Siedler Verlag, München, in der Pinguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München, 2025. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. 480 Seiten, Hardcover, mit Schutzumschlag, Format 21,8 x 14 cm, 

€ 28,00

Der 1943 in Gary, Indiana, geborene neukeynesianische Ökonom, Politikberater, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Columbia University, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften von 2001 und ehemaliger Chefökonom der Weltbank Joseph Stiglitz führt in seiner breit angelegten Publikation »Der Weg zur Freiheit. Ökonomie für eine gerechte Gesellschaft« detailliert aus, warum liberale Volkswirtschaften nicht nur ineffizient, sondern auch nicht zukunftsfähig sind. Nach Steglitz hat die politische Rechte lange Zeit versucht, sich ein Monopol auf den Freiheitsbegriff zu sichern. Milton Friedman und Friedrich von Hayek behaupteten, wirtschaftliche und politische Freiheiten seien eng miteinander verbunden und erstere notwendig für letztere. Stiglitz vertritt demgegenüber die Auffassung, dass das Wirtschaftssystem, das sich unter dem Einfluss dieser Denker entwickelt hat, echte Demokratie und wirkliche politische Freiheit untergräbt. Echte politische Freiheit ist seiner Auffassung nach nur im Rahmen eines Wirtschaftssystems wie dem des progressiven Kapitalismus gewährleistet, der für ein Mindestmaß an geteiltem Wohlstand sorgt und nicht unanständig von Macht und Geld beeinflusst ist.

Nach Friedman und Hayek sind freie, unregulierte Märkte von sich aus effizient. Wenn der Staat auf Abstand gehalten wird, werden Wettbewerbsmärkte sich selbst erhaltende Mechanismen, die notwendig sind, um das reibungslose Funktionieren der Demokratie zu gewährleisten. Um den Abstieg in die Knechtschaft zu vermeiden, bedarf es im neoliberalen Denken eines möglichst schlanken Staates, der sich hauptsächlich um die Durchsetzung von Eigentumsrechten und Verträgen kümmert und sich von der Bereitstellung öffentlicher Güter, Regulierung und Umverteilung zurückzieht. Nach Steglitz irren sich Friedman und Hayek und die zahllosen anderen, die ihre Meinung teilen. Sich selbst überlassene Märkte sind seiner Auffassung nach nie effizient.

Viele Gründe sprechen dafür, dass eine mehr liberale Marktwirtschaft dazu neigt, sich selbst zu zerstören. Eine Marktwirtschaft beruht auf Vertrauen. Adam Smith hob die Bedeutung von Vertrauen hervor und erkannte, dass eine Gesellschaft nicht überleben kann, wenn Menschen schamlos ihr Eigeninteresse verfolgen, statt sich an Regeln des guten Benehmens zu halten. So müssen beispielsweise Verträge erfüllt werden. Wenn jeder Vertrag gerichtlich eingeklagt werden müsste, wären die damit verbundenen Kosten untragbar. Und: Wer würde ohne Vertrauen in die Zukunft Geld auf die hohe Kante legen? 

Die Anreize des neoliberalen Kapitalismus konzentrieren sich auf Eigennutz und materielles Wohl; sie haben im Vorfeld der Finanzkrise von 2008 erheblich dazu beigetragen, Vertrauen zu schwächen. „Ohne angemessene Regulierung verhalten sich zu viele Menschen in ihrem eigennützigen Streben auf eine Weise, die nicht vertrauenswürdig ist, und sie tummeln sich in der rechtlichen Grauzone und überschreiten die Grenzen der Moral. Wir haben auch gesehen, wie der Neoliberalismus Egoismus und Unehrlichkeit fördert. Ein ›Geschäftsmann‹ wie Donald Trump kann über Jahre, sogar Jahrzehnte erfolgreich sein, indem er andere ausbeutet. Wenn Trump die Norm und nicht die Ausnahme wäre, dann kämen Handel und Industrie zum Stillstand“ (Josef Stiglitz, Seite 385).

