Mit einer Zeittafel, einem Glossar der von Max Weber häufig benutzten Fremdworte und Fachtermini, einem bibliografischen Hinweis, einem Siglenverzeichnis, einem ausführlichen Literaturverzeichnis der Werkausgaben, der Primär- und der Sekundärliteratur und einem Personen- und Sachregister
Böhlau Verlag, Köln, 2020, zweite aktualisierte und erweiterte Auflage der 2007 in der UTB-Reihe erschienenen ersten Auflage, ISBN-13: 978-3-412-51855-4, 301 Seiten, 25 Tabellen, