Die 1966 in München geborene Filmemacherin, Kritikerin, Autorin und seit 2024 als Professorin für Aktuelle Digitale Medien an der Kunstakademie München lehrende Hito Steyerl kann auf kaum mehr zu überschauende Ausstellungen und viel beachtete Ausstellungsbeteiligungen unter anderem an der Biennale in Venedig (2015), am Skulptur Projekte Münster (2017) sowie an der documenta 12 und der documenta fifteen in Kassel zurückblicken (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Hito_Steyerl). Mit ihrer Arbeit an der Schnittstelle von bildender Kunst und Film, ihren weit über den Kunstbetrieb hinaus wahrgenommenen Einlassungen zur feministischen Repräsentationslogik und ihrer Erforschung der politischen Ökonomie digitaler Medien, ihrer Funktion als Instrumenten der Überwachung und Propaganda und ihrer möglichen Nutzung im Hinblick auf ihren Energie- und Rohstoffverbrauch gehört sie zu den einflussreichsten Akteurinnen des internationalen Kunstbetriebs.
Deshalb ist es eine Überraschung, dass sie von Søren Grammel für eine Ausstellung von frühen Arbeiten im Heidelberger Kunstverein unter den Titel „Normalität“ gewonnen werden konnte, in denen sie die gesellschaftlichen Dynamiken und Spannungen in den Jahren nach der Wiedervereinigung und die Auswirkungen des neueren Nationalismus und Neoliberalismus untersucht hat (vergleiche dazu https://www.hdkv.de/de/ausstellungen/normalitaet und https://www.monopol-magazin.de/hito-steyerl-heidelberger-kunstverein). Nach Grammel wurde die Ausstellung bewusst im letzten Quartal des Wahljahres 2024 platziert, in dem die AFD bei den Landtagswahlen in Sachsen 34 %, in Thüringen 34,4 % und in Brandenburg 29,2 % der Stimmen erreichen konnte und in dem sie Ende November bundesweit auf 18 % (vergleiche dazu https://de.statista.com/statistik/daten/studie/953/umfrage/aktuelle-parteipraeferenz-bei-bundestagswahl/) oder vielleicht sogar 19,5 % potentieller Wähler kommt (vergleiche dazu https://dawum.de/Bundestag/INSA/2024-11-25/).
Normalität ist bei den meisten Menschen positiv konnotiert. Was heißt es aber, wenn antisemitische und rassistische Gewalt in Deutschland und in Österreich normal werden? Ausgangspunkt ihrer Serie kurzer Dokumentationen „Normalität 1-10“ waren die Sprengstoffanschläge auf das Grab von Hans Galinski im Jüdischen Friedhof Heerstraße in Berlin im September und Dezember 1998 (vergleiche dazu https://www.hagalil.com/archiv/98/12/galinski.htm und https://de.wikipedia.org/wiki/Schändung_jüdischer_Friedhöfe). „Normalität ist, so Steyerl, nicht einfach nur das Resultat von Untätigkeit, sondern ein bewusster Mechanismus, der zur Stabilisierung eines ideologisch aufgeladenen Status dient. Hier wird der Gewaltbegriff medial erweitert: Er umfasst nicht nur physische Übergriffe, sondern auch die strukturellen und medialen Prozesse der Verdrängung, Bagatellisieren und Versöhnung mit dem Unerträglichen“ (Søren Grammel in der Broschüre des Heidelberger Kunstvereins zur Ausstellung Hito Steyerl, Normalität, S. 7 und https://www.sixpackfilm.com/de/catalogue/1220/).
Steyerls 62-minütiger Videoessay „Die leere Mitte“ von 1998 verfolgt die Verwandlung des ehemaligen Todesstreifens in Berlin zum Schauplatz konkurrierender ökonomischer und politischer Interessen (vergleiche dazu https://www.filmportal.de/film/die-leere-mitte_bf87a2489c384c2e854d5a9df4d296a7 und https://w.sixpackfilm.com/de/catalogue/2972/).
In ihrer Langzeitbeobachtung des Potsdamer Platzes reflektiert sie die urbanen Umbrüche von den alten Zollgrenzen Berlins über die Berliner Westafrika-Konferenz und die Nazizeit bis zu den Jahren nach dem Mauerfall im Jahr 1989. Ihre zwischen dem Kolonialismus, der Familie Mendelssohn, den Besetzern des Todesstreifens, Protesten, Paraden und Akten des Widerstands gegen den Neoliberalismus hergestellten Zusammenhänge lassen fragen, ob sich in Berlins neuer Mitte tatsächlich etwas verändert hat oder ob sie immer noch durch unsichtbare Mauern durchzogen ist (vergleiche dazu Søren Grammel, a. a. O. S. 16).
Ihr im Jahr 1997 aufgenommener kurzer Videofilm „Babenhausen“ setzt sich mit der antisemitischen Hetze gegen die jüdische Familie Merin im hessischen Babenhausen auseinander. In „Strike“ denkt sie Sergei Eisensteins „Streik“ von 1925 im medientechnologischen Kontext weiter, in dessen Verlauf zu sehen, wie sie mit Hammer und Meißel auf die Oberfläche eines LCD-Monitors schlägt (vergleiche dazu Hito Steyerl, STRIKE. 2010, 28s, HDV und https://www.lightwork.org/archive/hito-steyerl-strike/). Der Schlag zerstört die Displaymatrix, die sich in kaleidoskopartige Muster auflöst. „Die durch Steyerls Eingriff freigelegte Matrixstruktur des Monitors fungiert als Metapher dafür, wie Medien die Wirklichkeit formen und beeinflussen – der auf einem Sockel stehende Monitor verkörpert ästhetisch und gesellschaftlich eine Autorität, die durch den künstlerischen Eingriff symbolisch infrage gestellt und buchstäblich gebrochen wird“ (Søren Grammel, a. a. O. S. 22).
In der Dokumentation ihrer Lecture-Performance „Is the Museum a Battlefield?“, die sie 2013 auf der Istanbul Biennale gehalten hat, stellt sie zu Beginn der Präsentation die zentrale Frage, ob ein Museum ein Schlachtfeld sein kann (vergleiche dazu https://conversations.e-flux.com/t/video-hito-steyerls-lecture-is-the-museum-a-battlefield/238 und https://art21.org/watch/artist-to-artist/hito-steyerl-and-shahzia-sikander-at-the-13th-istanbul-biennial/).
Ihre Bodenarbeit „SHOT/COUNTER SHOT“ erinnert anihr Zwei-Kanal-HD-Video „Abstract“ von 2012, das den „Shot“, das Verbrechen, und den „Counter shot“, die Betrachtung oder die Aufklärung zeigt (vergleiche dazu https://www.gallerytalk.net/hell-yeah-endlich-gibts-kriegsroboter/). In ihrer 2017 in Münster in ihr Environment „HellYeahWeFuckDie“ integrierten 3-Kanal-Videoinstallation „Robots Today“ (2016) fragt sie, welche Rolle die Computertechnologie in Kriegen spielt (vergleiche dazu https://www.skulptur-projekte-archiv.de/de-de/2017/projects/200/ und https://letterboxd.com/film/robots-today/). Nach Eugen El wirken Steyerls frühe Arbeiten heute wie die Vorgeschichte einer umfassenden politischen Eskalation (vergleiche dazu Eugen El am 29.10.2024 im Monopol. a. a. O.)
ham, 30. November 2024