Auch um wirtschaftliche Machtkonzentration zu vermeiden, braucht es Markt, Eingriffe, Gesetze und von Mehrheiten getragenes kollektives Handeln. Die liberale Idee freier Wettbewerbsmärkte würde ohne staatliche Eingriffe schnell versanden. Es hat sich gezeigt, dass Menschen mit Macht allzu oft alles tun, um diese Macht zu behalten. So schreiben sie die Regeln des Machterhalts in aller Regel selbst. In der Welt des neoliberalen Kapitalismus spielen Vermögen und Macht eine immer größere Rolle. Wirtschaftliche Macht wird auf vielfältige Weise in politische Macht umgewandelt und untergräbt so den demokratischen Grundsatz, dass jeder Bürger eine und nur eine Stimme hat. In einigen Ländern werden sogar Stimmen gekauft und Reiche können sich mehr Stimmen leisten. In hoch entwickelten Ländern nützen die Reichen ihren Einfluss in den Medien, um ihre Narrative zu positionieren und durchzusetzen. Kompromisse zwischen oben und unten werden schwieriger, wenn sich die politische Macht auf die obere Seite und deren Spitze, das eine Prozent mit dem meisten Geld konzentriert. In den USA werden die Steuern der Reichen auf Kosten der gesellschaftlichen Mitte gesenkt und die Gesundheitsversorgung eingeschränkt (vergleiche dazu https://www.aerzteblatt.de/archiv/us-gesundheitssystem-revolution-oder-scheitern-65eca99b-5d41-498f-b8c3-9472f272bc0c und https://www.amnesty.de/mitmachen/urgent-action/usa-diskriminierung-bei-der-Gesundheitsversorgung-2025-04-02). Und es ist fraglich, ob die heutigen politischen und wirtschaftlichen Systeme über genügend Schutzmechanismen verfügen, um wirtschaftliche und politische Freiheit in einem relevanten Umfang zu bewahren. „Wir brauchen nicht nur ein staatliches System der Gewaltenteilung …, sondern auch, breiter angelegt, ein solches innerhalb der Gesellschaft. Eine starke Demokratie mit breiter Partizipation ist ebenfalls notwendig; das bedeutet, dass Gesetze, die darauf abzielen, demokratische Teilhabe zurückzudrängen, abgeschafft werden müssen; dies schließt auch Gesetze zur Einschränkung des Wahlrechts ein“ (Joseph Stiglitz, S. 389). Letztendlich ist der ungezügelte neoliberale Kapitalismus unvereinbar mit einer langfristig stabilen demokratischen Ordnung.

Für geteilten Wohlstand und den Aufbau einer gerechten und wirklich menschenwürdigen Gesellschaft ist es unabdingbar, die Machtverhältnisse in allen Dimensionen der amerikanischen Gesellschaft (private Haushalte, Unternehmen, Wirtschaft und Politik) neu auszubalancieren. Das heutige Machtungleichgewicht hat die Freiheit der Großkonzerne erweitert, während es die Freiheit der Durchschnittsbürger einschränkte.  Um eine bessere Balance zu erreichen, muss die Wirtschafts- und Rechtsordnung Regel für Regel, Vorschrift für Vorschrift und Institution für Institution neu aufgebaut werden, um eine dezentrale Wirtschaftsstruktur mit auf verschiedene Instanzen aufgeteilter und ausbalancierter Macht aufzubauen. Die Zivilgesellschaft und die Presse kontrollieren einander, aber das sollte auch zwischen Privatunternehmen und der Regierung gelten. „In der Politikwissenschaft basiert das Standardargument für die staatliche Gewaltenteilung auf der Idee von wechselseitiger Kontrolle und einer Balance der Macht; aber genauso wichtig sind wechselseitige Kontrollen und Gegengewichte innerhalb der Gesellschaft. Wenn es im gewinnorientierten Privatsektor eine übermächtige Machtballung gibt, dann werden die Reichen und mächtigen Unternehmen, unabhängig von den formalen Strukturen, einen unangemessen großen Einfluss auf die öffentliche Sphäre ausüben“ (Joseph Stiglitz, S. 367).

Analoges gilt für das aus der zunehmenden Konzentration von Vermögen und Konzernmacht folgende wachsende Machtungleichgewicht zwischen Konzernen und Arbeitnehmern und für den Zugang zur Gesundheitsversorgung.  

Deshalb tritt Steglitz für ein neues Austarieren des Verhältnisses zwischen dem privaten Sektor und dem kollektiven Handeln auf allen Ebenen ein. Nach seiner Meinung ging der Kommunismus zu weit in eine Richtung; der Reagan–Thatcherismus ging zu weit in die entgegengesetzte Richtung, und der Dritte Weg, wie er von Clinton, Blair und Schröder repräsentiert wurde, war eine unzureichende Korrektur. Dieser bekannte sich zum Neoliberalismus, zum Materialismus und zu freien Märkten, schenkte aber der sozialen Gerechtigkeit nicht genügend Beachtung. Tatsächlich erlebten Freihandelsabkommen mit Investitionsvereinbarungen und Finanzmarktliberalisierung ihre Hochphase während der Regierung Clinton. Steuern auf Kapitalerträge, von denen ganz überwiegend die Superreichen profitierten, wurden gesenkt.

