Aus dem Englischen von Annabel Zettel und Andreas Wirthensohn
Verlag C.H.Beck, München 2015, ISBN 978-3-406-67364-1, 206 Seiten, Hardcover gebunden mit
Schutzumschlag, Format 20,8 x 13,5 cm, € 19,95 (D) / € 20,60 (A) / SFR 28,50
Wer vor 30, 40 oder 50 Jahren Ausstellungen auf den Weg gebracht hat, hat sich in aller Regel als
Ausstellungsmacher bezeichnet. Heute erhält mehr Aufmerksamkeit, wer von sich nicht mehr als
Ausstellungsmacher, sondern als Kurator spricht. Hans Ulrich Obrist, studierter politischer Ökonom, Ko-
Direktor der Serpentine Gallery in London und eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der
internationalen Kunstwelt überhaupt, benützt weder die eine noch die andere Berufsbezeichnung, sondern
substantiviert das Verb kuratieren, fügt ein Ausrufungszeichen hinzu und spricht vom „Kuratieren!“. Dabei
geht Obrist von der Beobachtung aus, dass derzeit nicht mehr nur Ausstellungen, sondern auch Krabben,
Hummer und Nudeln von den Köchen, die sie für ihre Speisen verkochen, kuratiert werden, Nutzer der
Social Media Inhalte kuratieren und Barack Obama sich von Soziologen als den „Chefkurator des Bush-
Erbes“ bezeichnen lassen muss. „Ganz offenkundig wird der Begriff << Kuratieren>> in einer größeren
Bandbreite von Kontexten verwendet als jemals zuvor, im Hinblick auf alles, von einer Ausstellung mit
Drucken Alter Meister bis hin zum Sortiment einer Weinhandlung. Sogar die Verbform, die heutzutage
ständig gebraucht wird, kuratieren und ihre Varianten (Das Kuratieren, kuratiert) sind Prägungen des 20.
Jahrhunderts. Das zeigt eine Bedeutungsverschiebung weg von einer Person (einem Kurator) hin zu einer
Tätigkeit (Kuratieren), die heute als eine eigene Aktivität wahrgenommen wird. Derzeit existiert eine
gewisse Beziehung zwischen der Idee des Kuratierens und der gegenwärtigen Vorstellung von einem
kreativen Selbst, das frei durch die Welt streift und ästhetische Entscheidungen darüber trifft, wohin es geht,
was es isst, trägt und tut“ (Hans Ulrich Obrist, S. 35 f.).
Wer im Sinne von Obrist kuratieren möchte, braucht ein Initiationserlebnis, eine hohe Eigeninitiative, ein
stupendes Wissen, eine unstillbare Neugier, einen langen Atem und ein nahezu manisches Interesse an der
Sache. Dazu muss die Bereitschaft kommen, sich mit wenig Schlaf zu begnügen, der unbedingte Wille, mit
den Hauptakteuren des Systems in eine vertiefte und lange währende Kommunikation einzutreten und die
Absicht, von Künstlern bisher nicht verwirklichte Vorhaben in neuen Ausstellungsformaten auf den Weg zu
bringen. Schließlich sollte er oder sie fähig sein, ein Leben lang von lebenden und toten Kuratoren und
Künstlern zu lernen. Wer dann auch noch wie Obrist polyglott ist, kann eigentlich nicht mehr viel falsch
machen.
Obrists Kuratorenkarriere begann mit einem Besuch bei dem Künstlerpaar Peter Fischli und David Weiss.
„Ich wurde im Atelier von Fischli und Weiss geboren: Dort fiel meine Entscheidung, Ausstellungen
kuratieren zu wollen, obwohl ich die meiste Zeit meiner Jugend mit der Betrachtung von Kunstwerken,
Sammlungen und Ausstellungen verbracht hatte. Fischli und Weiss waren zudem die Ersten, die mich
fragten, was ich sonst noch gesehen hatte und was ich über das, was ich gesehen hatte, dachte. Auf diese
Weise begann ich, ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln, einen Drang, meine Reaktionen auf die Kunst
zu erklären und zu rechtfertigen – in einen Dialog einzutreten … Sie begannen, mir auch von anderen
Künstlern zu erzählen, deren Werk ich sehen, die ich aber auch persönlich treffen sollte“ (Hans Ulrich Obrist
S. 15 f.).
Potentiell konnte jede weitere Begegnung seiner Mission eine neue Richtung geben, aber die eine
Begegnung mit Alighieri Boetti im Jahr 1968 veränderte sein Leben „innerhalb nur eines Tages. Ein Rat,
den er mir für die Konversation mit Künstlern gab, war, sie stets nach ihren unrealisierten Projekten zu
fragen. Das habe ich seitdem immer getan“ (Hans Ulrich Obrist S. 21). Er regte ihn auch als erster dazu an,
das Werk von Édouard Glissant zu lesen, der ihn auf theoretischer Ebene am meisten beeinflusst hat. In
dieser Spur entstanden dann u.a. die Jahresausstellung mit Bildern von Boetti in den Bordmagazinen der
Flugzeuge der Austrian Airline, die global angelegte do it – Ausstellung, die 1993 mit zwölf kurzen und
später in acht Sprachen übersetzten Do-it-yourself-Anleitungen und Verfahrensweisen begann, Mitwirkende
mit verschiedenem Hintergrund und aus unterschiedlichsten Disziplinen zusammenbrachte und sich von
Station zu Station zu einem dynamischen, lernenden und komplexen System erweiterte. „Die Realisierung
der Kunstwerke … lag in den Händen des Publikums oder der Mitarbeiter des Museums. Den Künstlern, von
denen die Instruktionen stammten, war es nicht erlaubt, Einfluss zu nehmen: Es sollte kein vom Künstler
produziertes <>geben“ (Hans Ulrich Obrist S.31). Weiter Ausstellungen haben in der Küche von
Obrist und im Museum für Stadtentwässerung in Zürich stattgefunden.
Eine Ausstellung ergab sich für Obrist aus der anderen. Er erzählt und erzählt und bleibt trotz seines
weltweiten Erfolgs ausgesprochen bescheiden. Er nimm sich zurück und wirkt unaufgeregt. Obrist weckt
Interesse, zieht Sympathien auf sich und überzeugt. Deshalb könnte man zwar wie Catrin Lorch im
Feuilleton der SZ vom 10.3. 2105 einzelne mögliche Missverständnisse wie die vorwiegende Herleitung von
Kunstausstellungen aus den Prozessionen des Spätmittelalters aus fachwissenschaftlicher Sicht kritisieren.
Aber dann ist einem sein in den großen Linien überzeugender Essay doch wichtiger. Man könnte auch
fragen, warum Obrist sich in seinem Großessay jedweder Aussage über die Rolle des Kapitals im System
Kunst enthält. Aber Okwui Enwezors verunglückte Kapitalismuskritik vor Augen ( – Enwezor macht in der
Hauptausstellung der 56. Kunstbiennale von Venedig aus dem „Kapital“ von Karl Marx eine ästhetische
Geste, indem er es mit großem Aufwand vor dem Publikum vorlesen lässt -) denkt man noch einmal nach
und unterlässt dann das Kritisieren, weil man sich beckmesserisch vorkäme. Und weil man weiß, dass man
mit dem Autor im selben System lebt und von ihm profitiert. Und weil man nicht mit zweierlei Maß messen
will.

ham, 21.5. 2015

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