C. H. Beck Wissen 2951, Verlag C. H. Beck, München, 2024, ISBN 978-3-406-82272-8, 128 Seiten, 1 Abbildung, 1 Karte, Softcover, Format 18 x 11,8 cm, € 12,00
Der 1992 in Heidelberg bei Klaus Berger promovierte und 1996 an der Humboldt-Universität zu Berlin habilitierte Neutestamentler Jens Schröter geht davon aus, dass das Christentum seit seinen Anfängen in einer Dynamik von Einheit und Vielfalt existiert und die Vorstellung, dass es auf einen vermeintlich einheitlichen Ursprung zurückzuführen sei, schon immer ein romantisches Ideal gewesen ist. Am Anfang standen eine Vielzahl christusgläubiger Gemeinschaften, in denen sich in einer Experimentierphase vom Wirken Jesu bis zum Ende der Christenverfolgungen am Beginn des 4. Jahrhunderts eigenständische religiöse und ethische Überzeugungen herausgebildet und sich zu einem Rahmen für das verfestigt haben, was in der Kirche gelten sollte.
„Die ersten Anhänger und Anhängerinnen des Christusglaubens waren Juden und Jüdinnen […]. Bevor eigene, von Juden und Heiden unterschiedene Gemeinschaften der Christusgläubigen entstanden, war der Glaube an Jesus Christus demnach eine Form des jüdischen Glaubens. Er hatte allerdings eine Besonderheit, die von Beginn an zu Auseinandersetzungen innerhalb des Judentums führte. Das Bekenntnis zur Auferweckung des gekreuzigten Jesus von Nazareth und seine Verehrung als Messias (»Christus«) waren für Juden, die diese Überzeugung nicht teilten, ein Verrat an den Grundlagen des jüdischen Glaubens. Verkündeten Christen diese Überzeugung nichtjüdischen Menschen – und das taten sie sehr bald –, stieß dies ebenfalls auf Widerspruch. Nur einen Gott zu verehren, alle anderen Götter dagegen für nichtexistent zu erklären, war in den Ohren von Griechen und Römern eine Dummheit und eine Provokation“ (Jens Schröter, S. 8 f.).
Der Weg von den Anfängen Jesu und der Apostel bis zur Erhebung des Christentums zur Staatsreligion hätte auch einen ganz anderen Verlauf nehmen können. Deshalb stehen Schröters Darlegungen unter der Leitfrage, wie der Glaube an Jesus Christus entstanden ist und wie er unter den politischen, kulturellen und sozialen Bedingungen der jüdischen und der griechisch-römischen Antike gelebt wurde.
Den Anfang des christlichen Glaubens bildet die Überzeugung, dass die Kreuzigung Jesu Anspruch, der von Gott gesandte Retter zu sein, nicht widerlegt hat. Menschen machten nach der Kreuzigung die Erfahrung, dass Jesus in neuer Weise unter ihnen war. „Dies wurde unter Rückgriff auf den jüdischen Glauben, dass Gottes Macht auch über den Tod hinausreicht, als Auferweckung Jesu von den Toten interpretiert. »Gott hat Jesus Christus von den Toten auferweckt«‘ lautet das grundlegende Bekenntnis des christlichen Glaubens (vgl. z. B. Röm 10,9; 1. Kor 6,14: 1. Thess 1,10). Es ist unmittelbar verknüpft mit der Ausbreitung des Christentums nach Ostern, denn den Erscheinungserzählungen der Evangelien zufolge ist es der Auferstandene selbst, der seinen Jüngern den Auftrag zur Mission und Taufe erteilt (Mt 28,19 f.), das gemeinsame Mahl erneuert (Lk 24,30) und den Geist verleiht (Joh 20, 22) (Jens Schröter, S. 13 f.).
Eine wichtige Voraussetzung für die breite Akzeptanz, die der christliche Glaube sehr bald in der griechisch-römischen Welt gefunden hat, war die Auffassung, dass die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft die Unterschiede zwischen den Menschen bedeutungslos werden lässt. „Die christliche Botschaft war aufgrund dieser Offenheit für alle Menschen attraktiv und hat schnell auch bei Nichtjuden Fuß gefasst. Erstaunlich ist gleichwohl, dass sie in relativ kurzer Zeit weite Teile des Römischen Reiches erreichte. Dafür waren nicht zuletzt praktische Voraussetzungen notwendig […]. Es musste aber auch gelingen, Menschen, die aus ganz anderen kulturellen und religiösen Verhältnissen stammen, von der Attraktivität des Christusglaubens zu überzeugen“ (Jens Schröter, S. 12). Dies wird im ersten Teil entfaltet. Im zweiten Teil stehen die Herausbildung des christlichen Glaubens aus dem jüdischen Glauben und die institutionelle Ausdifferenzierungen im Zentrum. Im dritten Teil wird gefragt, wie sich der christliche Glaube in der nichtchristlichen Gesellschaft mit ihren anderen Vorstellungen von Sexualität, Götterglauben und Beruf bewähren konnte. Schließlich wird im vierten Teil gefragt, welche Merkmale sich als konstitutiv für den christlichen Glauben durchgesetzt haben.
