Herausgegeben von Martina Dase für ›Save the Children‹ mit Fotografien von Dominic Nahr, Texten von Bertram Job nach Interviews und Reportagen von Anna Mayumi Kerber und Gastbeiträgen von Anne-Sophie Mutter, Ingo Zamperoni, Jon Swain, Anne Watts, Margrethe Vestager, Ban Ki-moon, Professor Wole Soyinka, Mayte Carrasco, Marcel Mettelsiefen, Ulrike C. Tscharre, Amir Hassan Cheheltan, Dr. Gerd Müller

Save the Children / Kerber Photo im Kerber Verlag, Bielefeld, 2020, ISBN 978-3-7356-0632-7, 324 Seiten, 102 farbige und 60 s/w Abbildungen, leinengebundenes Hardcover, Format 27 x 22,5 cm, € 45,00 / CHF 55,26

Nach dem aktuellen Report der 1919 unter dem Eindruck der Kriegsfolgen von der Sozialreformerin Eglantyne Jebb in Großbritannien gegründeten Kinderrechtsorganisation ›Save the Children‹ (vergleiche dazu  https://www.savethechildren.de/fileadmin/user_upload/Downloads_Dokumente/Berichte_Studien/2020/save-the-children-krieg-gegen-kinder-2020-deutsch.pdf, dort auf S. 15 und https://de.wikipedia.org/wiki/Save_the_Children) wachsen derzeit 426 Millionen Kinder in Kriegsgebieten auf. Erklärtes Ziel der Nichtregierungsorganisation ist es, die Rechte der Kinder in Kriegs- und Krisengebieten zu stärken, sie in ihrem Überlebenskampf vor Gewalt und Ausbeutung zu schützen, ihr Lernen zu fördern und ihre Bildung zu unterstützen.

Zu ihrem 100. Geburtstag stellt ›Save the Children‹ zusammen mit dem renommierten Schweizer Fotojournalisten Dominic Nahr (vergleiche dazu https://www.dominicnahr.com) in ihrer Jubiläumspublikation ›Ich lebe‹ zehn Kinder vor, die Kriege und Gewalt überlebt haben, zwischenzeitlich eigenständig geworden sind und es in ihrem Leben zu etwas gebracht haben. Dazu kommt ein »Baby der Hoffnung«. Das älteste „Kind“ ist der 1913 in ärmlichen Verhältnissen in Weimar geborene Erich Karl. Er hat in seinem ersten Schuljahr von den Spenden profitiert, die die gerade gründete Organisation ›Save the Children‹ für Schulspeisungen erbeten hatte. ›Save the Children‹ war überzeugt, dass alle Kinder ein Recht auf ein würdiges Leben und eine Zukunft haben, egal ob ihre Väter den Krieg gewonnen haben oder nicht. Karl erinnert sich noch gerne an den Blechnapf, den er mit in die Schule genommen hat. „Er erscheint ihm jedes Mal vor seinen Augen, wenn er an sein erstes Schuljahr denkt. ›Der wurde an den Schulranzen geheftet …, gleich neben dem Schwamm. Am Anfang haben wir ja mit Kreide auf Schiefertafeln geschrieben‹. Der große Moment kam in der Pause. Dann kippten Frauen mit Schürzen eine Schöpfkelle voll heißer Kakaosuppe hinein, angereichert mit Reis, Zucker, Kondensmilch und Schmalz. ›Die Suppe war zum Trinken gedacht, … nicht zum Löffeln. Die kriegten auch nur bedürftige Kinder und solche aus kinderreichen Familien … Ich habe ja nicht nur ein schönes Leben gehabt‹, wird er später eher beiläufig sagen. ›Da waren auch elende Stücke dabei‹“ (Erich Karl S. 30). Erich Karl hat nach der Schule eine Feinmechanikerlehre begonnen und 1950 den Meister gemacht. Sein Meisterbrief hängt bis heute in seinem Wohnzimmer. 

