Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 16. Mai bis 11. August 2024 im K20 der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. Mit einem Vorwort von Susanne Gaensheimer

S. Fischer Verlag, Frankfurt 2024, ISBN 978-3-10-397646-5, 208 Seiten, 100 Abbildungen, Hardcover, gebunden, Format 24,5 x 16,3 cm, € 36,00

Wenn man dem Schweizer Kunsthistoriker Beat Wyss und seiner Publikation ›Der Wille zur Kunst: Zur ästhetischen Mentalität der Moderne‹ aus dem Jahr 1996 folgt, ist das „gegenwendige Reiseziel“ der künstlerischen Avantgarde – mit Ernst Bloch gesprochen – der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch, der das Sein ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet und etwas schafft, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“ (vergleiche dazu Andreas Schalhorn im Journal für Kunstgeschichte 2, 1998, Heft 4, S. 396 ff. In: 30714-Artikeltext-92138-1-10-20160525.pdf und Holger Liebs, Im Zauberwald der reinen Formen. In: https://taz.de/Im-Zauberwald-der-reinen-Formen/!1424215/). „Die Moderne begriff sich selbst als Kollektiv mit Zukunftsaussichten – man wollte einen Erlebnispark mit Erlösungsversprechen bauen: Ob Götterdämmerung, ewiges Feuer oder kosmisches Nichts – im Zauberwald der Moderne bildeten Heilsgeschichten aller Art einen ›elastischen Subtext‹, ein ›Geschwader unscharfer Gedanken‹ aus […]. Ob Piet Mondrian im Straßennetz von Manhattan ›die Vollendung der Kunst‹ sah und auf der Leinwand ins Gleichgewicht eines Koordinatensystems brachte oder ob Martin Heidegger am Schwarzwälder Todtnauberg die Wege zur ›Unverborgenheit des Seins‹ entdeckte und die Wahrheit in Holzpantinen austrug, spielt dabei keine Rolle – beide wurden umströmt von derselben ästhetischen ›Bewußtseinsdroge‹: der Auffassung, daß sich im Kunstwerk ›Wahrheit‹ ereigne“ (Holger Liebs a. a. O.).

Die jetzt von der Kunstkritikerin, Wissenschaftshistorikerin und Hilma af Klint-Kennerin Julia Voss und dem Kunsthistoriker, heutigen Leiter des Unternehmens Acute Art in London und Mitherausgeber des Werkverzeichnisses ›Hilma af Klint – Catalogue Raisonné‹ Daniel Birnbaum zur gleichnamigen Ausstellung in Düsseldorf vorgelegte Studie ›Hilma af Klint und Wassily Kandinsky träumen von der Zukunft‹ bestätigt Wyss: Sowohl Hilma af Klint als auch Wassily Kandinsky haben eine Kunst gesucht, die auf höhere Mächte und das Geistige in der Kunst verweisen.

Hilma af Klint hatte sich nach dem frühen Tod ihrer Schwester bereits im Alter von siebzehn Jahren an Séancen beteiligt und ist 1888 der Theosophischen Gesellschaft beigetreten (vergleiche dazu und zum Folgenden Hilma af Klint. In: https://de.wikipedia.org/wiki/Hilma_af_Klint). Auf der Suche nach der geistigen Dimension der Kunst fungierte sie in der Gruppe ›De Fem‹ (›Die Fünf‹) als Medium und praktizierte lange vor den Surrealisten das automatische Zeichnen und Schreiben. 1906/07 malte sie in Zusammenarbeit mit Anna Cassel ihre ersten abstrakten Bilder in der kleinformatigen ›Urchaos-Serie‹ (vergleiche dazu https://www.kunstsammlung.de/de/klint-kandinsky-audioguide/track7/). In der folgenden, von Augusta Andersson geistig unterstützten scheunentorgroßen Serie ›Die zehn Größten‹ aus dem Jahr 1907 hielt sie den von ihr geglaubten Entwicklungsprozess vom Organischen ins Geistige fest (vergleiche dazu https://www.kunstsammlung.de/de/klint-kandinsky-audioguide/track19/ und https://www.kunstsammlung.de/de/klint-kandinsky-audioguide/track20/). Über den Heiligen Georg (vergleiche dazu https://www.kunstsammlung.de/de/klint-kandinsky-audioguide/track13/) und Parsifal (vergleiche dazu https://www.guggenheim.org/audio/track/the-parsifal-series-1916-by-hilma-af-klint) kam sie im Dezember 1916 zur Überzeugung, dass sie als Atom im Universum über unendliche Entwicklungsmöglichkeiten verfügt, die sie nach und nach zu enthüllen versuchen kann. Wenige Wochen später schuf sie ihre ›Atom-Serie‹ (vergleiche dazu https://www.kunstsammlung.de/de/klint-kandinsky-audioguide/track9/).

