Psychozial-Verlag 2015, überarbeitete und erweiterte Neuauflage von ›Älter werden will gelernt sein‹,
2. Auflage 2009 (Klett-Cotta, Stuttgart), ISBN 978-3-8379-2451-9, 233 Seiten, Broschur, Format 21 x 14,8 cm, € 19,90
Wer sich wie der 1935 in Berlin geborene deutsche Psychiater, Psychoanalytiker und Nestor der deutschsprachigen Psychotherapie Älterer Hartmut Radebold ein Leben lang wissenschaftlich mit dem Altwerden auseinandergesetzt hat und gemeinsam mit seiner 1941 geborenen Frau Hildegard alt werden konnte, kann die Entwicklungsaufgaben, die im Alter für 60 bis 80-Jährigen anstehen, kompetent, wirklichkeitsnah und packend beschreiben. Deshalb ist das 2015 unter dem Titel ›Zufrieden älter werden‹ neu aufgelegtes gemeinsame Nachdenken von Hartmut und Hildegard Radebold über die Lernaufgaben im Alter nach wie vor mit großem Gewinn zu lesen. Zur Vorbereitung auf das Alter gehört für das Paar zuallererst eine realistische Bestandsaufnahme der eigenen Situation. Das eigene Wissen über das Alter stützt sich in aller Regel auf höchst individuelle familiäre Erfahrungen und ist immer noch von Vorbildern aus der Generation der Kriegskinder und ihren Traumata geprägt.
Radebold hat unter anderem auch zu den Langzeitfolgen von Kriegskindheiten geforscht, die erst im Prozess des Alterns sichtbar werden. Kriegskinder der Jahrgänge1929 bis etwa 1947 wussten zwar die Fakten, das, was im Krieg und in den Jahren danach passiert ist, und sie identifizierten sich auch mit der deutschen Schuld. Aber sie haben ihre in diesen Jahren erlebten Gefühlen abgespalten und ähnlich wie Lehrer in den Nachkriegsjahren kaum oder gar nicht über sie gesprochen. „Sich selbst, ihren Eltern und der Umwelt haben sie angeboten: ‚Es ist alles vorbei, wir haben alles bewältigt und wir funktionieren wieder’. Von daher gab es keine Botschaft über Störungen, Schwierigkeiten und Folgen. Entsprechend war die Öffentlichkeit, waren die Mütter, Ärzte, die Psychologen, die Sozialarbeiter/innen […] auch entlastet: ‚es ist vorbei, wir müssen uns nicht mehr darum kümmern’. Die Wissenschaft hat sich dann auch nicht mehr damit beschäftigt, und die ‚Psych-Fächer’ haben sich auf die innerpsychische Welt zurückgezogen, die äußere Realität spielte keine Rolle mehr. Das lässt sich nachweisen für die Psychoanalyse, die Psychosomatik und die Alterswissenschaften“ (Hartmut Radebold im Gespräch, vergleiche dazu https://ev-bildungszentrum.de/interview/im-gespraech-mit-prof-hartmut-radebold/). Erst ab 2005 wurde das Thema in Deutschland diskutierbar und darstellbar. Zu den auffälligen Langzeitfolgen von Kriegskindheiten gehören in Deutschland leichtere bis mittlere depressive Störungen, Störungen mit einer Angstsymptomatik, hinter der eine so genannte chronifizierte posttraumatische Belastungsstörung stecken könnte; dazu kommen Bindungsstörungen in der Folge von symbiotischen Beziehungen der alleinerziehenden Mütter zu ihren einzigen Kindern und auch die so genannten ich-syntonen Verhaltensweisen der Kriegskinder, die wir kennen: sparsam und fleißig sein, funktionieren, planen, altruistisch sein. Und schließlich: Kriegskinder „haben nicht gelernt, auf den Körper Rücksicht zu nehmen. Das geht zurück auf die Ideologie des Nationalsozialismus. Denken Sie an den Satz von Hitler: ⟩So sollen die Jungen sein: Flink wie die Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl.⟨ Aber es gibt überall den Spruch, der sich daraus ableitet: ‚Was uns nicht umbringt, macht uns hart!’. Diese Haltung mag unter den damaligen Umständen notwendig gewesen sein: Unterernährung, Krankheiten, kaum medizinische Behandlung usw. Aber jetzt müssten wir uns intensiv um unseren Körper, unsere Gesundheit und um die Behandlung von Krankheiten kümmern. Das wird sträflichst von diesen Altersjahrgängen vernachlässigt, viel mehr von den Männern als von den Frauen“ (Hartmut Radebold a. a. O.)
