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Hans Zitko: Kunstwelt

Von Helmut A. Müller | In Rezensionen, Sachbuch Kunst

Mediale und systemische Konstellationen
Fundus-Bücher 191, hrsg. von Jan-Frederik Bandel und Harald Falckenberg
Philo Fine Arts, Hamburg 2012, ISBN 978-3-86572-590-5, 483 S., Hardcover gebunden mit
Lesebändchen, Format 16,5 x 10,5 cm, € 22,–
Hans Zitko geht in seiner faszinierenden Studie ‚Kunstwelt‘ der Frage nach, wie die Seinsart von
Kunstwerken zu bestimmen sei. Nach seiner Auffassung lässt sich diese Frage weder durch den
Verweis auf die Gesamtheit der diskutierenden und interpretierenden Individuen und deren
theoretische Diskurse, noch in den Gegenständen selber, noch in dem sich herausbildenden
Kunstsystem und seiner musealen Repräsentation in den Museen ,noch in den von Niklas Luhmann
diskutierten Codes finden, die das Kunstsystem gegen seine Umwelt abgrenzt. Nach der Auffassung
von Zitko lassen sich Kunstwerke nicht von den skizzierten Einzelfaktoren her bestimmen. Eine
sinnvolle Beschreibung der Seinsart von Kunstwerken ergibt sich erst, wenn alle medialen und
systemischen Konstellationen, die zur Entstehung von Kunstwerken beitragen, betrachtet und
miteinander ins Gespräch gebracht werden. „Wissensbestände, institutionelle Macht, Formen der
Präsentation und Geld bilden gemeinsam, in wechselseitiger Abhängigkeit, die Voraussetzungen der
Identifikation und Wahrnehmung von Objekten der Kunst. Die Beschreibung dieses Zusammenhangs
erfordert ein Abschiednehmen von Modellen, die jeweils einen einzigen Faktor auf Kosten der übrigen
Faktoren zur allein bestimmenden Größe des gesamten Geschehens erheben. Das Sein des Werks ist
von mehreren Instanzen abhängig, die ein Rahmensystem konstituieren, das die Aufmerksamkeit
bündelt und damit einem möglichen Objekt zur Erscheinung verhilft… Der Prozess der Wahrnehmung
von Kunst muss unter Berücksichtigung sämtlicher Momente des Wahrnehmungsprozesses
thematisiert werden. Zu den Wissensbeständen, der institutionalisierten Macht, den
Präsentationsformen und dem Geld tritt das im Fokus dieser Faktoren rezipierte Objekt. Zwischen
diesen Elementen bestehen komplexe Verhältnisse der Wechselwirkung. Man hat es mit einem Netz
von Beziehungen zwischen Funktionsgliedern zu tun, in dem die Leistungen jedes einzelnen Gliedes
an die Leistungen der übrigen Glieder gebunden sind. Interaktionen bestehen dabei nicht nur zwischen
dem rezipierten Objekt auf der einen und den Rahmenfaktoren auf der anderen Seite; die Letzteren
stehen vielmehr ebenfalls untereinander in Wechselwirkung… Es bietet sich an, diese
Zusammenhänge unter medientheoretischen Gesichtspunkten zu betrachten“ (Hans Zitko). Bei dieser
Betrachtung bleibt Niklas Luhmanns systemtheoretische Beschreibung des Systems Kunst ständiger
Gesprächspartner, auch wenn Zitko sich von diesem abgrenzt. Die Grenzen des Luhmannschen
Ansatzes werden unter anderem an den von Luhmann stark gemachten Leitdifferenzen verdeutlicht,
die das System Kunst seiner Meinung nach gegenüber anderen Systemen abgrenzt. „Im Anschluss an
Theorien der Biologie spricht Luhmann bekanntlich von autopoietischen Prozessen. Möglich wird die
operative Autonomie der Systeme in diesem Modell durch eine spezifische Codierung… die die
selektiven Operationen im Inneren der Systeme steuert. Als Code des Sozialsystems der Kunst
benennt er die Unterscheidung schön/hässlich bzw. stimmig/nicht stimmig…. Dass die Differenz
schön/hässlich vor allem im Hinblick auf die moderne Kunst als unzureichend gelten kann, hat er
selbst bemerkt, doch die an deren Stelle gesetzte Unterscheidung stimmig/nicht stimmig ist ebenfalls
wenig geeignet, das Erfahrungsgeschehen in der Kunst verständlich zu machen. Das Motiv der
ästhetisch-formalen Ordnung, dem er durch die Code-Werte zur Geltung verhelfen will, ist selbst
nicht mehr als ein kontingentes, austauschbares Produktions- und Rezeptionsprogramm, dem sich die
Kunst der Moderne oder Postmoderne vielfach demonstrativ entgegenstellt… Die Suche nach einem
binären Code als dem Steuerungsfaktor der Operationen des Systems Kunst ist ein Irrweg. Luhmann
folgte diesem Irrweg, weil er an einer Rechtfertigung der falschen Vorstellung von einer operativen
Autonomie des Systems interessiert war“ (Hans Zitko). An die Stelle der Vorstellung eines
autonomen, operativ geschlossenen Kunstsystems soll nach Zitko die Vorstellung von sich gegenseitig
durchdringenden Systemen treten. In das System Kunst sind für Zitko unter anderem Theoreme der
christlich-abendländischen Theologie eingedrungen. Heute steht für ihn das Geld im Vordergrund.
„Man kann davon ausgehen, dass die Logik des Geldes … zumindest in der Kunst zu einem
Leitmedium avanciert ist, nach welchem sich die Prozesse der Wechselwirkung aller übrigen Medien
und Systeme ausrichten“ (Hans Zitko). Zweifellos ist das Geld zu einer beherrschenden Größe auch
im System Kunst geworden. Die Frage ist nur, ob Kunst alternativenlos unter dem Leitmotiv Geld
betrachtet werden muss. Möglicherweise kommt in dieser Perspektive nur die mediale Oberfläche des
Systems in den Blick und die tausendfach gelebten und gedachten Tiefenschichten gehen verloren:
Könnte es nicht sein, dass neben der derzeit dominierenden scheinbar unauflöslichen Verquickung von
Kunst und Geld unter der Oberfläche alle alternativen Vorstellungen von Kunst gelebt werden, die in
der Geschichte der Kunst schon einmal gedacht, diskutiert und praktiziert worden sind? Es gibt nicht
nur die von Zitko vorgeführte Oberfläche. Es gibt es nicht nur die beschriebene Welt der Kunst. Es
gibt sie zweifellos; aber es gibt auch die immer schon gelebten Alternativen.
Wie auch immer: Zitkos Studie ist mit allergrößtem Gewinn zu lesen. Wenn man ihm aber
alternativlos folgt, bleibt man auf der Einsicht sitzen, dass keines der Kleider, die man der Kunst
jemals umgehängt hat, richtig passt. Man kann dann letztendlich nur noch wie das Kind im Märchen
sagen: die Kunst ist nackt.
(ham)

Download: Hans Zitko – Kunstwelt

 

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