Basierend auf einem Vortrag beim Würzburger Diözesanempfang im Januar 2022

Mit einem Vorwort von Gregor Gysi

Kösel-Verlag, München, 2022, ISBN: 978-3-466-37303-1, 80 Seiten, Paperback, Klappenbroschur,

Format 18,7 x 11,8 cm, € 12,00 (D) / € 12,40 (A) / CHF 17,90

Es erstaunt, dass der langjährige Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag Gregor Gysi eine religionsfreie Gesellschaft fürchtet, obwohl er nicht an Gott glaubt (vergleiche dazu Gregor Gysi am 23.04.2020 über den Papst und die Religion. In: https://www.linksfraktion.de/presse/pressemitteilungen/detail/eine-moschee-hagia-sophia-ist-ein-rueckschritt/. Es sei ihm wichtig, so Gysi, dass der befreiende Gehalt religiöser Ideen nicht verloren gehe, „weil es dann kaum definierte Werte und Moralvorstellungen gäbe und wichtige Traditionen verschwänden, zum Beispiel Weihnachten, Ostern und Pfingsten“ (Gregor Gysi a. a. O.). 

„Auch wenn Demokratie immer einen formalen Verfahrenskern hat, verkümmert sie, wenn sie ausschließlich als eine Ansammlung von Verfahren zur Herrschaftslegitimierung begriffen wird … Eine gesellschaftliche Realität, die sich allzu weit von demokratischen Ideen einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen entfernt, in der es um die vernünftige Auseinandersetzung um ein gemeinsames Wohl geht, entfremdet die Demokratie von ihrem emanzipatorischen Gehalt. Wenn man irgendetwas daran ändern will …, dann muss man den Willen, die Kraft und auch den Mut haben, sich mit den Mächtigen anzulegen … Und es sind eben zur Zeit nur die Religionen wirklich in der Lage, grundlegende Moral- und Wertvorstellungen allgemeinverbindlich in der Gesellschaft prägen zu können“ (Gregor Gysi S. 13 f.).

Dass auch der 1965 in Lörrach im Hochschwarzwald geborene und heute in Jena lehrende Soziologe, Politikwissenschaftler und Mitherausgeber der Fachzeitschrift Time & Society und des Berliner Journals für Soziologie Hartmut Rosa entgegen dem Zeitgeist die These vertritt, dass Demokratie Religion braucht, verwundert nicht weniger. So konstatiert die Politikredakteurin Annette Zoch, dass die derzeitige Ampel-Koalition kirchenfern agiert und vor allem das Ministerium von Annalena Baerbock in der Kritik steht, seit beim G-7 Außenministertreffen im Rathaus von Münster ein 500 Jahre altes Holzkreuz entfernt wurde und das 2018 auf Initiative von Frank-Walter Steinmeier ins Leben gerufene „Referat Religion und Außenpolitik“ auf Eis liegt. „Seit dem Regierungsantritt der Ampel steht diese unter dem besonders von Unionspolitikern befeuerten Generalverdacht, die Religionen aus den Augen zu verlieren. Und die Kirchen, sich ihres eigenen Schrumpfens schmerzlich bewusst, fühlen sich in diesem Eindruck bestätigt“ (Annette Zoch, Wie hält es das Auswärtige Amt mit der Religion? In: Süddeutsche Zeitung Nr. 204 vom 16. November 2022, S. 5).

Wenn es nach Hartmut Rosa ginge, wäre das Religionsreferat im Außenministerium wohl wieder schleunigst einzurichten. Denn Religion hat nach Rosa in einer auf Innovation angelegten und deshalb die Natur und sich selbst aggressiv ausbeutenden Überbietungsgesellschaft eine „verdammt wichtige, eine sehr wichtige Rolle“ zu spielen. Warum? Ganz einfach, weil er glaubt, „dass sie einer Gesellschaft etwas anzubieten hat. Zumal einer Gesellschaft, die sich im atemlosen, rasenden Stillstand befindet, der einen ziemlich hohen Preis hat, denn wir merken ja, diese Gesellschaft … verzweifelt nach einer alternativen Form der Weltbeziehung, des In-der Welt-Seins [sucht]“ (Hartmut Rosa S. 26 f.). Nach Rosa sind wir als Gesellschaft in einer ernsthaften Krise, weil es dieser Gesellschaft „massiv am hörenden Herzen mangelt – in politischer Hinsicht und in allen möglichen anderen Hinsichten auch. Und deshalb brauchen wir Ideen, Praktiken und dergleichen mehr, die uns deutlich machen, was das eigentlich heißen könnte – ein hörendes Herz zu haben. Elemente einer Antwort können wir in religiösen Kontexten durchaus finden“ (Hartmut Rosa S. 27 f.). 