Das jüngste Kind ist die 2019 in Bangladesch im Flüchtlingslager Kutupalong in der Mutter-Kind-Station von ›Safe the Children‹ geborene Rajiya. „Als wir sie kennenlernten, war sie erst 15 Tage alt. Ihre Mutter, eine Angehörige der Rohingya, floh im August 2017 mit Hunderttausenden Landsleuten vor der brutalen Gewalt in Myanmar nach Bangladesch. Die Untersuchungsmission der UN berichtete von gravierenden Menschenrechtsverletzungen gegen die staatenlose muslimische Minderheit“ (Bertram Job S. 277).

Weitere Berichte und Bilder sind der elfjährigen Amal gewidmet, die als Siebenjährige mit ihren Eltern aus der zerstörten syrischen Stadt Homs in den Libanon geflüchtet ist, der heute neunundzwanzigjährigen Vanessa Ntakirutimana, die 1994 nach den Massakern in Ruanda als Fünfjährige mit ihren Geschwistern elternlos durch das ostafrikanische Land geirrt ist und der heute 74 Jahre alten Jo Yong-woong, die als Einjährige mit dem Boot aus dem Norden Koreas in den Süden gekommen ist. „Es sind … keine leichten Zeiten, in die Jo Yong-woong im November 1944 hineingeboren wird. Das ehemalige Kaiserreich Korea, das seit 1910 eine japanische Kolonie ist, driftet nach der Kapitulation Japans zum Ende des Zweiten Weltkriegs in zwei Zonen auseinander: Im Norden üben die Sowjetunion und China, im Süden die USA erheblichen Einfluss aus. 1948 werden sich beide innerhalb von Wochen unabhängig erklären und die politische Macht über das gesamte Land reklamieren. Schon vorher verlassen viele den Norden Richtung Süden … An der Westküste fliehen viele mit Booten, um sich in der Bucht von Incheon anzusiedeln. Wie Yong-woongs Mutter mit ihm und einem Onkel“ (Bertram Job S. 135). Jo Young-woong konnte später Veterinärmedizin studieren und wurde dabei von seiner ehemaligen „Patin“ aus Nebraska unterstützt. Nach seinem Studienabschluss arbeitete er für einen der weltgrößten Pharmakonzerne und avancierte über die Jahre zum Leiter der Bereiche Landwirtschaft und Tiermedizin.

Die Überlebenden werden also nicht mehr wie in früheren Kampagnen als Opfer, sondern mit ihren Stärken, multiperspektivisch und einem eigenen Recht auf Schönheit vorgestellt. Dem Fotografen Dominic Nahr geht es dabei um die Frage, was die Kriegs- und Gewalterfahrungen aus den Kindern gemacht haben. »Wenn wir über Kinder im Krieg sprechen, denken wir an die Konfliktherde der heutigen Zeit, an Syrien oder den Jemen. Aber wir wollten tiefer gehen, in die Vergangenheit reisen und Menschen finden, die all den Horror, den Kinder heutzutage erleben, bereits hinter sich haben. Was haben diese Erfahrungen mit ihnen gemacht? Das wollten wir herausfinden« (Dominic Nahr). Den Texten von Bertram Job werden Meditationen von Gastautoren wie der Violinistin Anne-Sophie Mutter und dem ehemaligen UN-Generalsekretär Ban Ki-moon zugeordnet, die sich ohne weiteres Hintergrundwissen einem der Bilder annähern. Die Texte sind den fotografischen Porträts von Dominic Nahr als farbige Einleger vorgeschaltet. Allen Porträtierten ist eine Farbe zugeordnet, die dem Charakter entspricht. So blättert der Leser im wörtlichen Sinn eine bunte und facettenreiche »Menschheitsfamilie« auf, in der es immer neue Bezüge zu entdecken gibt.

ham, 20. Januar 2021

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