Edition Patrick Frey Nr. 128, Zürich, 2016, ISBN 978-3-906803-18-0,Französich, 288 Seiten, Gestaltung durch das
Studio Rubin, 200 Farbabbildungen, Broschur, Format 30,5 x 23,5 cm, € 70,00 / CHF 70,00
Der 1959 in Pruntrutt geborene und seit über 30 Jahren in Freiburg im Üechtland lebende Schweizer Jean-
Luc Cramatte sieht sich eher als Projektmanager denn als Fotograf : „Ich fotografiere gar nicht so viel […].
Ich sehe mich eher als Projektmanager“ (Jean-Luc Cramatte nach Carole Schneuwyl, Freiburger Nachrichten
magazin am wochende 13 vom 10. März 2012). Die meiste Zeit braucht er für die Entwicklung seiner Ideen,
das Organisieren, das Vorbereiten und die Begegnung mit den Menschen, die er in seine Projekte einbezieht.
So hat ihn die Vorbereitung seiner Bredzon-Serie acht Monate gekostet, das Fotografieren der 350 anonymen
Bredzon-Trägern aber nur zwei Tage. Die dunkelblaue Bredzon-, Kurz- oder Puffärmeljacke mit den auf dem
Revers aufgestickten Edelweißen gilt als traditionelles Kleidungsstück der Greyerzer Sennen und gehört zur
Freiburger Identität. „Ohne den Bredzon wüsste man nicht mehr, was die Schweiz ist“. Er stirbt aber immer
mehr aus (vergleiche dazu http://cramatte.com/galeries/bredzon-forever/). Cramattes Bredzon-Serie ist Teil
seiner in den 1990er Jahren begonnen umfangreichen fotografischen Recherchen zu Fragen der regionalen
Kultur und Identität. „Cramattes Ansatz und seine Recherchen sind unter anderem von den Projekten der
«Direction de l’aménagement du territoire» (DATAR) in Frankreich oder der FSA (Farm Security
Administration) in den Vereinigten Staaten inspiriert. Es sind Bestandsaufnahmen oder eine Art Inventare
verschiedener Welten, die am Verschwinden sind: ein Wohnheim in Fribourg (Asile de Nuit, 1991),
Postämter in der Schweiz (Poste mon Amour, 2001–2008), eine medizinische Einrichtung in Lausanne
(Policlinique, 2002) oder die Landwirtschaft im Zeitalter der Globalisierung (Paysage de Ferme, 2011–
2012)“ (Pressemitteilung der Fotostiftung Schweiz, Winterthur zur Ausstellung Jean-Luc Cramatte –
Inventar vom Februar 2012: http://www.fotostiftung.ch/fileadmin/user_upload/Bilder/Presse/2012/Cramatte/
D_PM_Cramatte_web_lang.pdf, abgerufen am 25.11.2016)
Das Künstlerbuch Nr. 218 der Edition Patrick Frey dokumentiert die von Jean-Luc Cramatte fotografierten
aufgegebenen und möglicherweise in den kommenden Jahren sterbende Bauernhöfe und zeigt ihr Inventar.
Dazu kommen künstlerisch bearbeitete, mit handschriftlichen Texten, Grafismen und Übermalungen
aufgewertete Fundstücke, eigene und literarische Texte und Zitate. Culs de Ferme setzt ohne jedes Vorwort
mit dem Text „Loin derrière les mǔriers / Ceux qui griffent / Plantés le long des montagnes / Futilité des
frontières“ („In der Ferne hinter den Maulbeerbäumen / Denjenigen, die kratzen / Und die entlang der Berge
gepflanzt sind / Lösen sich die Grenzen auf“) ein. Auf sechs Seiten folgen weitere wild dazu collagierte
Texte und Zitate, darunter auch folgende Erinnerung an einen mutmaßlich inzwischen aufgegebenen
Bauernhof: „Nous avions dans notre ferme / une fontaine qui ne gelait jamais / Elle était protégée par un
toit / qui reliait la grange / De sorte que tout l’hiver / le bétail ne voyait jamais le ciel“ („Wir hatten in
unserem Hof / Einen Brunnen, der niemals eingefroren ist / Er wurde von einem Dach geschützt / Das mit
der Scheune so verbunden war / Dass das Vieh den ganzen Winter über / niemals den Himmel gesehen hat“).
Die einleitende Textcollage wird auf den letzten sechs Seiten des Künstlerbuchs aufgegriffen und
weitergeführt. Sie endet mit den Zeilen „Ils sont partis en France / Comme dans les années 20 / Y’avait pas
de travail / Z’étaient trop nombreux / pour se partager les terres“ („Sie sind in Frankreich weggezogen / Wie
in den 20er Jahren / Y‘ hatte keine Arbeit / Z’s waren zu viele / um sich die Ländereien aufzuteilen).