Der Ausdruck „hörendes Herz“ geht auf Salomo, den Sohn Davids zurück, der seine Grenzen kennt und deshalb Gott, als er König wird, um ein hörendes Herz bittet und ein weises und verständiges Herz bekommt, weil er weder um ein langes Leben, noch um Reichtum, noch um den Tod seiner Feinde gebeten hat: „So hast du jetzt, HERR, mein Gott, deinen Knecht anstelle meines Vaters David zum König gemacht. Doch ich bin noch sehr jung und weiß nicht aus noch ein. Dein Knecht steht aber mitten in deinem Volk, das du erwählt hast: einem großen Volk, das man wegen seiner Menge nicht zählen und nicht schätzen kann. Verleih daher deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht!“ (1. Könige 3, 7 – 9 in der Einheitsübersetzung von 2016). 

Nach Rosa hat der Ausdruck „hörendes Herz“ wie ›listening‹, das Hören, Horchen, Lauschen im Englischen eine aktive und wie ›hearing‹, die Anhörung, die Verhandlung eine passive Seite. „Ein solches hörendes Herz fällt aber nicht vom Himmel, überhaupt ist diese Haltung in einer Aggressionsgesellschaft besonders schwer einzunehmen … Wir haben eine Krise der Anrufbarkeit, und die zeigt sich in der Glaubenskrise und in der Demokratiekrise gleichermaßen. Mit Bruno Latour würde ich das so ausdrücken: Das Wichtigste ist, dass ich aufhöre. Das ist eins meiner Lieblingswörter – aufhören. Und das hörende Herz passt da gut dazu. Einerseits meint dieses großartige Wort ›aufhören‹ anhalten, stoppen. Andererseits heißt das Wort auf-hören, dass ich, während ich am Abarbeiten der To-do-Liste bin, mich im Hamsterrad, im rasenden Stillstand verausgabe, aufwärts höre, nach außen lausche, mich anrufen und erreichen lasse von etwas anderem, von einer anderen Stimme, die etwas anderes sagt als das, was auf einer To-do-Liste steht und was sowieso erwartbar ist und sozusagen funktionalen Austausch besteht.

Die Gesellschaft, ja die Demokratie bedarf dieser Fähigkeit, sich anrufen zur lassen. Diese Fähigkeit habe ich mit dem Begriff der Resonanz zu fassen versucht, es ist nicht nur eine Fähigkeit, es ist ein anderes Weltverhältnis“ (Hartmut Rosa S. 55 ff.). Resonanz hat für Rosa vier bestimmende Elemente. Das erste ist die Affizierung, die Anrufung. „Etwas ruft mich an, bringt mich zum Auf-hören, und deshalb muss dieses Etwas, kann es nicht einfach das sein, was ich schon immer gedacht habe. Es kommt ein transgressives Moment ins Spiel … Resonanz bedeutet das Hören eines dezidiert Anderen, und das kann durchaus auch irritierend sein“ (Hartmut Rosa S. 58 f.). Wenn mich etwas erreicht und ich antworte, entsteht eine Verbindung und ich fühle mich lebendig. Das ist das Zweite. „Ich kann mit dem, mit der Stimme, die mich da erreicht, mit der Musik, die mir da begegnet, etwas machen“ (Hartmut Rosa S. 61). Wo es gelingt, selbstwirksam auf einen Anruf zu reagieren, stellt sich das Moment der Transformation ein, das dritte Moment der Resonanz. Ich komme „in eine andere Stimmung und auf andere Gedanken. Ich fange an, die Welt anders zu sehen oder anders zu denken … Ich bin nicht mehr der oder die Gleiche, sondern ich verwandle mich … Das ist … dieser Moment der Lebendigkeit. Das Entscheidende dabei ist …, dass ich diesen Moment nicht erzwingen“ und nicht voraussagen kann, was dabei herauskommt (Hartmut Rosa S. 62 ff.). „Zur Unverfügbarkeit der Resonanz gehört daher ihre Ergebnisoffenheit …Mein Kollege Hans Joas spricht an dieser Stelle von der Kreativität des Handelns, aber eigentlich ist meine Lieblingsmetapher für diesen Moment der Begriff der Natalität von Hannah Arendt …: Da entsteht plötzlich der neue Gedanke, den ich vorher nicht gedacht habe, und Sie auch nicht. Deshalb ist Resonanz … der Ort der Entstehung des Neuen“ (Hartmut Rosa S. 65 f.).

