Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig, 2018, ISBN 978-3-374-05648-4, 462 Seiten, Format 21,5 x 14,5 cm
Hardcover mit Schutzumschlag, € 38,00
Der 1974 verstorbene Gründer der Ladenkirche am Brunsbütteler Damm in Berlin, Kirchenreformer,
Praktische Theologe und Inspirator der Predigtstudien Ernst Lange hat sich ein Leben lang mit der Frage
auseinandergesetzt, wie sich die Glaubwürdigkeit Gottes in der Welt erweist und vorgeschlagen, alle
Lebensäußerungen der christlichen Gemeinde an Sonn- und Werktagen als ›Kommunikation des
Evangeliums‹ zu verstehen. In den 1980er Jahren ist Langes Wendung ›Kommunikation des Evangeliums‹
zum Leitbegriff der Praktischen Theologie geworden (vergleiche dazu etwa Michael Domsgen / Bernd
Schröder, Kommunikation des Evangeliums, Arbeiten zur Praktischen Theologie Band 57, Leipzig 2014:
http://www.theologische-buchhandlung.de/pdf/zw_9783374038787_digital_LP.pdf). Den 1948 in Stuttgart
geborenen Evangelischen Theologen, Religionsphilosophen, Herausgeber der Theologischen
Literaturzeitung, Leipzig und der Publikationsreihe Religion in Philosophy and Theologie, Tübingen und
Leipziger Leibniz-Professor 2017/18 Ingolf U. Dalferth erinnert Langes Wendung an das Kerngeschäft des
Christentums. Er greift sie auf, um an der Schwelle zur Epoche der digitalen Kommunikationsformen auf
eine dringend anstehende Revision der protestantischen Theologie aufmerksam zu machen.
Nach Dalferth ist die Kommunikation des Evangeliums das Kerngeschäft des Christentums und nicht die
Auseinandersetzung mit seiner historischen und kulturellen Gestalt. Ihr verdankt es sich. Um sie geht es. In
ihr hat es seine Mitte. „Das Christentum ist ein Gemeinschaftsphänomen, das von anderen sozialen
Phänomenen durch die Kommunikation des Evangeliums unterschieden ist […]. Das gesamte christliche
Leben in der Vielfalt seiner gemeinsamen und individuellen Vollzüge […] ist eine komplexe
Kommunikationspraxis, die durch die Kommunikation des Evangeliums geprägt ist. Ohne die
Kommunikation des Evangeliums gibt es keinen Glauben […] und ohne christliche
Evangeliumskommunikation kein christliches Glaubensleben […]. Die Kommunikation des Evangeliums ist
das theologische Zentrum des Christentums“ (Ingolf U. Dalferth S. 43).
Deshalb plädiert er dafür, dass sich evangelische Theologie wieder auf das Wirken des Evangeliums im
menschlichen Leben konzentriert. Evangelische Theologie in diesem Sinn orientiert sich an Gottes
schöpferischer Gegenwart und dem transformierenden Wirken seiner Liebe in der Schöpfung und darf nicht
aus methodischen Gründen zu einer historischen Textwissenschaft oder empirischen Religionswissenschaft
des Christentums verkürzt werden. „Nur wer die Welt von Gottes Gegenwart her betrachtet, wird sie als
Resonanzraum des Schöpfers wahrnehmen. Wer dagegen Gottes Gegenwart finden will, ohne von ihr schon
auszugehen, wird nur seinen eigenen Schatten sehen und sein eigenes Echo finden“ (Ingolf U. Dalferth S.
VII).
