Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2018, ISBN 978-3-374-05652-1, 298 Seiten, Broschur, Format 21 x 14 cm, 28,00 €
Fünf Jahre nach dem 500-jährigen Reformationsjubiläum ist es erlaubt, an eine über den Anlass hinaus zentrale theologische Publikationen zum Jubiläum zu erinnern. Der 1948 in Stuttgart geborene Religionsphilosoph und evangelische Theologe Ingolf Ulrich Dalferth (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Ingolf_U._Dalferth) hat den theologischen Kern der Reformation im Titel der Publikation in der Kürzel „God first“ auf den Punkt gebracht. „God first“ scheint an die Formel „America First“ aus den ersten Jahren der Republik zu erinnern, die den amerikanischen Nationalismus, Isolationismus und Anti-Interventionismus betont hat (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/America_First). Donald Trump hat die Formel in seinem Wahlkampf und in seiner Antrittsrede am 8. November 2016 als Präsident bekanntlich aufgegriffen und zum Markenzeichen seiner Politik gemacht. Dalferth hat in diesen Jahren als Danforth Professor of Philosophy of Religion an der Claremont Graduate University in Kalifornien gelehrt und war damit unmittelbar konfrontiert. Deshalb könnte man mutmaßen, dass er den Titel seiner Publikation an Trumps poltischen Markenkern angelehnt hat. Aber das ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil die Vorträge und Vorlesungen zum protestantischen Glaubens-, Lebens- und Gottesverständnis, aus denen sein Buch hervorgegangen ist, zwischen 2012 und 2018 gehalten worden sind. 2019 hat Dalferth dann auch die America-First Ideologie des Präsidenten explizit zurückgewiesen. „America First“ ist für ihn der Inbegriff jener Haltung, die „privaten und nationalen Egoismus herausstellt. Die Gottesthematik hingegen steht generell dafür, sich und alles andere noch einmal anders zu sehen und unsere Egoismen unterbricht“ (https://www.deutschlandfunk.de/ingolf-dalferth-god-first-100.html).
„God first“ fasst die reformatorische Theologie und die von ihr initiierte spirituelle Revolution kongenial zusammen. Gott allein ist das Erste und alles andere ist das Zweite. Er ist der Schöpfer und wir und die Welt sind seine Geschöpfe. Seine Schöpfung geh weiter. Nach Dalferth wird die revolutionäre Kraft der reformatorischen Neuaufbrüche „unterschätzt, wenn man von ihrer kompromisslosen Ausrichtung des Lebens an Gottes Gegenwart nur im Modus der Vergangenheit spricht. Auch in einer sich technologisch rapide verändernden spätmodernen Welt erlaubt diese Sicht des menschlichen Lebens, Menschen in einer Zeit wachsenden Humanitätsverlusts das Geheimnis der Gegenwart zu erschließen, so dass sie der Zukunft mit kritischer Zuversicht und vernünftiger Hoffnung entgegenzusehen vermögen. Es wäre theologisch verantwortungslos, sich dafür nicht auch heute mit aller Entschiedenheit einzusetzen. Theologisch leben wir noch lange nicht in einem aufgeklärten Zeitalter. Aber es liegt an uns, unsere Zeit zu einem Zeitalter der Aufklärung über das zu machen, ohne das nichts etwas und alles nichts wäre: Gottes Gegenwart“ (Ingolf U. Dalfert S. 5).