In der Folge setzt Stiglitz auf kollektives Handeln. Kollektives Handeln kann viele Formen annehmen. Beispiele für kollektives Handeln sind NGOs, Gewerkschaften, kirchliche Gruppen, Erzeuger- und Verbrauchergenossenschaften, Sammelklagen, Naturschutzgesellschaften und eine Vielzahl anderer Gruppen, die sich für Anliegen, an die sie glauben, einsetzen. „Ein Schlüsselelement kollektiven Handelns sind höhere öffentliche Investitionen in Kinder und deren Zukunft, in Forschung und, allgemeiner, in die soziale und physische Infrastruktur. Diese Investitionen werden nicht bloß das Wachstum fördern, sie werden auch einfachen Bürgen mehr Chancen (Freiheiten) bringen. Natürliches Mitgefühl mit anderen sollte uns eine Abneigung gegen das gegenwärtige System einflößen, indem die Chancen eines Kindes in hohem Maße von dem Einkommen und dem Bildungsniveau seiner Eltern abhängen. Eine weitere Schlüsselkomponente ist eine soziale Absicherung gegen die Wechselfälle des Lebens, auch gegen die Risiken, die selbst dann noch von Märkten ausgehen, wenn sie gezügelt und gezähmt sind. Technologien wandeln sich in einem fort, sodass nur wenige Arbeitnehmer wirklich sichere Arbeitsplätze haben. Und niemand kann sicher sein, dass er nicht jäh von einer schweren Krankheit aus der Bahn geworfen wird. Soziale Absicherung als solche wirkt befreiend. Sie gibt Menschen die Freiheit, Risiken einzugehen, die sie andernfalls nicht eingehen würden, weil sie dann nämlich Gefahr liefen, im Fall des Scheiterns mittellos dazustehen. Aus diesem Grund können Gesellschaften mit besseren sozialen Sicherungssystemen innovativer sein als andere“ (Joseph Stiglitz, S. 370 f.).

Auf die Frage von Kritikern, ob der Kapitalismus überhaupt progressiv sein kann und ob das nicht ein Widerspruch in sich selbst ist, antwortet Stiglitz: „Das System, das ich skizziert habe, unterscheidet sich erheblich von dem gegenwärtigen, auch wenn beide den Begriff ›Kapitalismus‹ teilen. Das ›Kapital‹, das im progressiven Kapitalismus des 21. Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung ist, ist nicht bloß materielles oder finanzielles Kapital, vielmehr umfasst es auch Humankapital, intellektuelles, organisationales, soziales und natürliches Kapital – sämtliche Grundlagen unserer Volkswirtschaft. Tatsächlich ist es unabdingbar, dass wir Kapitalismus in diesem erweiterten Sinne verstehen, weil wir damit dem stetigen Wandel unserer Wirtschaft und Gesellschaft Rechnung tragen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem auf Grundlage der von mir umrissenen Prinzipien aufbauen können. Selbst wenn es uns nicht gelingt, eine ›ideale‹ Gesellschaft zu erschaffen, können wir ein kapitalistisches System entwickeln, das viel besser ist als dessen gegenwärtige Spielart“ (Josef Stieglitz, Seite 374).

Es wird interessant sein zu beobachten, ob das heute vom schwarz-roten Bundeskabinett beschlossene milliardenschwere Steuerpaket nur der deutschen Wirtschaft oder auch den Normalbürgern und denen zugutekommen wird, die armutsgefährdet sind und der Neuen Unterschicht zugerechnet werden (vergleiche dazu ›Abschreibungen und Steuern. Klingbeil plant umfassende Entlastungen für Unternehmen‹ in: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/klingbeil-steuern-abschreibungen-100.html; ›Mittelschicht in Deutschland leicht geschrumpft‹. In: https://www.ifo.de/pressemitteilung/2023-08-07/mittelschicht-deutschland-leicht-geschrumpft ; ›Armutsgefährdungsquote in Deutschland‹ in: https://de.statista.com/themen/8333/soziale-schichten-lagen-und-milieus/#topicOverview; ›Neue Unterschicht‹ in: https://de.wikipedia.org/wiki/Neue_Unterschicht). 

ham, 4. Juni 2025

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