Wassily Kandinsky ist erst mit dreißig Jahren zur Kunst und mit seiner zwanzig Jahre jüngeren Schülerin und späteren Partnerin Gabriele Münter nach Murnau am Staffelsee gekommen und hat dort das Dorf gemalt (vergleiche dazu https://www.meisterdrucke.com/kunstdrucke/Wassily-Kandinsky/107123/Murnau,-1909-(Öl).html). Wohl spätestens über eine Postkarte mit einem Werk der in Trance malenden Autodidaktin Wilhelmine Assmann vom Mai 1911 muss er mit der Abstraktion bekannt geworden sein (vergleiche dazu https://mediumistic.art/artists/97-wilhelmine-assmann): „Was konnte Assmann Kandinsky lehren? Im Guten trugen Assmans Bilder dazu bei, den Kreis des Malbaren zu vergrößern, zu weiten, auszudehnen, Neuland zu erobern. Jeder Versuch, jede Abweichung zählte. Das Dogma von Realismus und Naturalismus konnte gar nicht von genug Seiten angegriffen werden. Aus diesem Grund suchte Kandinsky wiederholt den Schulterschluss mit anderen Gruppen und Bewegungen. Mediumismus war nicht die Arbeitsweise, die ihn vorangebracht hatte, aber als Methode eine Möglichkeit, die er als Künstler respektierte und in ›Über das Geistige in der Kunst‹ gegen den Vorwurf des Schwindels verteidigte. Assmann hatte sich in die Ungegenständlichkeit vorgewagt. Damit schuf sie für alle anderen Raum“ (Julia Voss/Daniel Birnbaum, S. 60).

Mit seiner 1911 im Format von 159,5 x 250,5 cm entstandenen ›Komposition IV‹ steht Kandinsky am Übergang von der Figuration zur Abstraktion. Kandinsky war überzeugt, „dass die Wahrnehmung verändert werden müsse, ausgedehnt, erweitert, über die Grenzen des Sichtbaren hinaus. Ihm, dem Künstler, kam die Aufgabe zu, die Menschen auf neue Bahnen zu lenken, die Erkenntnisfähigkeit wie das Gefühlsleben zu revolutionieren. Die Abstraktion nahm in diesem Prozess die Schlüsselrolle ein. Je mehr sich die Malerei vom Gegenstand entfernte, desto größer wurde die geistige Freiheit. Kandinsky verstand die Entwicklung zum abstrakten Malen als fortlaufenden Prozess. Der Weg war das Ziel. Siebenmeilenstiefel gab es nicht und auch keine plötzlichen Sprünge. Der Künstler stand in der Verantwortung, das Maß der Freiheit voll auszuschöpfen, ohne zu weit zu gehen […]. Sich ganz von der Gegenständlichkeit zu lösen, schien ihm falsch, wie er in ›Über das Geistige in der Kunst‹ ausführt: ›Mit ausschließlich rein abstrakten Formen kann der Künstler heute nicht auskommen. Diese Formen sind zu unpräzis. Sich auf ausschließlich Unpräzises beschränken, heißt sich der Möglichkeiten zu berauben, das rein Menschliche ausschließen und dadurch seine Ausdrucksmittel arm machen‹. Diese Balance zu halten, die Gegenständlichkeit aufzulösen, ohne sie ganz zu verwerfen, bildet den schmalen Grat, den Kandinsky beschritt und der mitten hinein in die Seele derjenigen führen sollte, die seine Bilder betrachteten“ (Julia Voss/Daniel Birnbaum und Wassily Kandinsky, S. 66 f.). 