Evangelische Theologie kann dann nicht länger als Textwissenschaft verstanden werden; sie wird vielmehr
zur vielschichtigen und vieldimensionalen „Auslegung und Reflexion der Kommunikation des Evangeliums
und ihrer Auswirkungen im Leben, Denken und Handeln von Menschen unterschiedlicher Zeiten und
Kulturen. Als Auslegung der ›Kommunikation‹ des Evangeliums bezieht sich evangelische Theologie auf
eine komplexe menschliche Praxis – das christliche Leben, in dessen Zentrum die Kommunikationspraxis
der Kirche steht, ohne die es kein christliches Leben gäbe. Als Kommunikation des ›Evangeliums‹ bezieht
sie sich auf das, worum es in dieser Praxis geht, – die Auslegung des Lebens durch die Selbstkommunikation
Gottes in, mit und unter der Kommunikation des Evangeliums. Das Evangelium ist die Auslegung des
Lebens durch Gottes Gegenwart auf Gottes Gegenwart hin. Es entfaltet nicht nur ›dass‹, sondern auch ›wie‹
Gott der Gegenwart von Menschen gegenwärtig ist. Eben dadurch setzt das Evangelium
Transformationsprozesse in Gang, die sich als Neuorientierung des Lebens von Menschen an Gottes
Gegenwart vollziehen“ (Ingolf U. Dalferth S. XI).
Zur weiteren Klärung braucht es hermeneutische Unterscheidungen zwischen dem, was unter Evangelium,
Schrift, Wort Gottes und Bibel verstanden werden soll.
Nach Dalferth verdichtet sich das, was unter Evangelium zu verstehen ist, in der Merkformel Jesus Christus.
Für Christen haben Kreuz und Auferweckung Jesu Gott als den erwiesen, der die Macht hat, aus Tod Leben
zu schaffen und das Nichtseiende ins Sein zu rufen. „In und durch Jesus, sein Leben, sein Lehren, sein
Leiden seinen Kreuzestod, macht Gott sich selbst als Gott verständlich, so dass Jesus ›Christus‹ oder ›Gottes
Wort‹ genannt zu werden verdient. Wer ihn vernimmt, hört, wie Gott sich selbst versteht“ (Ingolf U. Dalferth
S. 60), nämlich als schöpferische Liebe, die Neues aus Altem, Gutes aus Üblem und Gegenwärtiges aus
Nichtvorhandenem schafft. Mit Jesus kommt ein schöpferischer Möglichkeitsraum in die Welt, der zeigt,
dass es mehr gibt als alles, was der Fall ist, dass Liebe stärker ist als Hass, Vergebung stärker als Vergeltung
und dass Gnade und Barmherzigkeit Schuld überwinden.
Unter der „Bedingung der leiblichen Abwesenheit Jesu kommunizieren Christen […] das Evangelium von
Gottes schöpferischer Gegenwart in der Verkündigung der Auferweckung des Gekreuzigten und seiner
Aufnahme in das Leben der Liebe Gottes im Verweis auf das Wirken des Geistes in der christlichen
Gemeinde. Sie begreifen dieses Wirken als Selbstvergegenwärtigung des abwesenden Gekreuzigten durch
die Kraft Gottes im Aufbau der Gemeinschaft des Christusleibes und sie bringen es als Anfang und Ausdruck
der neuen Schöpfung zur Sprache. Und wie die Taufe das Geschenk der Aufnahme in die neue
Schöpfungswirklichkeit des Leibes Christi symbolisiert […], so symbolisiert das Herrenmahl den Vollzug
dieses neuen Lebens in der Gemeinschaft aller Glieder mit ihrem Haupt“ (Ingolf U. Dalferth S. 64 f.). Die
zentrale Pointe des von Christen verkündeten Evangeliums ist, dass Gott den Anfang setzt und von sich aus
zu den Menschen in ihrer Gottesferne und Gottlosigkeit kommt, sich als Wort verständlich macht und sie in
ihrer jeweiligen Gegenwart so unterbricht, dass sie auf seine „Gegenwart aufmerksam werden und sich so an
ihr ausrichten können, wie sie in diesem Wort verständlich wird: als schöpferische Liebe“ (Ingolf U. Dalferth
