Psychoanalytische Erkundungen zu Spiritualität, Macht und Transzendenz
Forum Psychosozial, Psychosozial-Verlag, Gießen, 2022, ISBN-13: 978-3-8379-3170-9, 264 Seiten, Broschur, Format 21 x 14,8 cm, € 34,90
Mit der Herausbildung der Anthropologie um 1600 und der Religionsphilosophie um 1770 kommt auch die Reflexion über den neuzeitlichen Religionsbegriff und die Frage auf, ob es eine oder die Religion gibt und ob es überhaupt möglich ist, ein Wesen der Religion zu bestimmen (vergleiche dazu und zum Folgenden Ernst Feil, Religion. In RGG, vierte Auflage, Band 7 R–S. Tübingen 2004, Spalte 263 ff.). Als neuzeitlicher Grundbegriff hängt Religion zusammen mit der Frage, ob sich die Existenz Gottes rein rational nachweisen lässt oder nicht.
Friedrich Schleiermacher hat Religion 1799 in seinen ›Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern‹ als Gefühl für das, was das ›Unendliche‹, das ›Universum‹, das ›Heilige‹, die ›Transzendenz‹ oder auch ›Gott‹ genannt werden kann, bestimmt und sie von Moral und Metaphysik abgegrenzt: Religion ist für ihn das ›Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit‹ (vergleiche dazu Friedrich Schleiermacher, „Religion ist ein Gefühl“. In: https://www.deutschlandfunk.de/friedrich-schleiermacher-religion-ist-ein-gefuehl-100.html). Der Rang der Religion wird bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel an ihrer Zuordnung zum absoluten Geist deutlich, ihre Bestreitung in der These der Aufklärungsphilosophie, dass sich die Existenz Gottes nicht mit Gründen der Vernunft beweisen lässt. Unter den Kritikern der Religion beschreibt Sigmund Freud die Religion als kollektiver Zwangsneurose (vergleiche dazu Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion, 1927).
Freud hat als Student Feuerbach gelesen und geht wie dieser davon aus, dass Gott ein menschliches Wesen ist, das wir an den Himmel projiziert haben. Der Münchner Psychoanalytiker Herbert Will kommentiert, dass Freud die philosophische Religionskritik eines Feuerbach und Marx zum ersten Mal psychoanalytisch formuliert hat: Wir projizieren – meinte Freud – nicht allein ein menschliches Wesen in den Himmel: Es ist der Vater, mit seinen Stärken und Schwächen, der zum allmächtigen und schutzspendenden Gott-Vater erhoben wird: „Wichtig ist das Argument der Vatersehnsucht: dass die Menschen, die einer Religion anhängen, im Grunde einem psychischen Infantilismus anhängen, also noch Kinder geblieben sind und nicht Erwachsene geworden sind, weil sie – wie ein Kind an seinem Vater hing –, so dann an dem Gott hängen.“ (Klaus Englert, Sigmund Freuds Religionskritik. In: https://www.deutschlandfunk.de/sigmund-freuds-religionskritik-der-gottkomplex-100.html).
In der Konsequenz positioniert sich die Psychoanalyse nach Freud – mit Ausnahmen von C. G. Jung und seinen Schülern – religionskritisch, gelegentlich religionsneutral und mitunter auch religionsoffen (vergleiche dazu auch Religion und Psychoanalyse: Zwei Wege, ein Ziel. In: https://reliReligion und Psychoanalyse: Zwei Wege, ein zielgion.orf.at/v3/stories/2744237/ und Elke Endraß, Was Carl Gustav Jung über Religion sagt. In: https://www.sonntagsblatt.de/artikel/menschen/was-carl-gustav-jung-ueber-religion-sagt). So ist Religion für den Münchner Psychoanalytiker Bernd Horn eine verständliche, aber illusionäre Antwort auf Sinn- und Identitätsfragen des Menschen. Sie beruht für ihn letztlich auf dem Wunsch, frühere Erfahrungen von Geborgenheit zu wiederholen. Die Psychoanalyse verhilft nach Horn zur Einsicht in den Zusammenhang von infantiler Abhängigkeit und höheren Wesen, zur Befreiung von Ideologien und zur Übernahme von Selbstverantwortung (vergleiche dazu Sinn-suche … kann Spaß machen. In: https://dr-bernd-horn.jimdofree.com). Seit den 1990er Jahren sehen sich Therapeuten zunehmend mit religiösen und spirituellen Fragen konfrontiert (vergleiche dazu Marion Sonnenmoser, Religiosität und Spiritualität in der Psychotherapie: Fragen nach dem Sinn des Lebens. In: https://www.aerzteblatt.de/archiv/186226/Religiositaet-und-Spiritualitaet-in-der-Psychotherapie-Fragen-nach-dem-Sinn-des-Lebens). „Dies ist für die meisten Psychotherapeuten jedoch keine Selbstverständlichkeit. Religion und Spiritualität wurden bislang aus fast allen psychotherapeutischen Verfahren ausgeklammert (mit Ausnahme von einigen Verfahren wie der transpersonalen Verhaltenstherapie oder der buddhistischen Psychotherapie) und als Privatsache der Patienten angesehen. Außerdem bezeichneten sich viele Psychologen und Psychotherapeuten als nicht religiös oder atheistisch und lehnten es ab, Religion und Spiritualität in die Psychotherapie einzubeziehen.
