Verlag C.H.Beck, München, 2021, ISBN 978-3-406-76627-5, 431 Seiten, 30 Abbildungen, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, € 29,95

Wer um 1968 Evangelische Theologie studiert hat, wird sich sehr wahrscheinlich mit der Studentenrevolte, dem Vietnamkrieg und im Fach Kirchengeschichte möglicherweise auch mit den sich zunehmend radikalisierenden Münsteraner Täufern und ihrem Ende im Jahr 1535 beschäftigt haben; er wird Jürgen Moltmanns Theologie der Hoffnung studiert und sich spätestens bei der Examensvorbereitung mit dem Werden der Lehre von Gott Vater, Sohn und heiligem Geist und ihren dogmatischen Feinheiten herumgeschlagen haben. Aber die dritte Person der Gottheit wird mutmaßlich nicht im Mittelpunkt seiner Studien gestanden haben. Wichtige Werke zum heiligen Geist sind erst etwas später publiziert worden, so Jürgen Moltmanns ›Kirche in der Kraft des Geistes‹ im Jahr 1975, sein ›Gott in der Schöpfung‹ 1985 und seine ganzheitliche Pneumatologie ›Der Geist des Lebens‹ 1991. Walter Kaspers und Gerhard Sauters ›Kirche – Ort des Geistes‹ ist 1976 erschienen; Wolfhart Pannenberg hat seine ›Anthropologie in theologischer Perspektive‹ 1983 und seine dreibändige ›Systematische Theologie 1988, 1991 und 1993 vorgelegt. Eilert Herms hat sich 1987 mit ›Luthers Auslegung des Dritten Artikels‹ beschäftigt und Michael Welker seine ›Theologie des Heiligen Geistes‹ 1992 an die Öffentlichkeit weitergegeben. Nur wenige dürften schon 1970 auf Michael Theunissens ›Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat‹ gestoßen sein.

50 Jahre später ist die Flut der Veröffentlichungen zu den Themen Geist und Heiliger Geist kaum mehr zu überschauen. Deshalb ist es ein Glücksfall, dass jetzt mit Jörg Lausters glänzend geschriebener Biografie des heiligen Geistes ein weit ausgreifender Überblick über die unterschiedlichen Facetten des Phänomens Geist vom Schweben des Geistes Gottes über dem Wasser aus 1. Mose 1, 2 bis zu gegenwärtigen materialistischen und neodarwinistischen Konzeptionen von Geist und Kosmos vorliegt. Dass sich der 1966 in Heidelberg geborene und seit 2015 an der Ludwig-Maximilians-Universität München Systematische Theologie lehrende evangelische Theologe Jörg Lauster in der liberalen Theologie verortet, wird spätestens mit seiner 2005 erschienenen theologischen Hermeneutik ›Religion als Lebensdeutung‹ deutlich (vergleiche dazu und zum folgenden http://www.thlz.com/artikel/6003/).

Lauster geht in seiner Hermeneutik von der kulturanthropologischen Beobachtung aus, dass Menschen den Dingen und Erfahrungen Bedeutung verleihen und sich dadurch ihre Welt erschließen. Wenn Menschen ihr Leben im Horizont der göttlichen Transzendenz interpretieren, spricht Lauster von Religion. Die Bibel steht paradigmatisch für diese Form der Deutung, die auch an den Grenzen des Lebens nicht endet. „Es geht L. darum, ›dass Menschen in ihrer Endlichkeit und Flüchtigkeit, in ihrer Zerrissenheit und Fragwürdigkeit, in ihrer Sehnsucht nach Glück und der Hoffnung auf Erfüllung, in ihrer Teilhabe am Geist und der Ahnung des Ewigen durch die großen Lebensdeutungen des Christentums sich selbst und ihr Leben besser und tiefer verstehen können‹“ (Wolfgang Erich Müller in http://www.thlz.com/artikel/6003/).

