Neukirchener Theologie / Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2016, ISBN 978-3-7887-3032-1,
308 Seiten, Hardcover, gebunden, Format 22,6 x 15,2 cm, € 34,00 (D)

Die Mainzer Kirchen- und Dogmengeschichtlerin Irene Dingel wollte eigentlich ein nur halb so langes
„Lesebuch“ über die Reformationszeit im Spannungsfeld der sie prägenden theologischen, politischen,
gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren und deren Transformationen in die Frühe Neuzeit schreiben.
Deshalb hat sie sich auf die großen Zentren der Reformation in Zentraleuropa, die entscheidenden Akteure
und die ausschlaggebenden Ereignisse konzentriert, die die Reformation gefördert und behindert haben. „All
dies kommt aus den jeweiligen historischen Kontexten und Konstellationen heraus in den Blick und soll sich
in der Vielfalt der Perspektiven zu einem differenzierten Gesamtbild zusammenfügen […]. Aber die
Darstellung ist dann letzten Endes doch nicht so kurz und knapp ausgefallen wie ursprünglich geplant“ (Irene
Dingel S. 9). Der von ihr angestrebte gut lesbare, sich leicht erschließende und zugleich differenzierte
Überblick ist ihr gleichwohl mit Bravour gelungen.

Dingel definiert die Reformation als den historischen Prozess, der auf eine umfassende kirchlichtheologische
Erneuerung zielte und zugleich tiefgreifende Wirkungen in Kultur, Gesellschaft und Politik
hervorgebracht hat. „Für die europäische Geschichte war die Reformation ein einschneidendes Ereignis.
Auch wenn sie Elemente persönlicher Frömmigkeit und kirchlicher Erneuerungsbewegungen des
Spätmittelalters aufgriff und weiterführte, wurden doch zugleich grundlegende Neuansätze geschaffen. Denn
die Reformation transformierte christliche Theologie und Spiritualität sowie gesellschaftlich-politische
Strukturen in Europa grundlegend; ethische Auffassungen wurden auf ein neues Fundament gestellt und
rechtliche Normen neu definiert. Zwar entfaltete sich die Reformation in den verschiedenen europäischen
Räumen und politischen Gemeinwesen auf der Basis der jeweiligen politischen, gesellschaftlichen und
frömmigkeitsgeschichtlichen Bedingungen unterschiedlich. Gemeinsam aber war allen reformatorischen
Entwicklungen, dass sie ausgelöst und befördert wurden durch die von den Reformatoren propagierte neue
Bibelhermeneutik, durch ihre Kritik an herrschenden Autoritätsstrukturen, durch die massenhafte Verbreitung
reformatorischer Ideen mit Hilfe neuer Medien und eine wirkmächtige Rezeption in allen gesellschaftlichen
Schichten. Dies löste tiefgreifende Veränderungen aus, durch die gesellschaftliches Leben und politisches
Handeln, kirchliche Strukturen und individuelle Frömmigkeit eine neue Ausrichtung erhielten. Zu Recht hat
man der Reformation deshalb eine »epochale« Bedeutung zugesprochen und hier die Überwindung des
Spätmittelalters und den Beginn der Frühen Neuzeit gesehen. Als ausschlaggebendes Datum gilt das Jahr
1517, die Veröffentlichung der 95 Thesen Martin Luthers“ (Irene Dingel S. 10). Als ausschlaggebend für die
Abgrenzung von der Tradition kann die konsequente Orientierung der Reformatoren an den
Ausschließlichkeitskriterien »sola scriptura«, »solus Christus«, »sola gratia« und »sola fide« angesehen
werden, die die Reformatoren ihrer Lehre und ihrer Position im politischen und gesellschaftlichen
Miteinander normativ zugrunde legten. Ohne diese Kriterien wäre die Unterscheidung zwischen Klerus und
Laien nicht abgeschafft und das weltliche Leben nicht aufgewertet worden.

In den Blick kommen unter anderem Wittenberg, Zürich, Straßburg und Genf und damit auch die
Hauptakteure Martin Luther, Philipp Melanchthon, Huldrych Zwingli, Martin Bucer und Johannes Calvin
sowie Mitstreiter wie Johannes Bugenhagen, Johannes Brenz und Lucas Cranach d.Ä. Dem Streit mit
Erasmus von Rotterdam um den freien Willen, der Abendmahlskontroverse mit Zwingli und den
Antinomistischen Streitigkeiten sind ebenso eigene Kapital gewidmet wie dem Täufertum, den
Ausprägungen des Spiritualismus bei Thomas Münzer, Caspar Schwenckfeld, Sebastian Franck und den
Antitrinitarischen Strömungen. Die Grundzüge des spätmittelalterlichen Bildungswesens und die
reformatorischen Begründungen der Bildungsreform werden auf neun Seiten abgehandelt, der Römische
Prozess gegen Luther auf fünf, der Wormser, die Reichstage von Speyer und Augsburg und der
Schmalkaldische Bund auf immerhin 16. Der Durchgang durch die Reformationsgeschichte endet im Alten
Reich mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555, der den „Augsburger Konfessionsverwandten“ die
reichsrechtliche Duldung garantiert. Die Ausstrahlung der Reformation auf die Niederlande, Nordeuropa und
Skandinavien, Preußen und das Baltikum, Ungarn und Siebenbürgen, Böhmen und Mähren, Frankreich,
England, Schottland, Spanien und Italien greift zeitlich weiter aus, denn „die Frage nach dem Übergang der
Reformation in das Zeitalter der Konfessionen lässt sich nur situationsgebunden und unter Berücksichtigung
der verschiedenen europäischen Kontexte beantworten“ (Irene Dingel S. 12). Für die abschließende Skizze
der europäischen Dimension der Reformation müssen 25 Seiten reichen. Man hält auf den letzten Seiten den
Atem an und zollt der Autorin den allfälligen Respekt, weil man weiß, dass der Überblick ohne große
Anstrengung auch leicht 616 oder 924 Seiten erreicht haben könnte.

ham 6. Februar 2017

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