S. 66 f.).
Das Christentum ist in der Folge für Dalferth keine Buch-, Lese- und Kopfreligion, „sondern gemeinsames
und individuelles Leben in der Gesamtheit von Körper und Geist, Kopf und Herz, Leib und Sinn, Vernunft,
Verstand und Gefühl, Wünschen, Wollen, Begehren, Lieben, Fühlen, Meinen, Glauben, Denken, Wissen,
Fürchten, Danken, Hören, Reden, Schweigen und Hoffen in der Gegenwart Gottes – ein Leben, das sich in
all seinen Vollzügen und Verhaltensweisen an dieser Gegenwart ausdrücklich orientiert. Es versteht diese
Gegenwart als Gegenwart von Gottes wirkkräftiger Liebe, die Gott in Jesus Christus als Evangelium für die
Menschen erschlossen hat und im Geschehen seines Wortes und Wirken seines Geistes immer wieder
erschließt. Daran erinnert die Schrift, wenn sie als Schrift gebraucht wird“ (Ingolf U. Dalferth S. 379).
Unter ›Schrift‹ im eminenten Sinn will Dalferth den Gebrauch biblischer Texte im Sinne der Kommunikation
des Evangeliums verstanden wissen: Biblische Texte werden zur Schrift, wenn sie die Differenz von
Schöpfer und Geschöpf markieren und deutlich werden lassen, dass Gott das Leben will und nicht den Tod.
Deshalb ist auch zwischen der Bibel als der Sammlung der kanonischen Texte und dem Wort Gottes zu
unterscheiden. „›Gottes Wort‹ ist weder mit den biblischen Texten gleichzusetzen noch mit ihrem Gebrauch
in der Kirche. Es kommt erst dort in den Blick, wo sich der kirchliche Gebrauch dieser Texte an der
Leitdifferenz zwischen dem ›Gebrauch, den die Kirche macht‹, und dem ›Geschehen, das die Kirche macht‹,
orientiert. Denn Gottes Wort ist das Geschehen, das Glaube, Hoffnung und Liebe wirkt und die Kirche
dadurch konstituiert, dass es Menschen aus ihrer Selbstzentrierung heraus ruft und im Glauben zur
Gemeinschaft derer verbindet, die sich auf die Gegenwart von Gottes Liebe verlassen und deshalb glaubend,
hoffend und liebend in der Welt leben“ (Ingolf U. Dalferth S. 382 f.).
Bei der anstehenden Reorganisation der theologischen Ausbildung sollen deshalb nicht die historischen,
sondern die systematischen und praktischen Fächer im Vordergrund stehen. „Im Zentrum […] sollte […] die
Einführung in die Kommunikation des Evangeliums stehen, indem man sich auf die beiden Brennpunkte
einer Problemellipse konzentriert: die Beschäftigung mit dem ›Evangelium‹ als der Kraft der Veränderung
menschlichen Lebens durch die Selbsterschließung der Gegenwart Gottes und die Beschäftigung mit den
Modi, Medien und Problemen der ›Kommunikation‹ des Evangeliums in den konkreten Lebensgestalten der
Kultur, auf die sich die theologische Reflexion bezieht“ (Ingolf U. Dalferth S. 444). „Dennoch ist die
exegetische Arbeit an den Texten theologisch weiterhin wichtig, um ideologische Verkehrungen und
Verkürzungen des Evangeliums in Geschichte und Gegenwart kritisch aufzudecken und auszuschließen […].
Deshalb bedarf es der theologischen Arbeit an den Texten, und zwar müssen diese mit allen Mitteln der
historischen Kritik so fremd gemacht werden, dass sie sich nicht in die Interpretationsketten ihrer Ausleger
auflösen, sondern als gemeinsame Rekursgrößen und Kontrollinstanzen der gegenwärtigen Auslegung und
Bestimmung des Evangeliums fungieren können“ (Ingolf U. Dalferth S. 439 f.). „Es liegt […] auf der Hand:
Nur solange es den christlichen Gebrauch der Schrift gibt, wird die Bibel Interesse auf sich ziehen. Ihre
kulturelle Bedeutung verdankt sie nicht sich selbst, der Heiligkeit ihrer Texte oder der Tiefsinnigkeit ihres
Inhalts, sondern ihrem Gebrauch als Schrift zur Kommunikation des Evangeliums“ (Ingolf U. Dalferth S.
446).
ham, 26. August 2018