Daniela Wagner und Hanna Wimmer (Hg.)
Festschrift für Bruno Reudenbach
Dietrich Reimer Verlag, Berlin, 2018, ISBN 978-3-496-01603-8, 352 Seiten, 19 Farb- und 92
Schwarzweißabbildungen, Hardcover gebunden mit Lesebändchen, Format 24,5 x 17,5 cm, € 79,00 (D)
Das Heilige wird zwischen Mittelalter und Gegenwart sehr unterschiedlich gedacht und hat vielfältigste
Erscheinungsformen. Nach Hans-Werner Goetz sind Religion und Gesellschaft in der weithin von religiösen
Faktoren bestimmten Kultur des Mittelalters so eng verwoben, dass „Sakralität sich nicht auf das Religiöse
an sich beziehen kann, sondern eine davon noch einmal abgehobene, geheiligte oder geweihte, mit dem
Göttlichen verbundene Sphäre innerhalb der Religion beschreibt. Heiligkeit ist weder ein
selbstverständlicher noch ein selbsterklärender Begriff […]. Das zeigt sich im Begriffsgebrauch der beiden
gängigen Heiligkeitsbegriffe: Sanctus und […] sacer […].
›Sakral‹ (sacer) ist nicht Gott selbst […], sondern die auf Gott verweisende und Gott geweihte, irdische
Sphäre mit Gotteskult, Weihehandlungen und göttlichen Normen […], ist […] auch das Mysteriöse an Gott
und am Glauben […]. ›Heilig‹ (sanctus) ist die himmlische Sphäre: Gott selbst ist heilig wie auch die ihn
umgebenden ›Personen‹: die Engel, die Erlösten im Jenseits und die Heiligen selbst. Heilig (sanctus) auf
Erden erscheinen die Menschen, die […] Christus nachahmen. Heilig erscheinen somit auch ihre
Handlungen, aber auch die Orte, die sich von Gott herleiten, vor allem die Kirche, als Gotteshaus wie auch
die Gemeinschaft der Heiligen, sowie […] heilige Zeiten […]. Sakral oder heilig ist das, was beides
vereinigt: Gottes Worte (die Heilige Schrift, das Gesetz, die Lehre) […], Weihehandlungen (Taufe) und –
mittel (chrisma), die Teil des Kultes sind, aber durch die Aufnahme in Christentum und Kirchen heilig
machen“ (Hans-Werner Goetz S. 24 f.).
Martin Luther hat zwar 1505 auf dem Weg von seinen Eltern in Mansfeld nach Erfurt bei Stotternheim die
Heilige Anna angerufen, als ein schwerer Sturm losbrach und ihn ein Blitz zu Boden schleuderte: „Hilf du
heilige Anna, ich will Mönch werden!“ Und er hat die Anekdote im Alter immer wieder erzählt, aber nicht,
weil ihn die Heilige Anna gerettet hat, sondern weil er zeigen wollte, dass ein Christ keine Heiligen mehr als
Mittler zu Gott braucht. Man müsse vielmehr ernster nehmen, dass „du ein Heiliger bist, als dass du Hans
oder Kunz heißt“ (Martin Luther 1529). Gleichwohl erkennt er an, dass Heilige von Gott begnadete
Menschen sind und dass man sie als solche durchaus verehren darf. Das Augsburger Bekenntnis hat
festgehalten, dass aus der Heiligen Schrift nicht bewiesen werden kann, dass man die Heiligen anrufen oder
Hilfe bei ihnen suchen soll, „›Denn es ist nur ein einziger Versöhner und Mittler gesetzt zwischen Gott und
den Menschen, Jesus Christus‹“ (Philipp Melanchthon, 1530).