Dieser Versuch, den Horizont des Lebens in der Welt besser und tiefer zu verstehen, begleitet auch seine Biografie des heiligen Geistes. Lauster geht von der Erfahrung aus, dass die Welt, in der der Mensch lebt, „nicht stumm ist. Aus der Welt steigt ein Rauschen auf, das den Menschen anspricht, fordert, schreckt und beruhigt. Das Rauschen kann in einer klaren Melodie hervorströmen, es kann ruhig dahinfließen, es kann in einem plötzlichen Brausen hereinbrechen oder als dunkles Grollen das menschliche Weiterleben fluten. Für dieses Rauschen hat das Christentum aus tiefer Vergangenheit eine Erklärung: Das Rauschen der Welt ist die Gegenwart des göttlichen Geistes. Denn Gott ist in der Welt präsent als Geist. Niemand geringeres als Jesus Christus hat dieses Herz der christlichen Überzeugung im Johannesevangelium in drei Worten zusammengefasst. ›Gott ist Geist‹ (Joh 4,24)“ (Jörg Lauster S.9). Der Geist aber weht, wo er will und ist schwer zu fassen. Deshalb stand das werdende Christentum vor der Herausforderung, „das Brausen des Geistes Christi in eine verlässliche Form zu überführen. Diese Materialisierung des Geistes war ein aufwühlender und konfliktbeladener Prozess, denn er arbeitet sich an etwas ab, was an sich unmöglich ist: Das Unsichtbare sichtbar zu machen. Es zählt zu den großartigsten Leistungen des Christentums, diesen Übergang gemeistert zu haben. Die Wege, die das Christentum … mit der Ausbildung von kirchlichen Strukturen, Ämtern und auch mit Sakramenten in der Antike einschlug, prägen seine Erscheinungsformen bis heute. Doch den unsichtbaren Geist in Formen zu bringen, hat von Beginn an Widerstände hervorgerufen. Protestbewegungen des Geistes gab es immer und gibt es noch. Mit der Formgebung des Geistes kann das Christentum nie zu Ende kommen, sie ist im Fluss, solange es die Kirche geben wird“ (Jörg Lauster S. 11).

Für die ersten Christen war klar, dass sich der Geist Gottes in Jesus Christus inkarniert. Wie kann er aber gegenwärtig bleiben, wenn Jesus gestorben ist? Für Paulus sind es die Gaben des Geistes, „in denen Christus nach seinem Tod in der Welt unfassbar und doch machtvoll gegenwärtig ist. Die Geistesgaben lassen den Menschen schon jetzt aus einer Kraft leben, die diese Welt überragt, ohne dass er selbst dieser Welt enthoben wäre. Auferstehung – für Paulus ist das die Gegenwart des Geistes Christi, kein Faktum, sondern eine existentielle Haltung“ (Jörg Lauster S. 42). Paulus lässt offen, wie und warum der Geist zu den Christen kam. Diese Frage löst Markus mit der Erzählung von der Taufe Jesu. Lukas verlegt die Antwort in die Ankündigung der Geburt Jesu an Maria zurück: „Der Heilige Geist wird über dich kommen; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden“ (Lukas 1,35). Die Kraft des göttlichen Geistes aber bleibt nicht auf den Sohn Gottes beschränkt, sondern geht auch auf seine Anhänger über und wirkt in ihnen fort. Davon erzählt das Wunder von Pfingsten (Apostelgeschichte 1,1-13): Es „geschah … ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Sturm … Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt und wie von Feuer, und setzten sich auf jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in anderen Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden gab“ (Apostelgeschichte 2, 3 f.). 

Lukas scheint es zu reichen, den Geistbesitz auf Jesus zurückführen zu können. Johannes will schließlich auch noch wissen, warum Jesus den Geist weitergibt. Seine Antwort ist, dass Gott im Namen Jesus den Geist als Tröster schickt, der die Gemeinde davor bewahrt, in der Zeit seiner Abwesenheit verwaist zu sein und sie an alles erinnert, was er ihnen gesagt hat. „Johannes geht weit über den lukanischen Heilsplan hinaus und verleiht der Lebensform des ersten Christentums nach dem irdischen Leben Jesu eine besondere religiöse Qualität … Der Gedanke ist … faszinierend: eine religiöse Apologie der späten Geburt aus der Theologie des Geistes heraus. Die Gegenwart des Geistes ist der überlegenere und kräftigere Modus göttlicher Präsenz in der Welt, aus ihr empfängt der Mensch allen Trost“ (Jörg Lauster S. 53). 