Religion stellt, wenn man Rosa folgt, Räume und Konzepte wie das Gebet zur Verfügung, die es erlauben, sich für die Anrufung durch das ganz Andere zu öffnen und darauf zu vertrauen, dass am Grund der Existenz nicht das schweigende, kalte, feindliche Universum oder der nackte Zufall steht, sondern eine Antwort- und eine Resonanzbeziehung. „Für mich ist das der Kern religiösen Denkens in den monotheistischen Religionen, aber wahrscheinlich auch weit darüber hinaus, also ganz sicher im Hinduismus und auch im Buddhismus … Es geht mir nicht um die Frage, ob es vernünftig ist zu glauben, ob es einen Gottesbeweis gibt, ob die Bibel die Welt erklärt oder gar Gottes Wort ist oder irgend so etwas. Alle diese Fragen kann ich als Soziologe nicht nur nicht beantworten, sondern nicht einmal sinnvoll stellen. Es geht mir um die Frage, welche Art von Weltbeziehung aus der oder in der religiösen Praxis entsteht. Mein letztes Wort ist deshalb: Religion hat die Kraft, sie hat ein Ideenreservoir und ein rituelles Arsenal voller entsprechender Lieder, entsprechender Gesten, entsprechender Räume, entsprechender Traditionen und entsprechender Praktiken, die einen Sinn dafür öffnen, was es heißt, sich anrufen zu lassen, sich transformieren zu lassen, in Resonanz zu stehen.

Wenn die Gesellschaft das verliert, wenn sie diese Form der Beziehungsmöglichkeit vergisst, dann ist sie endgültig erledigt. Und deshalb kann die Antwort auf die Frage, ob die heutige Gesellschaft noch der Kirche oder der Religion bedarf, nur lauten: Ja!“ (Hartmut Rosa S. 71 ff.).

Ein kurzer Nachtrag zur Konfession von Gregor Gysi, Annalena Baerbock und Hartmut Rosa: Gregor Gysi hat einen jüdischen Urgroßvater mütterlicherseits und eine jüdische Großmutter väterlicherseits. Sein Vater war damit nach der Halacha jüdisch. Er selbst hat keine jüdische Mutter und ist deshalb kein Jude. Er sagt von sich, dass er überhaupt kein religiöser Mensch sei (vergleihe dazu Gregor Gysi. In: https://de.wikipedia.org/wiki/Gregor_Gysi). Bundesaußenministerin Annalena Baerbock ist evangelisch, aber nach eigenem Bekunden „nicht ganz gläubig“ (vergleiche dazu Annette Zoch, Wie hält es das Auswärtige Amt mit der Religion? a. a. O.). Hartmut Rosa stammt aus einem katholischen Dorf und einem katholischen Milieu. Seine Eltern haben alle möglichen religiösen Dinge ausprobiert, sodass er eher am Rande der christlichen Tradition aufgewachsen ist. „Irgendwann bin ich in der evangelischen Kirche gelandet und habe dazu mein eigenes Verhältnis entwickelt, weil ich dort nie hineingezwungen wurde“ (Hartmut Rosa im Gespräch über das bleibende Grundbedürfnis nach Religion. In: https://www.herder.de/hk/hefte/archiv/2017/10-2017/das-grundbeduerfnis-nach-religion-wird-bleiben-ein-gespraech-mit-dem-soziologen-hartmut-rosa/). In seinem Beitrag ›Demokratie braucht Religion‹ ist der Vortragsstil beibehalten.

ham, 16. November 2022

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