Friedrich Schleiermacher, der bedeutendste Protestant des 19. Jahrhunderts hat in seinen 1799
veröffentlichten „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ neu angesetzt und
erklärt, dass Religion weder ein Wissen noch ein Tun ist und unter Religion weder Moral noch Metaphysik
verstanden werden kann, sondern etwas Eigenständiges, nämlich der „Sinn und Geschmack für das
Unendliche“ und das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“. Und dem evangelischen Theologen Rudolf
Otto ist in dieser Linie die Erfahrung des Heiligen nicht primär bei der Lektüre heiliger Texte, sondern als
eine „spontane religiöse Erfahrung in einer Synagoge in Marokko auf einer Reise zuteil geworden […], und
zwar in dem Augenblick, in dem der Rabbiner den uralten Hymnus des >Kadosh, Kadosh, Kadosh<
anstimmte, der von der Gemeinde respondiert wurde“ (Christian Röther, 100 Jahre >Das Heilige< von
Rudolf Otto. In: https://www.deutschlandfunk.de/100-jahre-das-heilige-von-rudolf-otto-ein-prophetdes-
20.886.de.html?dram:article_id=386583). 1917 hat er dann sein epochales Buch „Das Heilige. Über das
Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen“ veröffentlicht und darin „200
Seiten lang mit Worten für etwas“ gerungen, „das man seiner Meinung nach gar nicht adäquat in Worte
fassen kann, sondern fühlen muss“ (Christian Röther a. a. O.).
Unter anderem deshalb bleibt es höchst spannend zu verfolgen, wie sich die ausdifferenzierten
mittelalterlichen Vorstellungen nach der Kritik der Reformation und dem Neuansatz im 19. Jahrhundert im
kunst- und kulturhistorischen Kontext weiterentwickelt haben und was sie in der aufklärungskritischen Zeit
der realisierten Moderne noch sagen und bedeuten können.
Unter den 23 Autoren des Bandes fragt Britta Tanja Dümpelmann im Kapitel „Bücher“, ob Kasimir
Malewitschs Schwarzes Quadrat als Ikone der Moderne und die Welt als Ungegenständlichkeit als
Glaubensbekenntnis des Künstlers angesehen werden können. Zwar ziele Malewitschs Entwurf einer Welt
der Ungegenständlichkeit in einem engen Miteinander aus Text und Bild „auf den Bau einer zeitlosen, in
sich zweckfreien Welt aus plastischen Empfindungen“ und das semantisch offene Quadrat könne durchaus
auch für das Antlitz Christi stehen. Aber der Weg der Welt als Ungegenständlichkeit führe den Betrachter
„nicht zu einer visio oder einer unio mit Gott“, sondern münde „in einer >Lehre der Leere< als Weg und Ziel
zugleich“ (Britta Tanja Dümpelmann S. 54 f.). Weitere Beiträge des Kapitels beschäftigen sich mit Dürers
Verschlingen des apokalyptischen Buches (Monika E. Müller), der prominenten Präsentation des Stifters im
Stifterbild (Milan Pelc), dem >Rituellen Abschreiben des [Lotos]sūtras< (nyohôkyô) und der Narration und
Typologie in der >Goldenen Biblia pauperum< (Hanna Wimmer).
Im Kapitel „Leiber“ untersucht Uwe Fleckner Peter Greenaways Umgang mit dem nackten Körper. Der
englische Filmemacher hatte1991/92 die von ihm kuratierte Ausstellung The Physical Self im Rotterdamer
Museum Boymans van Beuningen nach eigenem Bekunden so angelegt, dass dem Publikum zunächst eine
stehende lebensgroße Aktfigur in einer Vitrine und das weltbekannt gewordene, gerade geborene und noch
von Blut und Schleim bedeckte Kind auf dem Benneton-Plakat ins Auge fielen. Die Erstannahme, dass die
Lebensalter inszeniert werden sollten, wurde durch den sich bewegenden lebensgroße Akt in der Vitrine
konterkariert: Es handelte sich um keine Aktdarstellung, sondern um einen lebendigen, einen atmenden
Menschen. In drei weiteren Vitrinen befanden sich weitere atmende und sich bewegende unbekleidete
Personen unterschiedlichen Geschlechts und Alters; alle nahmen unterschiedliche Stellungen ein. „Die
Nacktheit der ausgestellten Personen […] wies ihnen unter den Exponaten einen besonderen Status zu.