In der Gemeinschaft der Christen, der Gemeinde, ihren Ämtern und ihren Sakramenten nimmt der Geist Form an. „Ohne Formgebung verweht der Geist wie der Wind … Seine Gestaltwerdung ist darum Teil seiner Wirkungsgeschichte, seine Materialisierung in Institutionen, Personen, sogar Elementen eine religiöse Erfolgsgeschichte. Materialisierung schafft Vereindeutigung und Sicherheit – das ist die Größe der Materialisierung des Geistes. Es gibt aber auch die Kehrseite. Vereindeutigung ist auch immer Vereinseitigung. Das Brodelnde in der Verhältnisbestimmung von Geist und Form schwindet. Die Materie saugt den Geist auf – das ist die Grenze der Materialisierung des Geistes“ (Jörg Lauster S. 93). Das Kapitel ›Den Geist denken: Der Geist und das Dogma‹ schließt den ersten Teil ab. „Die Theologie der Alten Kirche hat sich in vielen Versuchen über den heiligen Geist an der Spannung zwischen göttlichem Ursprung und Gabe abgearbeitet. Wenn sie mehrheitlich am Ende an der Göttlichkeit des Geistes festhielt, dann ist dies eine der Kraft des Denkens abgerungene Erkenntnis. Sie verdankt sich dem Vertrauen, dass menschliches Denken etwas von der Wahrheit des göttlichen Wirkens erfassen und mitteilen kann“ (Jörg Lauster S. 108 f.).

Diesem göttlichen Wirken gehen auch die weiteren Teile unter anderem in Kapiteln über die Mystik und den Geist Gottes in der Seele, über Freiheit, Gottebenbildlichkeit und die Verwandtschaft des Menschen mit Gott, über Begeisterung und Inspiration, die Kraft der Utopie, den Geist in der Geschichte als Versöhnung, das Pfingstchristentum und den Geist in der Natur nach. Für das Zusammendenken von Geist und Materie und göttlichem und menschlichem Geist ist der Florentiner Neuplatoniker Marsilio Ficino (1433 – 1499) zentral (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Marsilio_Ficino ). Ficino baut den Neuplatonismus in der Renaissance zu einem Stufenmodell des Kosmos aus, das „die dichothome Scheidung zwischen Geist und Materie in das überführt, was Arthur O. Lovejoy … mit der Formel ›The Great Chain of Being‹ – die große Kette des Seins – zu Ehren brachte. Die Seele ist der Mittelpunkt der Welt, sie bildet die Nahtstelle zwischen Geist und Materie und bindet beide zusammen. Daraus leitet Ficino die Sonderstellung des Menschen im Aufbau des Kosmos ab. 

Die Verbindung zwischen Geist und Materie leisten die unterschiedlichen Vermögen der Seele. Ein – wie wir heute sagen würden – vegetativer Teil lenkt den Körper, während das obere Vermögen, die Vernunft (ratio) auf die geistige Sphäre des Kosmos ausgerichtet ist … Innerhalb der Ratio nimmt Ficino noch einen obersten Teil an, die mens, was gemeinhin mit Geist übersetzt wird … Die Vermögen der Seele, die Organisierung des Körpers und des Geistes, resultieren aus zwei Kräften, die auf die Seele einwirken. Zum einen übt die Materie eine Anziehungskraft aus, sie lenkt die Seele zu allem Körperlichen hin. Auf der anderen Seite zieht die Sphäre des Geistes die Seele zu sich empor. Sinnfälligster Ausdruck der göttlichen Anziehung ist für ihn die Religion … Berühmt geworden ist Ficino für seine Philosophie der Liebe. Auch sie ist in die Aufstiegsdynamik der menschlichen Seele eingebunden. Die Schönheit der Welt, aber auch die Schönheit von Menschen sind Spuren Gottes, welche die Seele zu Gott hinführen. Schönheit ist … der Köder, den Gott auslegt, um den Menschen zu sich emporzuziehen“ (Jörg Lauster S. 149 f.).

