), Shining (Colorado, USA)
und Usgalimal (Goa, Indien) ein. Der in London lebende französiche Illustrator Thibaud Hérem hat die
Labyrinthe in eigens angefertigten Illustrationen aus der Vogelperspektive wiedergegeben; Aufrisse von
Orten wie dem Tudorpalast von Hampton Court (Surrey, UK) oder einem der barocken Nebengebäude beim
Hecken-Irrgarten Horta-Guinardó in Barcelona, Spanien geben einem die Möglichkeit, sich vorzustellen, wie
es wäre, wenn man seinen Weg in den realen Gärten suchen würde. Kurze informative Texte führen in die
Geschichte der Labyrinthe ein.
So liest man unter den Orts-, Werk- und Zeitangaben ›Borges, Il Labirinto di Borges, Isola San Giorgio
Maggiore, Venedig, Italien, Europäischer Buchsbaum […], 2011‹ folgende Hinweise: „Dem Erschaffer des
Borges-Irrgartens kam die Idee dazu im Traum. Vor seiner Karriere als einer der kreativsten
>Labyrinthologen< der Moderne war Randoll Coate im Zweiten Weltkrieg für den britischen Geheimdienst
und danach als Diplomat tätig. Als er in den 1950er Jahren nach Buenos Aires versetzt wurde, machte ihn
seine Freundin […] mit […] Jorge Luis Borges bekannt […]. Eine von Borges’ bekannteren Kurzgeschichten
ist der ›Garten der Pfade, die sich verzweigen‹ […]. Die Hauptfigur entschlüsselt die Bedeutung eines
rätselhaften Werks aus der Feder eines berühmten Vorfahren, der sich aus der Öffentlichkeit zurückzog, um
ein Buch zu schreiben und ein Labyrinth zu schaffen. Coates Irrgarten beruht […] auf der Erkenntnis, dass
Buch und Labyrinth ein und dasselbe sind. Der Grundriss des Irrgartens hat die Form eines aufgeschlagenen
Buchs, und von oben ist Borges’ Namen erkennbar. Borges war blind, als ihn Coate kennenlernte, und die
Brailletafeln am Wegesrand […] machen den Irrgarten einzigartig.
Nachdem Coate geträumt hatte, dass Borges bei ihm sei, bat er […] um ein Gespräch. Er wolle ein ganz und
gar Borges-typisches Werk schaffen, mit dessen Einverständnis. Dass es sich um einen Irrgarten handeln
musste, stand außer Frage […]. Der erste Borges-Irrgarten entstand 2003 auf […] der Finca los Alamos im
argentinischen San Rafael […]. 2011, nach Coates Tod“, wurde „auf der Insel San Giorgio Maggiore […]
eine Nachbildung des Irrgartens in Argentinien geschaffen“ (Angus Hyland & Kendra Wilson S. 18). Im
Buch folgt auf die Werkangaben, die Aufrisszeichnung des ehemaligen Benediktinerklosters auf San Giorgio
Maggiore und den einführenden Text auf der gegenüber liegenden rechten Seite eine Illustration des
Irrgartens mit dem doppelt geschriebenen Namen ›Borges‹.
Die vorbildliche Gestaltung, Konzeption und Verarbeitung der Publikation legt es nahe, die Publikation auf
die Liste der schönsten Bücher zu setzen.
ham, 24. September 2018
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