Greenaway selbst bezeichnete diese zentralen ›Objekte‹ seiner Ausstellung zwar als Bilder, als
stellvertretende Bilder der Ausstellungsbesucher […], doch die intellektuellen Konsequenzen dieser […]
kuratorischen Entscheidung gingen weit über eine bloß ausstellungsdidaktische Entscheidung hinaus“ (Uwe
Fleckner S. 152).
Körper und Körperfragmente sind in der Tradition immer wieder als Ganzkörperreliquien in gläsernen
Schreinen oder Sarkophagen oder in Reliquiaren und Ostensorien zur religiösen Verehrung oder wie Lenin
und Mao Zedong zur politischen Propaganda ausgestellt und gezeigt worden. Greenaway aber hat lebende
Menschen gezeigt und sie zum Artefakt, zum Kunstwerk erklärt. „Durch ihre Posen waren die ausgestellten
Menschen als Aktfiguren ausgewiesen, ihrem natürlichen Dasein wurden – nicht zuletzt durch die sie
umgebenden Vitrinen – artifizielle Wesenseigenschaften zugeschrieben: Mensch und Kunstwerk, Natur und
Kultur, Subjekt und Objekt, Realität und Idealität wurden auf diese Weise in ihrer ontologischen Opposition
außer Kraft gesetzt. Greenaways Inszenierung rührte damit an grundlegende abbildungs- und
porträttheoretische Aspekte. Es ist zu fragen, ob die dargebotenen Menschen durch die Tatsachen ihres
Ausgestelltseins zu Kunstwerken wurden, zu Abbildungen ihrer selbst, zu ihren eigenen Porträts. Die
Kunstgeschichte, insbesondere die Kunstgeschichte des Porträts, ist als der permanente Versuch aufzufassen,
das Abbild des Menschen in möglichst authentischen, ›wahren‹ Darstellungen zu erfassen. Es gehört zu den
Lobestopoi der Bildenden Kunst, das meisterliche Menschenbild als lebendig, als gleichsam atmend zu
beschreiben […]. Und scheinbar ist die höchste Stufe mimetischer Wiedergabe erreicht, wenn Greenaway –
kurzerhand – das Abbild durch den Menschen selbst ersetzt […]. Die stehende Frau, der ruhig hingestreckte
Mann imitieren in ihren Vitrinen ganz unwillkürlich die Posen klassischer Aktdarstellungen, unter den
Blicken der Ausstellungsbesucher werden sie in Momenten seinsverlorenen Schauens zu Artefakten […].
Das körperliche Selbst dieser hybriden menschlichen Bilder […] markiert damit einen extremen
künstlerischen Grenzfall“ (Uwe Fleckner S. 156 f.).
In weiteren Essays des Kapitels geht Dieter Blume der Neuinterpretation der Reliquienbüste des San
Gennaro im Dom von Neapel durch ein Wandbild von Jorit Agoch an der Piazza Crocella di Mannasi aus
dem Jahr 2015 nach, Jeannet Hommers dem Motiv des Armbrustspanners in den nordalpinen Bildkünsten
um 1500 und Margit Kern dem Körperbild der Mumie als Gegenstand transkultureller
Aushandlungsprozesse.
Im Kapitel „Orte“ untersucht Barbra Schellewald, wie die Bonner Helena-Kapelle an das daneben gelegene
Kaufhaus gekommen ist. Weitere Aufsätze beschäftigen sich mit dem Vorhang in den Wandmalereien der
Kirche San Julián de los Prados in Oviedo (Kristin Böse), dem mittelalterlichen Symboltransfer aus der
Antike (Ulrich Rehm) und dem Bildprogramm des Rostocker Marienteppichs (Marina Vicelja-Matijašić).
ham, 25. September 2018
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