In Lausters Durchgang durch die Geschichte des Heiligen Geistes begegnen dann weitere Namen und Themen wie Thomas Hobbes und sein negatives Freiheitsverständnis, Immanuel Kant und sein Verständnis von Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, Johann Gottfried Herder und seine Vorstellung von Freiheit als Aufgabe der Selbstgestaltung, Georg Friedrich Wilhelm Hegel und seine Vorstellung vom absoluten Geist und Romantiker wie Caspar David Friedrich und seine Landschaftsmalerei. Für Lauster verdienen fünf Punkte im Hinblick auf Hegel Beachtung: Erstens ist die Frage nach dem Sinn der Geschichte nicht ins Vergessen abzudrängen. Ist sie einfach ein Vergehen oder hat sie, wie Hegel meint, eine Richtung? Entwickelt sie sich weiter und nach oben? Geht sie zweitens, wie Hegel meint, auf eine Versöhnung zu und sind auch Spuren der Versöhnung in ihr zu finden? „Mit der Entwicklung zum Guten ist drittens der vermutlich prominenteste Begriff seiner Geschichtsdeutung aufgerufen. Geschichte ist Fortschritt  … Hegel … war nie einfach ein platter Optimist, sondern ein Widerstandskämpfer gegen das Böse und Sinnlose in der Geschichte. Seine Waffe war das Denken. Die Vorstellung des Fortschritts ist nicht so absurd, wie es auf den ersten Blick scheint. Tatsächlich ist es noch absurder, den Fortschritt zu leugnen … Hegel hat den Begriff am prominentesten in dem … Satz: ›Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ verdeutlicht und seine Bedeutung mit Beispielen aus der Verfassungsgeschichte und der Entwicklung der Religionsfreiheit belegt (Jörg Lauster S. 274 f.). 

Hegel bietet viertens eine Erklärung dafür an, wie sich das Christentum in der Moderne verändert. Nach seiner Auffassung wirkt der Geist in der ganzen Geschichte und nicht nur in der Kirche. Die sogenannte Säkularisierung ist ein Gewinn an Geist und kein Verlust. „Der Geist zieht hinein in der Welt. Es geht nicht um Entweltlichung, sondern um ›Einweltlichung‹“ (Jörg Lauster S. 276). Hegel hat schließlich fünftens angenommen das sich der Geist in unterschiedlichen nationalen Eigenheiten entfaltet. „Die destruktiven Folgen dieser Entwicklung sah er nicht … Die Nationalsozialisten sahen ihre Ziele als Teil eines höheren Geschichtsplans und mobilisierten so mit schrecklichen Folgen immense Kräfte. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat daher misstrauisch gemacht gegenüber der Behauptung, der Geist verwirkliche sich in einem bestimmten Kollektiv oder Staat. An die Stelle von heilsgeschichtlich aufgeladenen Programmen sind daher … Taten der Liebe als Gegenwartsmöglichkeiten des Geistes getreten“ (Jörg Lauster S. 278). Albert Schweitzers Wirken in Lambarene und Mutter Theresas Begleitung der Ärmsten der Armen in Kalkutta zeigen, was individuelle Taten der Liebe bewirken können, aber auch ihre Grenzen. Die Pfingstgemeinden der Gegenwart und die Charismatiker setzen dagegen auf intensives religiöses Erleben und auf Geistheilungen. 

„Man kann die charismatisch-pfingstlerische, die traditionale und die liberale Ausprägung des Christentums als drei unterschiedliche Modelle verstehen, wie die Gegenwart des göttlichen Geistes das Leben der Menschen bestärkt. Das pfingstlich-charismatisch geprägt Christentum setzt ganz auf die Erlebnisintensität der Geistesgegenwart und verbindet diese mit hohen sozialen Bindungsenergien. Dies wird durch ein Geschichtsbild gefördert, das die eigene Gegenwart als Rückkehr zum Urchristentum versteht. Der traditionale Weg bindet den Geist an die Institution. Er mag wehen, wo er will, doch in der Institution ist der Geist mit Sicherheit anzutreffen, weil seine Gegenwart durch die Spendung von institutionell verwalteten Sakramenten sichergestellt wird. Die Legitimität der Geistesgegenwart liegt in der Tiefe der Vergangenheit und hat sich in der Führung durch die Geschichte als so verlässlich erwiesen, dass sich daraus Vertrauen für die Zukunft ableiten lässt. Der liberale Weg sieht den Geist in der Freiheit und Weite seines Wesens in der Welt und auch dort gegenwärtig, wo er nicht mehr als göttlicher Geist bezeichnet wird. Das geschieht in Idealen der Lebenspraxis, die Menschen auf ihrem Weg durch das Leben bestärken. Dem liberalen Weg ist es nicht wichtig, wie dieser Geist heißt, entscheidend ist, dass er wirkt“ (Jörg Lauster S. 325 f.).