Bereits im Neuen Testament wird die Geschichte Jesu nicht nur einmal, sondern viermal erzählt. Im Matthäus- und Lukasevangelium wird das Wirken Jesu in die Geschichte Israels eingebunden und als Erfüllung der Verheißung Gottes dargestellt. Bei Markus steht der Zusammenhang von verborgenem Anbruch der Gottesherrschaft im Wirken Jesu und ihre zukünftige Erfüllung im Zentrum. Johannes stellt Jesus als den Mensch gewordenen göttlichen Logos dar, der Gott der Welt in der Welt bekannt macht und dann zurück zum Vater geht. Das apokryphe Thomasevangelium lehrt den Weg zurück zum Königreich des Vaters. Die Kindheitsevangelien erzählen in legendarischer Weise von der Geburt Mariens und Jesu und von Episoden aus seiner Kindheit. Paulus kann die Einheit von Juden und Heiden betonen, aber sich auch von denen abgrenzen, die die Beschneidung fordern. Im 2. Jahrhundert sind unter anderem Justin, Irenäus und Origenes vom tatsächlichen Menschsein Jesu überzeugt; Valentin und einige Schriften aus Nag Hamadi trennen Gott und die Welt deutlicher voneinander. Bei Valentin und Markion kam es zur Bildung eigener Gemeinschaften. Markion blieb mit seinen Anhängern in Rom zuerst innerhalb der römischen Christengemeinde, wurde dann aber von ihr ausgeschlossen. In der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts gründete Montanus mit seinen Begleiterinnen Priscilla und Maximilla im kleinasiatischen Phrygien eine prophetische Bewegung; sie waren davon überzeugt, dass sich die Wiederkunft Christi in den phrygischen Dörfern Pepuza und Thymion ereignen werde. Die Montanisten pflegten die Zungenrede, lösten die Ehe auf und lebten in Keuschheit. Montanus wurde unterstellt, dass er sich als der menschgewordene Gott betrachte.
In der Frage, was als verbindlich gelten sollte, wurde bei Autoren wie Irenäus, Tertullian und Clemens die »Glaubensregel« (regula fidei) wichtig, ein hermeneutisches Prinzip zur Unterscheidung von wahrer und falscher Lehre. „Inhaltlich bringt die Glaubensregel den Glauben an den einen Gott, den Schöpfer, an seinen Sohn Jesus Christus, der wahrhaft Mensch gewesen ist, an den Heiligen Geist, durch den Gott in der Welt wirkt, und daran, dass dieser Glaube in der Kirche authentisch bewahrt wird, zum Ausdruck. Die Glaubensregel war demnach ein wichtiges Instrument, um das Verhältnis von Einheit und Vielfalt auszutarieren. Wichtige Grenzziehungen […] betrafen zum einen die Einbindung des christlichen Glaubens in die Geschichte und die Schriften Israels und des Judentums, zum anderen das Festhalten daran, dass Jesus Christus tatsächlich (und nicht nur zum Schein) Mensch geworden ist. Damit waren zwei wichtige Grundsätze formuliert, die für das Christentum, ungeachtet seiner konfessionellen Vielfalt, prägend werden sollten. Daneben entwickelte sich, ebenfalls seit dem 2. Jahrhundert, in einem längeren Prozess das Apostolische Glaubensbekenntnis (Apostolikum). Eine wichtige Rolle bei seiner Entstehung spielte die Taufunterweisung, die in das vom Täufling beim Taufakt in Form von Antworten auf Tauffragen zu sprechende Bekenntnis mündete“ (Jens Schröter, S. 121 f. ).
Zu klären waren weiter die liturgischen Formen, die Gestalt des Gottesdienstes, die Herausbildung einer christlichen Ethik, die Sammlung und Festlegung der für die Christengemeinden verbindlichen Schriften und die Organisationsstruktur der Kirche. Als Organisationsform setzte sich seit dem 2. Jahrhundert durch, dass eine Gemeinde von einem Bischof geleitet wird, der auch der Eucharistiefeier vorsteht. Dazu kamen die Ämter der Ältesten (Presbyter) und der Diakone. „Als Konstantin im 4. Jahrhundert das Christentum aktiv förderte, um die Einheit des Reiches zu stabilisieren, konnte er sich auf Strukturen stützen, die sich in den Jahrhunderten zuvor herausgebildet hatten.
Die Entstehung des Christentums lässt sich demnach als Prozess beschreiben, der die dem christlichen Glauben von Beginn an innewohnende Mannigfaltigkeit in Formen überführt hat, die es der christlichen Kirche ermöglicht haben, sich als Institution mit eigenen religiösen Überzeugungen und einer diesen entsprechenden Praxis im Römischen Reich zu etablieren. Diese Vielfalt des christlichen Glaubens wurde fortan sowohl innerhalb der institutionell geprägten Formen als auch an ihren Rändern praktiziert“ (Jens Schröter, S. 125).
ham, 5. September 2024