Wer sich und die Welt nicht von sich, sondern von Gott her denkt und die Differenz von Schöpfer und Geschöpf respektiert, bleibt in der Spur Gottes und beginnt, alles im Lichte der Gegenwart Gottes zu sehen und zu verstehen. „Von Gott her denkt man, wenn man darauf achtet, wie Gott im Leben von Menschen und in der Geschichte der Welt am Werk ist. Die Menschen sind nicht nur das, was wir erfahren und zu kennen meinen, sondern die, an denen Gott baut. Und die Welt ist nicht nur der komplexe und vielschichtige Ereigniszusammenhang, dessen Gesetzmäßigkeiten wir erforschen, sondern das, was Gott durch die wirksame Gegenwart seiner Liebe zu seiner guten Schöpfung verändert. Deshalb findet man Gottes Gegenwart nicht neben oder zusätzlich zu anderem in der Reihe der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Ereignisse, sondern in und mit allem, was möglich und wirklich ist. Nichts ist ohne Gott, aber ohne Gott merkt auch niemand, dass es so ist. Gottes Gegenwart erschließt sich nur, wenn die eigene Gegenwart zum Resonanzraum der Gegenwart Gottes wird“ (Ingolf U. Dalferth S. 16).
Nach Dalferth wäre der Verzicht auf den Versuch, Gott zu denken, „der Tod der Theologie, aber nicht minder wäre es die Meinung, es genüge, Gott zu denken. Ohne Gott zu denken, kann sie nicht zwischen Gott und Götzen unterscheiden, und ohne mehr zu wollen als Gott zu denken, kann sie nicht Gott denken“ (Ingolf U. Dalferth S. 201). Evangelische Theologie sollte sich deshalb, wenn sie Gott denkt, an die Regel halten, dass Gott nur gedacht wird, wenn Gott nicht nur gedacht wird. Gott zu erfahren, zu fühlen, zu lieben, zu Gott zu beten und auf Gott zu hoffen, ohne Gott zu symbolisieren, genügt aber auch nicht. Gottesvorstellungen und Gottessymbolisierungen bedürfen der kritischen Kontrolle durch unser Denken. Ein „Gott, der nur gedacht wird, ist nicht Gott – das hat nicht erst Anselm von Canterbury entdeckt. Wer Gott nur denken will, denkt nicht Gott – das kann man nicht erst bei Luther lernen. Und wer nur Gott denken will, und nicht damit zugleich eins und alles, denkt nicht Gott – das sollte man seit Hegel wissen.
Aber wer meint, ein Recht, an Gott zu glauben oder von Gott zu sprechen, habe man nur, wenn man zeigen könne, was Gott ist und dass Gott ist, und beides sei nur möglich, wenn man einerseits in der Lage sei, einen kohärenten Gottesbegriff als konsistente Menge von Merkmalen zu formulieren, durch die sich Gott eindeutig von allem anderen unterscheiden lasse, und andererseits zeigen könne, dass die Gotteshypothese die bessere Erklärung für irgendetwas sei, was andere auf andere Weise zu erklären suchen, so dass man in der (sogenannten) ›Great Debate‹ zwischen Glaube und Wissenschaft nur auf der Seite einer theistischen Metaphysik für den Glauben streiten könne, der hat weder Anselm verstanden noch Luther noch Hegel noch Gott noch sich selbst noch das, was er tut, wenn er versucht, Gott zu denken. Eine solche Position ist philosophisch unkritisch (nämlich verstandesdogmatisch), theologisch unproduktiv (nämlich genau das untergrabend, was sie zu befördern vorgibt: den Glauben an Gott) und hermeneutisch blind (nämlich ohne Sinn und Verstand für den Sinn des Glaubens an Gott im Leben von Menschen).
Denn – das ist meine These – Gott wird nur gedacht, wenn man nicht nur an Gott denkt, sondern alles im Zusammenhang mit Gott und Gott im Zusammenhang mit allem anderen. Aber nur, wenn man diesen Zusammenhang von dort her denkt, wo er als kreative Stiftung Gottes in Erscheinung tritt, der die Einstellung von Menschen zum Leben von Grund auf verändert, so dass Gott und alles andere auf umfassende Weise anders gedacht und verstanden werden als zuvor, wird wirklich Gott gedacht“ (Ingolf U. Dalferth S. 201 f.).
ham, 16. Februar 2022