Gefragt, ob sich die Erfahrungen der Kriegskinder nicht von der nachfolgenden Generation abtrennen lassen, antwortet Radebold: „Darüber gibt es Forschungen aus Israel, die besagen, dass die Generationen sich nicht voneinander abgrenzen können, sondern sich sozusagen ineinander schieben. Die Kinder sind in solch großem Umfang in die Geschichte ihrer Eltern eingebunden, dass sich die nächste Generation nicht klar davon abgrenzen kann. Und das, obwohl die Geschichten zwar teilweise verschwiegen wurden, aber dennoch überall abzulesen waren, z. B. dass bestimmte Themen vermieden werden. Eine Abgrenzung in dem Sinne, dass formuliert wurde, ⟩das sind wir jetzt mit unseren Interessen, Ideen, Vorstellungen und Wünschen und das sind unsere Eltern⟨, hat nicht stattgefunden. Es verschiebt sich also ineinander, und dadurch haben die Kinder sehr viel von ihren Eltern übernommen. Dies begann schon mit dem 1. Weltkrieg. Der 1. Weltkrieg hinterließ 1,8 Mio. Kriegstote und 2,5 Mio. Kriegsbeschädigte. Das sind die Eltern der Kriegskinder. Die Kriegskinder geben ihre Erfahrungen an ihre Kinder weiter. Aber was die Kinder der Kriegskinder an ihre Kinder weitergeben, wissen wir nicht“ (Hartmut Radebold. a. a. O.).
Damit hat die Bibel wohl mutmaßlich recht, wenn sie sagt, dass Gott die Menschen bis ins dritte oder vierte Glied bestraft. Dazu Radebold: „Ich habe immer gehofft, dass das nicht stimmt, aber ich habe jetzt den Eindruck, leider, leider, stimmt es […]. Ein zentraler Befund ist wohl, dass etwa in 80 % aller Familien über die Kindheitsgeschichte der Eltern geschwiegen worden ist. Das heißt, die Kinder haben etwas wahrgenommen, wussten aber nicht, was es bedeutet. In etwa 20 % ist darüber geredet worden. Teilweise sind die Kinder damit überschüttet worden, so dass sie es nicht mehr hören wollten. Und wenn überhaupt erzählt worden ist, dann eher von ‚Abenteuergeschichten’ aus dem Krieg“ (Hartmut Radebold. a. a. O.)
Damit stellt sich für alt gewordenen Eltern aus der Kriegsgeneration folgende Aufgabe: „Erstens müssen wir begreifen, dass wir etwas weitergegeben haben, was wir nicht wollten, was aber passiert ist. Zweitens müssen wir unseren erwachsenen Kindern ein Angebot machen, etwa: „Ich habe Euch nichts erzählt darüber, jetzt würde ich Euch gerne, wenn es Euch interessiert, darüber etwas erzählen“. Drittens müssen wir unsere Kinder fragen: „Was hat das mit Euch gemacht? Wie hat es Euch belastet? Wie habt Ihr darauf reagiert? Wie hat es Euer Leben geprägt?“ Und wir müssen uns viertens auch die Vorwürfe unserer Kinder, die ja daraus resultieren können, anhören und akzeptieren. Die Kinder müssen sich ihrerseits klarwerden, insbesondere bei schwer gestörten intergenerationalen Beziehungen, vielleicht auch mit Hilfe einer Psychotherapie oder einer Familientherapie, was das mit ihnen gemacht hat. Und ich glaube, dann ist diese Kette […] unterbrechbar. Aber nur dann. Wenn sie unbewusst weiterläuft, ist sie wirklich eine aus sehr gutem Stahl geschmiedete Kette“ (Hartmut Radebold a. a. O.).
