Publikation parallel zur gleichnamige Ausstellung vom 28.10.2015 – 6.3.2016 in der Pinakothek der Moderne München mit Texten von Juri Andruchowytsch und Bernhard Maaz
Sieveking Verlag, München und Berlin, 2015, ISBN 978-3-944874-14-2, 160 Seiten, 72 farbige
Abbildungen, Hardcover gebunden, Format 27,5 x 24 cm, € 49,90 (D) / € 51,30 (A)
Die 1977 in Hamburg geborene deutsche Fotografin Johanna Diehl ist mit Fotoserien über die Architektur faschistischer Mustersiedlungen in Italien und Innenaufnahmen von zu Moscheen umgewidmeten christlichen Kirchen auf Zypern bekannt geworden. Sie arbeitet mit der Plattenkamera und beschränkt sich in aller Regel auf eine Aufnahme. Ihre Aufnahmen sind puristisch, streng komponiert und menschenleer. Die Serialität ihrer Aufnahmen „ist in der deutschen Fotografie seit Bernd und Hilla Becher oder auch von Candida Höfer bekannt; die Seriosität derartiger Recherche und die geradezu philosophisch-politische Dimension der fragenden Beobachtungen hat Tim Rautert praktiziert, die nahezu stoische Kontinuität des Reisens … und des Aufsuchens vergessener Orte aber ist Johanna Diehls Werk und Ansatz. Dabei sehen wir die Bauten nicht von außen … , sondern wir schauen in ihr Inneres, ihr Herz, ihren ausgeweideten Innenraum, und dabei kann manches Erschaudern nicht ausbleiben“ (Bernhard Maaz, Phantomschmerz. In Johanna Diehl, a.a.O. S. 12).
Beim ersten Überblättern ihrer 2013 geschaffene Serie von zu Kinos, Sporthallen, Werkstätten, Fabriken, Warenhäuser, Krankenhäusern oder schlichten Rumpelkammern zweckentfremdeten und verfallenen
Synagogen aus der Ukraine mag man an das vergleichbare Schicksal von Kirchen in der 1991 aufgelösten
UDSSR oder auch an die umgewidmeten Kirchen in den Niederlanden denken. Aber wenn man sich näher
auf einzelne Aufnahmen wie Lviv I (Diptychon), 2013, C – Prints, je 134 x 106 cm einlässt und nachforscht, wie es zu dem heute als Bank- und Stuhllager genutzten ruinösen Innenraum gekommen ist, erschrickt man zutiefst: Der Innenraum gehört zu der in den Jahren 1841 – 44 in Lemberg als Jakob Glanzer Schul erbauten Chassidischen Synagoge, die während der Besatzung durch das Deutsch Reich verwüstet und als Pferdestall benutzt worden ist. In der UDSSR wurde die Hauptgebetshalle in eine Sporthalle umgewandelt (https://translate.google.de/translate? l=de&sl=en&u=https://en.wikipedia.org/wiki/ Jakob_Glanzer_Shul&prev=search). Heute ist sie baufällig. Die Jakob Glanzer Schul war eine von etwa 45 Synagogen und Bethäusern, die bis zum Zweiten Weltkrieg in Lemberg existiert haben, Lemberg bis dahin ein Zentrum des europäischen Judentums. „Bis zum Zweiten Weltkrieg war rund ein Drittel der 350.000 Stadtbewohner jüdisch. Die deutsche Besatzungszeit von 1941-1944 überlebten nur 3.400 Juden. All die anderen wurden in Gettos, Arbeits- und Vernichtungslagern ermordet“ (LembergLVIV. Jüdische Erinnerungsorte in Lemberg- eine Bestandsaufnahme, Editorial von Sonja Longloius und Katharina Schubert, 2007/08, cf. www.lemberg-ausstellung.de). „Von den vielen verschiedenen Synagogen … , die damals von den unterschiedlichsten Gruppierungen in der Krakauer Vorstadt eingerichtet wurden, ist heute nur noch ein einziges Gebäude zu sehen: die ehemals chassidische >>Jacob Glanzer Schul<< … In Lemberg leben heute nur noch etwa 1.000 Juden“ (Katharina Schubert, Leerstellen im Gedächtnis einer Stadt. In: LembergLVIV).
Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch hat der Jakob Glanzer Schul folgenden, in Auszügen
zitierten Text gewidmet: „Das hier ist ein bisschen meine eigene Geschichte - diese Synagoge habe ich
mehrere Jahre lang besucht. Manchmal bis zu zweimal pro Woche. Jedoch nicht aus einem rituellen
Bedürfnis heraus. Also ich wusste nicht, dass es eine Synagoge ist. Oder wusste ich es? Was habe ich damals über jenen Saal gedacht - warum war es so? Zum Beispiel diese hohen Bogenfenster - warum? Ich habe doch wohl kaum glauben können, dass diese Turnhalle, in der wir laufen, im Entengang gehen, unsere eigenen Schatten jagen, in der wir atmen und schwitzen, immer eine Turnhalle war? O Gleichgültigkeit, du interessierst dich nicht für Geheimnisse! Erahnst sie nicht einmal, wenn sie ganz nahe sind … Ich habe keine Fragen gestellt, ich habe Volleyball gespielt … Der Ball über dem Netz ist Objekt von Verbeugung und Opfer, man muss ihn auf den Boden im Feld des anderen zwingen. Du schaust nur auf ihn. Er fliegt. Und du hast keinen Sinn für Chassiden oder ihre Versammlungen, von denen du nicht den leisesten Schimmer hast. >>Chassidim<< ? Chassidendom? Hier, bei all den Mädchen in engen Trikots, den verschwitzten Mädchen?
O Jakob Glanzer, verzeih! Dein Haus wurde enteignet, schlimmer aber ist, dass sogar schon die Enteignung vergessen wurde. Ebenso wie du und alle, die hier gemeinsam beteten. Auf immer vergessen. Lange Jahre vergessen. Vergessen für den Augenblick, in dem der Ball mir zufliegt. Ich treffe ihn … zu fest … , der Ball schießt nach oben, seine Bahn total fatal. Nicht das Fenster - die Welt geht in Scherben. Jakob Glanzer, das wollte ich nicht. Ich wusste nichts“ (Juri Andruchowytsch, Lemberg. In: Johanna Diehl, Ukraine Series).
ham, 22.10.2015
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