Wie für af Klint (vergleiche dazu https://www.kunstsammlung.de/de/klint-kandinsky-audioguide/track9/) besaß das Atom auch für Kandinsky eine Schlüsselstellung. „Er schrieb: ›Das Zerfallen des Atoms war in meiner Seele dem Zerfall der ganzen Welt gleich. Plötzlich fielen die dicksten Mauern. Alles wurde unsicher, wackelig und weich. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn ein Stein vor mir in der Luft geschmolzen und unsichtbar geworden wäre‹“(Wassily Kandinsky 1913. Zitiert nach Julia Voss / Daniel Birnbaum, S. 117). Die an Marie und Pierre Curie gemeinsam mit Antoine Henri Becquerel 1903 auf dem Feld der Physik vergebenen Nobelpreise und der 1911 an Marie Curie für Chemie vergebenen Nobelpreis spiegeln sich in den flirrenden Silhouetten, Zickzacklinien und dem Chaos von Kandinskys Malerei ›Sintflut I‹ von 1912 (vergleiche dazu https://www.kunstsammlung.de/de/klint-kandinsky-audioguide/track8/). Nahezu parallel dazu arbeitete af Klint an ihrer Serie ›Baum der Erkenntnis‹ (vergleiche dazu https://www.kunstsammlung.de/de/klint-kandinsky-audioguide/track30/). 1912 entsteht der Almanach ›Der Blaue Reiter‹ mit Kandinskys Heiligem Georg auf dem Titel (vergleiche dazu https://www.kunstsammlung.de/de/klint-kandinsky-audioguide/track9/) und 1926 seine Abhandlung ›Punkt, Linie und Fläche‹ über die Dynamik der wesentlichen Elemente der ungegenständlichen Kunst, aus deren Dialektik sich ganz verschiedene Konstellationen ergeben: dynamische, fast brutale, aber auch ruhige und harmonische. Von den drei Formen Dreieck, Quadrat und Kreis gab er der letzten den Vorzug (vergleiche dazu Wassily Kandinsky, Im Blau, 1925. In: https://www.kunstsammlung.de/de/klint-kandinsky-audioguide/track29/).

Im Oktober 1944 starb af Klint wenige Tage vor ihrem 82. Geburtstag und im Dezember Kandinsky wenige Tage vor seinem 78. Geburtstag. Nur wenige Jahre darauf begann ein nicht enden wollender Streit über die Daten der ersten abstrakten Bilder. „Af Klints Werke lagerten währenddessen auf dem Dachboden ihres Neffen in Stockholm und wurden erst zwanzig Jahre, nachdem die Künstlerin gestorben war, aus ihren Kisten geholt. Trotzdem dauerte es fast siebzig Jahre, bis ihre ungegenständliche Malerei international anerkannt wurde“. Sie hatte verfügt, dass ihre Werke erst zwanzig Jahre nach ihrem Tod der Öffentlichkeit zugänglich sein sollten. „Was heißt das für die Geschichte der Abstraktion? Zuallererst beendet die Einsicht die überlieferten Versuche, Kunstgeschichte ohne Frauen zu erzählen. Das Ausmaß, in dem die Geschichte der Abstraktion um die Beiträge von Künstlerinnern bereinigt wurde, ist bekanntermaßen erschreckend. Af Klint oder Assmann wurden die längste Zeit so selbstverständlich übergangen oder aussortiert wie Catherine Dreier oder Hilla von Rebay. Letztere waren nicht nur selbst Malerinnen, sondern gehörten zu der enthusiastischen Lobby, die sich dafür einsetzte, die Abstraktion ins Museum zu holen, allen voran die Werke von Kandinsky. 

Af Klints Werke verlangen, dass wir die Türen wieder öffnen für das, was systematisch unsichtbar gemacht worden ist. Der formalistische Kanon ist eine Geschichte der Ausgrenzung gewesen, mit der die Kunst ihre lebensweltlichen Bezüge verlor. Stattdessen wurde sie zu einem theoretischen Experiment erklärt, das in der Auseinandersetzung mit den Möglichkeitsbedingungen der reinen Malerei bestehen sollte, das heißt mit Fläche und Farbe. Durch dieses starre Raster fiel alles, das nicht ins Schema passte. Die Volkskunst samt dem Heiligen Georg, von dem sich af Klint wie Kandinsky inspirieren ließen. Die Arbeit in Gruppen und Kollektiven, die im Fall von af Klint gemeinsame Séancen, sprechende Geister und kommunizierende Pflanzen mit einschloss. Die Verabschiedung von Geschlechterkonventionen, mit der die Trennung zwischen Mann und Frau aufgehoben wurde. Die Lebensreformbewegungen, die zu einer geistigen Revolution anstiften wollten. Die Begeisterung für die Veränderlichkeit der Materie, die mit der Kunst in Bewegung gesetzt werden sollte. Das magische Denken, das der Kunst transformative Kräfte zusprach. Die Bildschöpfungen von Laien, etwa der Wäscherin Wilhelmine Assmann aus Halle, die auf diese Weise Kontakt zu ihrem verstorbenen Sohn hielt.

Der Abstraktion war das wilde Denken, Fühlen, Lieben und Hoffen ausgetrieben worden. Das war der Preis ihres Erfolgs in der Nachkriegszeit. Wir glauben, dass Kandinsky nicht weniger interessant wird, wenn man ihn in diese durchlässige Kunstgemeinschaft zurückholt […]. Wie af Klint war er davon überzeugt, dass für seine Gemälde bessere Zeiten kommen würden. ›Der Abstraktion gehört die Zukunft‹, schrieb Kandinsky“ (Julia Voss/Daniel Birnbaum S. 186 ff.).

ham, 21. Mai 2024

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