Zu einer realistischen Bestandsaufnahme der eigenen Lebenssituation gehören für Radebold und Radebold neben der Wahrnehmung der psychischen Traumata der Elterngeneration die Anamnese familiärer Belastungen durch Krebs-, Herz-Kreislauf-, Zucker- und andere Erkrankungen, die Rekonstruktion früherer eigener Erkrankungen, zeitnahe körperliche Untersuchungen, die Abklärung verfügbarer Einkommen und anstehender finanzieller Verpflichtungen und schließlich die Frage, ob die vorgesehene Wohnung und ihr Umfeld altersgerecht sind und wo und von wem man im Pflegefall versorgt werden kann.
Mit dem Eintritt in den Ruhestand verliert die bisherige Berufstätigkeit ihre zentrale Rolle; deshalb sollte man sich klar werden, wie man den jetzt folgenden Lebensabschnitt so planen und organisieren kann, dass man mit sich selbst zufrieden ist. „Hofft man auf wirklich befriedigende Aktivitäten […], ist es sinnvoll, folgende […] Aspekte zu berücksichtigen:
Das Älterwerden vermittelt sich über die äußerlichen Veränderungen unseres Körpers. Trotzdem brauchen wir ihn jetzt erst recht, weil er zu unserem „letzten Verbündeten“ wird, „wenn sich unsere Beziehungen, insbesondere im hohen Alter, verringern oder sogar entfallen. Über Symptome und Einschränkungen […] erhalten wir Zugang zu Ärzten, Pflegekräften, Rehabilitationsfachkräften, das heißt, im Bedarfsfall haben wir Anspruch auf angemessene Behandlung. Manchmal sind diese Fachkräfte die einzigen Menschen, zu denen wird noch Kontakt haben. Versagen die Funktionen unseres Körpers, sterben wir“ (Hartmut und Hildegard Radebold, Zufrieden älter werden S. 113). Sich um den eigenen Körper zu kümmern ist deshalb Voraussetzung dafür, dass man sich darin auch wohlfühlt.
Eine dritte Aufgabe besteht darin, das ⟩Kind in uns⟨ zu suchen und anzunehmen. „Heute über 65-jährige Erwachsene erlebten Kindheit und Jugendzeit auffallend unterschiedlich […]. Entwicklungen und Erfahrungen der damaligen Kindheit wirken sich noch heute entscheidend auf das eigene Altern aus. Wichtig wird daher, sich die damalige eigene Entwicklung zu vergegenwärtigen oder sich möglicherweise erstmalig bewusst zu machen. Auch die heute 60-Jährigen wuchsen noch nicht im wirklichen ⟩Frieden⟨ auf, so wie wir ihn seit der Wiedervereinigung erleben dürfen. Die Liste möglicher schlimmer, schrecklicher bis katastrophaler Erfahrungen ist bei den ⟩Kriegskindern⟨ leider sehr lang. Zur Erinnerung: Ständige Luftangriffe und Ausbombungen (teilweise mit Verschüttungen), Evakuierung oder Kinderlandverschickung, Flucht, Vertreibung mit Heimatverlust, Lageraufenthalt oder Heimunterbringung, Abwesenheit und Verlust naher Bezugspersonen (Vater, Mutter, Geschwister, Großeltern), Miterleben von Gewalt (Verletzungen und Verwundungen, Vergewaltigungen, Tötungen), Hunger und Unterernährung, schwere Krankheitszustände mit ungenügenden Behandlungsmöglichkeiten, Verarmung mit sozialem Abstieg u.a.m. […]. Eine derart geprägt Kindheit und Jugendzeit kann ⟩Ballast⟨ für das Altern bedeuten: Nach lebenslang eingeforderter und erfüllter Pflicht“ besteht häufig nur eine eigene innere Leere“ (Hartmut und Hildegard Radebold, Zufrieden älter werden S. 126 ff.). Hätte man die Chance, das Kind in sich anzunehmen und wiederzuentdecken, könnte man an die Träume der Kindheit anknüpfen und sie auf neue Art und Weise verwirklichen.
Weitere Aufgaben stellen sich mit erlittenen Krankheiten, dem Sterben des Partners und dem Eintreten in die Phase des eigenen Sterbens.
ham, 4. Juni 2020