Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2023, ISBN 978-3-374-07425-9, Paperback, 164 Seiten, Format 19 x 12 cm, € 22,00

Dorothee Sölle bin ich zum ersten Mal im Sommersemester 1971 in der alttestamentlich-, neutestamentlich- und praktisch-theologischen Sozietät von Manfred Mezger, Gert Otto, Herbert Braun und Luise Schottroff zum Verständnis von Religion und Glaube im damals theologisch linken Mainz begegnet. Sölle war seit 1969 in zweiter Ehe mit Fulbert Steffensky verheiratet und hatte sich 1971 in Köln habilitiert. Ihren Aufsehen erregender Bestseller ›Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes‹ aus dem Jahr 1965 hatten wir Schwaben aus dem Evangelischen Stift in Tübingen natürlich gelesen (vergleiche dazu die ausführliche Rezension von Christoph Fleischer ›Der schwache Glaube. Der christliche Glaube zwischen Moderne und Religion. Dorothee Sölle, Stellvertretung. In: https://www.der-schwache-glaube.de). Aber es ging uns damals weniger um Personen als um Sachfragen wie die Existenz oder Nichtexistenz Gottes, die Säkularisierung als legitime Folge des Christentums, die Einführung der Wissenschaftstheorie in die Theologie und die von Niklas Luhmann entwickelte systemtheoretische Betrachtung von Religion. Deshalb waren uns weder die Herkunft noch die familiären Verhältnisse von Dorothee Sölle bekannt (vergleiche dazu etwa Nina Streck, Dorotheee Sölle, Theologien. In: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/dorothee-soelle/DE-2086/lido/57c9529636ad16.61654631).

Persönlich kennengelernt habe ich Dorothee Sölle und Fulbert Steffensky erst im Hospitalhof Stuttgart bei diversen Vorträgen und Lesungen. Ihr erster gemeinsamer Auftritt am 1. Juli 1987 stand unter dem Thema ›Der Widerstand braucht Poesie. Ein Abend mit Dorothee Sölle und Fulbert Steffensky‹. Gut ein Jahr später hat Sölle unter dem Titel ›Wir wissen nicht, wie wir beten sollen‹ an die Politischen Nachtgebete in Köln erinnert. Am 5. März 2003 hat sie nach acht weitern Vorträgen zwischen 1988 und 2002 ihren letzten Vortag im Hospitalhof zur Spannung zwischen Endlichkeit und ewigem Leben unter dem Titel ›Mystik des Todes‹ gehalten. Acht Wochen später erlitt sie in der Evangelischen Akademie Bad Boll nach einer Lesung über Gott, das Glück und die Mystik einen Herzinfarkt und ist am 27. April an seinen Folgen im Krankenhaus in Göppingen verstorben.

In den zwanzig Jahre nach ihrem Tod ist ihr in den Politischen Nachgebeten in Köln vorgetragenes Credo  

„Ich glaube an Gott, der die Welt nicht fertig geschaffen hat,

wie ein Ding, das immer so bleiben muss

der nicht nach ewigen Gesetzen regieret

die unabänderlich gelten

nicht nach natürlichen Ordnungen

von Armen und Reichen…Herrschenden und Ausgelieferten

Ich glaube an Gott, der den Widerspruch des Lebendigen will                             

und die Veränderung aller Zustände

durch unsere Arbeit, durch unsere Politik …“

in das Denken vieler Christen eingeflossen. „Ob Sölle selbst an ein Leben nach dem Tod geglaubt hat, bleibt unklar. Sie schwankte zwischen großer Hoffnung und Skepsis. Sölle war ja ein widersprüchlicher Mensch, sagt ihr Ehemann lachend. Wie alle klugen Menschen, fügt er hinzu. Sie glaubte vieles nicht und ging doch in die Kirche, sang Kirchenlieder, betete. Sie liebte die Tradition, auch wenn sie vieles kritisierte. Steffensky erinnert sich, sie hätte nicht vom Jenseits gesprochen. ›Das andere kriegen wir später‹, sei so ein Spruch von ihr gewesen. Sie hätte eher in poetischen Bildern gesprochen, sagt Steffensky. ›Ich werde, wenn ich sterbe, ein Tropfen im Meer Gottes sein‹“ (Credo ohne die Allmacht Gottes. In: https://www.evangelisch.de/inhalte/215144/26-04-2023/20-todestag-von-dorothee-soelle-credo-ohne-die-allmacht-gottes).

Eine aktuelle Forschung zu Sölle gibt es derzeit so gut wie nicht. Dieser Umstand hat den 1984 geborenen Theologen und Journalisten Konstantin Sacher bewogen, eine Annäherung an die „Ikone des Protestantismus“ zu versuchen. Er zeichnet darin ihre Herkunft aus der gut situierten Familie des schon in der Zeit des Nationalsozialismus arrivierten und in der jungen Bundesrepublik zu den führenden Juristen zählenden Arbeitsrechtlers und zeitweiligen Vorsitzenden des Bundesarbeitsgerichts Hans Carl Nipperdey und ihr Studium nach (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Carl_Nipperdey), weiter ihre später geschiedenen Ehe mit dem Maler und Kunsterzieher Dietrich Sölle, ihre erst durch ihren Tod beendete zweite Ehe mit dem früheren Benediktinermönch und späteren evangelischen Religionspädagogen Fulbert Steffensky und schließlich auch ihre theologische Entwicklung. 