In seiner Darstellung des Materialismus erinnert Lauster an den römischen Dichter Lukrez (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Lukrez), den Cicero für einen der genialsten Poeten der römischen Kultur gehalten hat. Lukrez folgte der auf Demokrit zurückgehenden Atomlehre, nach der die Welt aus kleinsten, ewigen Teilchen besteht, die sich unablässig miteinander verbinden und wieder voneinander lösen. Mit dem Tod lösen sich die Atome und gehen in einen neuen Kreislauf ein. Es ist darum sinnlos, Angst vor dem Tod zu haben. Nach Lauster führen mindestens drei Linien von Lukrez aus in die Neuzeit. Erstens hat er den Eigenwert der Natur erkannt. Damit nimmt er vorweg, dass das Erleben der Natur gerade dadurch erholsam und entlastend ist, „dass sie reine Gegenwärtigkeit eröffnen kann. Schön ist, was einfach nur da ist und keinen Interessen dienen muss. Lukrez findet zweitens Nachfolger auch in der modernen Naturwissenschaft. Sie geht methodisch andere Wege, teilt aber den erfahrungsbezogenen Ansatz der Naturwahrnehmung. Da die Natur sich selbst genug ist, müssen zur Erklärung ihrer Phänomene die Ursachen in der Natur selbst und nicht im Eingreifen von Göttern oder höheren Mächten gesucht werden … Von ihren Ursprüngen her ist die naturwissenschaftliche Weltbetrachtung ein Akt der Befreiung und der intellektuellen Redlichkeit … Drittens weist Lukrez in die Moderne, weil sein Materialismus die Menschen vom Thron der Natur stößt, auf den sie sich selbst in ihrer Naturdeutung gesetzt haben. Die Natur ist nicht mehr um des Menschen willen da … Menschen sind Fremdlinge in der Natur. Sie sind mit einem Erkenntnisvermögen belastet, das ihnen Wissen vorgaukelt und doch nirgendwo hinführt … Die menschliche Erkenntnis ist in sich eingeschlossen, sie kann nicht zum Wesen der Dinge vorstoßen …

›Alle Gesetzmässigkeit, die uns im Sternenlauf und im chemischen Process so imponiert, fällt im Grunde mit jenen Eigenschaften zusammen, die wir selbst an die Dinge heranbringen, so dass wir damit uns selbst imponieren“ (Friedrich Nietzsche in ›Wahrheit und Lüge‹ / Jörg Lauster S. 335 f.). Georg Steiner folgert daraus, dass Denken traurig macht und in einen transzendentalen Autismus führt, der den Zugang zur Welt verwehrt. Der materialistischen Vorstellung des Zusammenspiels von Geist und Materie, die der Molekularbiologie Jacques Monod vertritt (vergleiche dazu Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit, 1970), stellt Lauster die Überzeugung des amerikanischen Philosophen Thomas Nagel entgegen, dass der Materialismus über kein Instrument verfügt, das die Gegebenheit des Geistes in der Welt plausibel erklären kann (vergleiche dazu Thomas Nagel, Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, 2012 / deutsch 2016). „Ein Wesensmerkmal des Universums ist seine Intelligibilität, also die rationale Ordnung, die einen Geist ausbildet, der diese auch verstehen kann. Das materialistische Kausalitätsdenken kann den Weg von der unbelebten Materie hin zum geistigen Wesen rekonstruieren. Damit ist vieles über die Evolution des Geistes gesagt, aber noch nichts zu seinem Wozu. Als Antwort auf diese Frage bleibt im materialistischen Weltbild als Grund für den Geist in der Welt letztlich nur der Zufall. Der Geist ist eine Laune der Natur …Nagel will das nicht glauben … ›Es ist auf den ersten Blick höchst unplausibel, dass das Leben, wie wir es kennen, das Ergebnis einer Reihe physikalischer Zufälle im Zusammenspiel mit den Mechanismen natürlicher Auslese sein soll‹. Was wir über die Intelligibilität der Welt, über ihre rationale, unserem Bewusstsein zugängliche Struktur wissen, widerspreche dem …›Die Frage ist, wie wir den Geist im vollen Sinne als ein Erzeugnis der Natur verstehen können – oder anders gesagt, wie wir die Natur als ein System verstehen können, das fähig ist, Geist zu erzeugen‹“ (Jörg Lauster / Thomas Nagel S. 342 f.).