Cramatte sortiert seine fotografische Recherche zwischen die Collagen ein. Sie akkumuliert Rückseiten von
leicht verwahrlosten und in Teilen oder ganz zerfallenen Bauernhöfen. Als erstes Bild wird das eingemüllte
frühere Stall- und Scheunengebäude eines noch bewirtschafteten Hofs gezeigt (vergleiche dazu die
Abbildung der Arbeit Ohne Titel, aus der Serie ‚Paysages de fermes‘, 2011
© Jean-Luc Cramatte in
http://www.fotostiftung.ch/de/ausstellungen/ausstellungsarchiv/jean-luc-cramatte/, abgerufen am
25.11.2016). Die mit Bruchsteinen aufgezogene und verputzte Außenmauer des Stalls zeigt Wasserflecken
und Anzeichen von Moosbefall. An einigen Stellen blättert der Putzt ab. Ein gekapptes Regenrohr führt ins
Leere. Auf dem Ziegeldach der auf den Stall aufgesetzten Holzscheune fehlen diverse Ziegel. In einem
Teilareal sind die Dachlatten eingebrochen. Auf einem Teil der Ziegel wächst Moos. An der Vorderseite des
Gebäudes stürzt ein Teilabschnitt der Holzwand ab. Er wird noch so gerade eben von dem an ihr vorbei
geführten Regenrohr gehalten. Ein weiterer Scheunenteil ist schon länger eingestürzt. In dem Gewirr aus
Ziegeln, Dachlatten, Brettern und Balken siedeln sich erste Sträucher und Bäume an. Vor dieser Ruine ein
noch intakter Heuwender, daneben eine halb gefüllte Schubkarre, diverse, wie auf einen Müllhaufen
geworfene weiße, grüne und schwarze Plastikplanen, Gras und Brennnesseln. Auf dem Weg vor dem
Gebäude eine volle Mistkarre, die noch aus dem letzten Jahrhundert zu stammen scheint. Hinter dem
Gebäude lagern runde, in weiße Folien gepresste Stroh- oder Heuballen im Freien. Deshalb braucht man die
alte Scheune nicht mehr. Unter dem Vordach einer zweiten Scheue lehnen derzeit nicht mehr gebrauchte,
Bretter, Pfosten, Gitter, ein verbeultes längliches Blechdach, Steinplatten verschiedener Größen, verrostete
eiserne ehemalige Türrahmen, Eggenteile und Rohre an der Wand. Die Zinkbadewanne und die Tonne vor
der Stalltüre sind mit Alteisenteilen gefüllt. Davor eine auf Hochglanz polierte feuerrote Moto Guzzi. Eine
dritte Scheune ist fast vollständig in sich zusammengesunken. Die Natur ist dabei, sich dieses Areal
zurückzuholen. An der Bruchsteinmauer einer vierten Scheune lehnen die Vorderbauten von wenigstens drei
Autos und daneben wohl 16 verschrottete Autotüren. Auf einem weiteren Foto deuten die
Sandsteinfassungen der vormaligen Fenster und Türen eines im österreichischen Landhausstil erbauten
Gebäudes an, dass dieses Herrenhaus einmal bessere Zeiten erlebt haben muss. Jetzt stehen nur noch seine
aufgebrochenen ziegelroten Mauern. Im Bild der mit einem Amboss, Hämmern aller Art, Feilen, Sägen und
anderem Werkzeug gut bestückten Werkstatt verraten Spinnweben an den Fenstern und Wänden, dass hier
nicht mehr regelmäßig gearbeitet wird. Auf der Wiese neben dem zusammengestückelten Schuppen eines
verlotterten Hofs ist ein Wohnwagen abgestellt. Auf seiner Rückseite steht „à vendre“, „zu verkaufen“.
Dieses „à vendre“ scheint Cramatte herausgefordert zu haben. Er deckt die Krise und das Elend der
Landwirtschaft schonungslos auf. Aber er scheint sich nicht vollständig damit abzufinden. Deshalb hat er
wohl auf die dem „à vendre“ gegenüberliegende Seite handschriftlich in Großbuchstaben „UNE TERRE
NATALE / DES JARDINS IMAGINAIRES / UNE TERRE NATALE / AVEC LES PIERRES QUI
S’ACUMMULENT / LOIN DU JURA/ UNE TERRE / J’EN AI PAS / UNE TERRE / NATALE / UNE TERRE
NOUVELLE“ geschrieben. Sein Text ist über eine ganz und gar unberührte Landschaft gelegt, die eine Wiese
und Lichtung vor einer Hügelkette zeigt. Auf dem Weg vor der Wiese weist ein Pfeil und der Halbsatz „ICI
LA MAISON / AU PARADIS“ die weitere Richtung. Danach folgt die Jahreszahl 2016.
Mir kommen die Verfluchung des Ackers nach dem Sündenfall aus 1. Mose 3, 17 ff. in den Sinn, die
Ankündigung „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest“,
und die Schlusssätze aus Ernst Blochs Prinzip Hoffnung: „Der Mensch lebt noch überall in der
Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche
Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und
Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der
arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das
Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das
allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“.
ham, 25. November 2016