Nun aber scheint sich die Lage zu ändern. Darauf weist zum Beispiel eine repräsentative Befragung unter deutschen Psychotherapeuten hin. Danach bezeichneten über die Hälfte der Befragten ihre persönliche Glaubensüberzeugung entweder als ›religiös‹ oder ›spirituell‹. Sie schätzten, dass mehr als jeder fünfte Patient religiöse oder spirituelle Themen im Verlauf der Psychotherapie einbrachte“ (Marion Sonnenmoser, a. a. O.).
Die aus der Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und Psychotherapie Berlin (ABP) hervorgegangene Gruppe der fünf Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker Inge Brüll, Şahap Eraslan, Frank-Andreas Horzetzky, Christoph Seidler und Florence Wasmuth versteht sich als religionsoffen. Die Genannten haben sich über einige Jahre hinweg gegenseitig und mit zunehmender Offenheit über ihre Erfahrungen mit Religion, ihre Unzufriedenheit mit den institutionellen und gesellschaftlichen Erscheinungsbildern von Religion und Spiritualität und dem offenbar bestehenden vielfältigen gesellschaftlichen Bedürfnis nach einer sinnhaften Einbettung der menschlichen Existenz im Leben eines jeden Einzelnen auseinandergesetzt. „Als Katholik, Protestant, Moslem oder Atheist wurden wir erzogen oder sozialisiert … Aus anfänglicher Ablehnung über die vielen, teilweise abstoßenden Unzulänglichkeiten der religiösen Institutionen entwickelte sich über die Anerkennung der kulturellen Leistungen von Religionen eine jeweils individuelle Position des Umgangs mit Religion und Spiritualität im Sinne einer toleranten Gewissheit … Wir haben dem transzendenten und spirituellen Raum – mit Gott und ohne Götter –, mit Religionen und sogar Kirchen – einen Platz in unserer ganz persönlichen Lebensbilanz“ und in unseren Therapien einräumen können … „Es ging uns darum, einige mögliche Perspektiven aufzuzeigen, wie mit diesem Thema heute in einer westlichen Demokratie sinnvoll gearbeitet werden kann.
Unsere Untersuchungen gingen zunächst in zwei Richtungen. Erstens: Religiöse, spirituelle Biografien sind so individuell und subjektiv, dass uns eine Nichtbeachtung (›Religion ist Privatsache‹) in Psychoanalyse und Psychotherapie fragwürdig erscheint. Zweitens: Wir waren nicht glücklich mit einer Psychotherapie und Psychoanalyse, die zu großen Wert auf ›Neutralität‹ und ›Objektivität‹ legt. Wir wollten von der Not der Leidenden ausgehen, auch wenn diese sich hundertfach selbst darin verirrt haben, und wir wollten schauen, wie religiöse und spirituelle Dimensionen auch in heutigen Psychoanalysen und Psychotherapien in hilfreicher Weise Eingang finden können“ (Religion mit und ohne Gott S. 7f.). Im Ergebnis kommen sie zur Vorstellung einer gruppenbezogenen kulturellen Matrix, in der interkulturelle, interreligiöse und intersubjektive Ereignisse, die unter eher religiösen Begriffen wie ›Trost‹, ›Gnade‹, ›Demut‹, ›Erbarmen‹ und ›Spiritualität‹ gut bekannt sind, in psychoanalytischen Prozessen, Theorien und Therapien ihren legitimen Platz finden können.
Spiritualität und Religiosität sind dann nicht mehr wie bei Freud zu überwindende Illusionen, sondern ›Conditiones humanae‹ und Ressourcen auf dem Weg zur Ganzheit, Identität und Lebenssinn. Şahap Eraslan geht in seinem erhellenden Beitrag ›Verschleierte Kulturen‹ der Frage nach, wie religionskritische Therapeuten tragfähige therapeutische Beziehungen mit streng religiösen Musliminnen und Muslimen aufbauen können. „Die Verschleierung der Frau im Islam verweist auf den Bereich des Göttlichen. Mit eben diesem unzugänglichen Raum werden der weibliche Körper und die weibliche Scham gleichgesetzt. Der Schleier beschützt und verhüllt die schamvoll verborgenen weibliche Sexualität, die Fruchtbarkeit und die Gebärfähigkeit der Frau. Es gibt verschiedene Grade der Kopfbedeckung: Schaila, Hidschab, Al-Amira, Chimar, Tschador, Nikab, Burka. Es gibt eben nicht den einen Schleier … Meine Absicht … ist es, verschiedene Wege zu bedenken, wie man mit gläubigen Menschen in eine echte therapeutische Beziehung treten kann“ (Şahap Eraslan S. 112 f.). Der in die Kapitel ›Spiritualität und Religiosität als Conditiones humanae‹, ›Religion und Macht‹, ›Gottesbilder im Wandel‹ und ›Religion und psychoanalytischer Prozess‹ eingeteilte Band ist von er ersten bis zur letzten Seite lesenswert.
ham, 30. November 2022