Eine Theorie des Geistes muss also auch etwas zur Existenz des Geistes als Geist sagen können. Solange als Erklärung für den Geist nur der Zufall der Evolution ins Spiel gebracht und keine Antwort auf die Frage gegeben werden kann, warum die Materie mit dem Geist ein Organ ausbildet, das die Vollzüge der Materie, die zur Ausbildung des Geistes führen, erkennen kann, läuft der Materialismus der Naturwissenschaften Gefahr, zur Ideologie zu werden. Diesem Vorwurf entgeht der Neurowissenschaftler António Domásio mit seiner Theorie des Bewusstseins auf neurowissenschaftlicher Basis, nach der der Geist aus materiellen Grundlagen hervorgeht und eine starke Emergenz ausbildet (vergleiche dazu etwa https://www.philosophie.uni-osnabrueck.de/fileadmin/Allgemeine_Uploads/Publikationen/Lenzen/Damasios_Theorie_der_Emotionen.pdf). „Starke Emergenz ist ein neuer Modus der Selbstorganisation. Der qualitative Sprung in etwas Neues liegt darin, dass sich im Geist die Natur selbst repräsentiert. Im Geist gelangt die Natur zum Bewusstsein ihrer selbst“ (Jörg Lauster S. 345; vergleiche dazu auch den nicht-dualistischen Ansatz von Gerhard Roth: Gerhard Roth, Nicole Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, 2014). 

Wo aber soll das sich selbst Erkennen des Kosmos im menschlichen Geist hinführen? Hegel sah seine Zeit als Vollendung der Entwicklung des Geistes an. Charles Darwin ging von einem immer währenden Wandel und einer Evolution ohne Ziel aus. Nach der Astrophysik geht das Universum entweder auf den Big Crunch und damit eine maximale Ausdehnung zu, um dann wieder zu implodieren oder in einem neuen Big Bang zu explodieren. Dem Modell des Big Rip zufolge führt eine exponentiell ansteigende Expansionsgeschwindigkeit zu einem »Zerreißen« der Materie und damit zum Ende des Universums. Nach dem Modell des Big Wimper endet das Universum im Kältetod. Nach der Vorstellung der Offenbarung des Johannes schließt sich der Kreis vom Anfang der Welt, in der der göttliche Geist über den Wassern schwebt, hin zur Vollendung im neuen Jerusalem, in dem Gott bei den Menschen wohnen und kein Tod mehr sein wird. Damit ist ein letztes Ziel im Blick, „auf das der Geist die Welt hinführt. In den Taten einzelner Menschen … zeigen sich Spuren einer höheren Versöhnung, in die schließlich auch die Natur hineingenommen ist. In ihr scheint der Geist in vielfältiger Weise auf und kehrt so in einem höheren Bewusstsein seiner selbst zu sich zurück. Der Geist offenbart einen universalen Prozess, an dessen Ende die Vollendung von allem in allem steht“ (Jörg Lauster S. 364).

Die Erfahrungen und Beschreibungen, die Jörg Lauster in seiner Biografie des heiligen Geistes zusammengetragen hat, können zwar seine Gegenwart nicht im naturwissenschaftlichen Sinn beweisen, aber dazu ermutigen, sich auf die Vorstellung einzulassen, „dass mit der Welt etwas gewollt und gemeint ist – und damit mit uns selbst“ (Jörg Lauster a. a. O.).

ham, 21. April 2021

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