[transcript] Image Band 12, leicht veränderte Version der 2010 von der Philosophischen Fakultät der
Universität Köln angenommenen Dissertation
transcript Verlag Bielefeld, 2017, ISBN 978-3-8376-1613-2, 314 Seiten, 41 Abbildungen, Broschur, Format
22,5 x 14,8 cm, € 33,99
Ernst Bloch ist in seinem Jahrhundertwerk Prinzip Hoffnung noch von der am klassischen Griechisch
orientierten Bedeutung des Wortes Utopie ausgegangen, wenn er seine Vorstellung vom Umbau der Welt
durch den Menschen an den Ort verlegt, den noch niemand betrat: „Der Mensch lebt noch überall in der
Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche
Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und
Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der
arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das
Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das
allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ (Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung,
Frankfurt 1968, S. 1628).
Die Dissertation der Kunstgeschichtlerin, Germanistin, Kuratorin und derzeitigen Leiterin der Wilhelm
Wagenfeld Stiftung in Bremen Julia Bulk teilt Blochs teleologisch begründeten Utopiebegriff nicht; sie geht
statt dessen mit dem Politikwissenschaftler Richard Saage davon aus, dass Utopien als
„»Resonanzphänomene auf soziale Krisen«“ zu verstehen sind. Eine Utopie ist „keine Träumerei ohne Bezug
auf die Gesellschaft, der sie entstammt, sondern äußert vielfältige Kritik an ihr. Doch ein utopischer Entwurf
bleibt – so das zweite Merkmal – nicht auf der Stufe der Kritik stehen, sondern entwickelt
Lösungsvorschläge, die so miteinander vernetzt sind, dass sie sich »qua Negation [] zur jeweils bestehenden
Realität« zu einer Gegenwelt verdichten“ (Richard Saage / Julia Bulk S. 12). Gelebte Utopien können nach
diesem Verständnis durchaus in die bestehenden Verhältnisse eingreifen und sie im Sinne der
weitergedachten antiken Selbstsorge verändern, ja sie müssen es geradezu.
Die in der Arbeit besprochenen ab den mittleren 1990er Jahren entstandenen Künstlergruppen Atelier Van
Lieshout (vergleiche dazu etwa AVL Freistaat Rotterdam https://www.google.de/search?
q=atelier+van+lieshout,
+freistaat+rotterdam&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwietIPvvY7ZAhXQblAKHV9C
DDsQsAQINA&biw=1656&bih=935), N55 (Ingvil Aarbakke, Rikke Luther, Ion Sørvin, Cecilia Wendt,
vergleiche dazu https://www.google.de/search?biw=1656&bih=935&tbm=isch&sa=1&ei=ZNl2Ws_WFMakwWwl6ywBw&
q=K%C3%BCnstlergruppe+N55&oq=K%C3%BCnstlergruppe+N55&gs_l=psy-ab.
12…2613.10784.0.12845.19.12.0.7.7.0.118.1067.9j2.12.0….0…1c.1.64.psy-ab..
0.16.1162.0..0j0i30k1j0i24k1.56.aHY5UQqe08g), Anke Haarmann [AHA] (vergleiche dazu https://
www.google.de/search?
biw=1656&bih=935&tbm=isch&sa=1&ei=cdl2Wsj9M4nOsAfS462AAQ&q=anke+haarmann&oq=Anke+H
aarmann&gs_l=psy-ab.1.0.0j0i24k1.66486.70058.0.72328.14.11.0.3.3.0.102.965.8j2.11.0….0…1c.1.64.psyab..
0.13.1074.0..0i67k1j0i30k1j0i8i30k1j0i10i24k1.54.0BOhT8hrt3g#imgrc=0H-Zxma9QmBsZM:) und das
IPFO. Institut für Paradiesforschung (Christina Dilger, Marina Thies, vergleiche dazu http://
www.mediamatics.de/ipfo.html) schließen sich an Utopien an, „die seit Mitte der 1970er Jahre darauf
reagierten, dass ›das Leitbild des >Technischen Staates< in eine Krise geriet und die postindustrielle
Gesellschaft sich neu orientierte“ (Julia Bulk S. 245). Gemeinschaftliche Produktionsformen im Sinne von
kollektiver kreativer Transformation von bestehenden Verhältnissen wurden zu ihrem gemeinsamen
Kennzeichen. „Die zeitgenössischen Gruppen gehen insofern über die postmaterielle Utopie hinaus, als es
ihre gemeinschaftliche Produktionsform erlaubt, einen Möglichkeitsraum aufzubauen, der offen ist für
Veränderung. In der literarischen Utopie kann dieser Möglichkeitsraum nur kurz angedeutet werden und
bietet dem Leser keine konkreten Anhaltspunkte. Im Gegensatz dazu schaffen die hier besprochenen
Künstlergruppen greifbare Möglichkeitsräume, die sowohl Zeit als auch Raum geben für vielfältige Formen
der Partizipation […]. So können sie aufbauen, was Joachim Fest in der Geschichte der Utopie bisher
vergeblich gesucht hat: den utopischen Raum als ›ein wirklich offenes Gemeinwesen‹“ (Julia Bulk S. 276).
Es wäre lohnend, zu diskutieren, ob und inwieweit der in den Künstlergruppen versuchte Aufbau utopischer
Räume tatsächlich schon wirklich offene Gemeinwesen auf den Weg gebracht hat oder ob nicht nur alte
durch gruppeninterne Herrschaftsstrukturen und Hierarchien ersetzt worden sind. Lag, um nur eine
Detailfrage anzudeuten, das Scheitern des vom Atelier Van Lieshout im Jahr 2001 im Hafen von Rotterdam
ausgerufenen „Freistaats“ nach nicht einmal einem Jahr wirklich nur an der herrschenden Bürokratie? Und es
wäre ebenso spannend, der Frage nachzugehen, warum Julia Bulk den wahrscheinlichen Einfluss der 68er
auf die von ihr besprochenen Künstlergruppen nicht thematisiert. Rudi Dutschke hatte 1967 immerhin davon
gesprochenen, dass immer mehr Menschen das Schicksal in die eigene Hand nehmen, aber wir gegenwärtig
sicherlich nicht davon ausgehen können, dass die Herrschaft von Menschen über Menschen in absehbarer
Zeit verschwinden wird. Die „für profit- und herrschaftsorientierte Gesellschaftsordnungen typischen
Konsumtionsexzesse – Kriege sowie die ungeheuren toten Kosten; Rüstung, unnütze Verwaltung und
Bürokratie, unausgenutzte Industriekapazitäten, Reklame –“ und die mit ihnen einhergehende systematische
Kapitalvernichtung „macht es unmöglich, den Garten Eden historisch zu verwirklichen“ (vergleiche dazu
Rudi Dutschke im Spiegel-Interview vom 10.07.1967 „Wir fordern die Enteignung Axel Springers“ unter
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46225038.html, abgerufen am 3.02.2018).
ham, 3. Februar 2018
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