Dorothee Sölle war nach Steffensky „ein widersprüchlicher Mensch, und das war ihre Stärke“. Dass sie „weder von den Frommen noch von den Politischen, weder von den Konservativen noch von den Aufklärern ganz eingefangen werden“ und es sich erlaubte konnte, „die jeweils andere zu sein – den Frommen die Politische, den Politischen die Fromme, den Bischöfen die Kirchenstörerin und den Entkirchlichten die Kirchenliebende“, hat viele irritiert (Fulbert Steffensky in seinem Nachwort zu einem Leben bei der Akademischen Gedenkveranstaltung in der Universität Hamburg am 27. April 2004. In: https://hup.sub.uni-hamburg.de/oa-pub/catalog/view/241/chapter-10/1432 S. 102). Und dass sie als Linke und als Frau erheblichen Gegenwind heraufbeschworen und sich angreifbar gemacht hat, mag wohl mit dazu beigetragen haben, dass Sachers Biografie von vielen Sölle-Begleitern aufs Wort genau gelesen, in ihrer Tonlage kritisiert und für eine Reihe von Formulierungen angegriffen worden ist (vergleiche dazu den Facebook-Eintrag von Albrecht Grözinger vom 5. August 2023, die sich anschließenden Kommentare. In: https://www.facebook.com/photo/?fbid=6840865042611418&set=a.3063945426970084&locale=de_DE , die unter dem Link https://www.dorothee-soelle.de/über-dorothee-sölle/bücher-über-d-sölle/ zu findenden weiteren Rezensionen und den Beitrag von Heike Sprinhardt in den zeitzeichen: https://zeitzeichen.net/node/10598?fbclid=IwAR2KSCmME4OXFKhD64SjWc-E_rIEosKZElYbvHnJw7hblNhnWPHw0B7k4Zc). 

Man kann Konstantin Sacher aber auch anders lesen. Das zeigt neben der Verlagsankündigung (vergleiche dazu https://www.eva-leipzig.de/product_info.php?info=p5472_Dorothee-Soelle-auf-der-Spur.html) die kurze Rezension von Ferenc Herzig: Nach Herzig spart Sacher in seiner Publikation „nicht mit Kritik, im Gegenteil: An Heiligenverehrung ist ihm nicht gelegen. Es ist zugleich die ungeschützte Subjektivität, mit der Sacher schreibt, die dieses Buch zu einem Ausnahmebuch zumal in einem an Sölle-Büchern eher armen Jahr 2023 macht: Nicht nur, dass man es an einem Sonntagnachmittag einfach ›weglesen‹ kann. Vor allem bietet Sacher in seinem Buch über Sölle eine Mischung aus Provokation und Einfühlsamkeit, mit der er Anteil gibt an ihrem Leben, über eine bloße Bücherschau hinaus“ (Ferenc Herzig, Neuer Blick auf Dorothee Sölle. In: https://www.meine-kirchenzeitung.de/c-feuilleton/neuer-blick-auf-dorothee-soelle_a42294). 

Grözinger bilanzierten in aller Vorläufigkeit für sich: „Hinsichtlich Dorothee Sölle gibt es, denke ich, so etwas wie einen überindividuellen Generationengap. Das betrifft vor allem die Anfänge Sölles. ›Stellvertretung‹ und ›Politische Theologie‹ haben damals uns jungen TheologInnen die Perspektive und vor allem die Sprache gegeben, um den Dogmatismus und die Verkrustetheit der Alten (und die gab es reichlich) hinter uns zu lassen. Wenn deshalb Konstantin Sacher zum Frühwerk Sölles schreibt, das alles sei doch nicht neu gewesen, so mag er aus der theologiegeschichtlichen Rückschau vielleicht recht haben (bin mir da bei ›Stellvertretung‹ nicht so sicher), dass es Sölle aber damals gesagt hat und wie sie es gesagt hat, das war in der Tat neu. Und das haben wir Alten offensichtlich sehr viel deutlicher gespürt als die Jungen heute. Das meine ich mit dem Generationengap, der sich gerade auch im Blick auf Dorothee Sölle zeigt“ (Albrecht Grözinger auf seiner Facebook-Seite am 15. August 2023: https://www.meine-kirchenzeitung.de/c-feuilleton/neuer-blick-auf-dorothee-soelle_a42294?fbclid=IwAR01JqqS1unOwizI6G7p_bwnNrDVTYlIBwl6Fgke7vkpYB0oLlta0f1gYxo).

Mir selbst hat der von Sacher mit der notwendigen Diskretion dargelegte biografische Hintergrund geholfen, Dorothee Sölles theologische und politische Emphase und ihre nicht nur von Fulbert Steffensky notierte Widersprüchlichkeit besser zu verstehen (vergleiche dazu Fulbert Steffensky, a. a. O. S. 102 ff.). Deshalb hat sich die Lektüre für mich auch nach den diversen Begegnungen bei ihren Lesungen, bei dem sich anschließenden spätabendlichen Vesper und bei den Nach- und Nachtgesprächen mit dem einen und anderen Glas Wein gelohnt.

ham, 30. August 2023

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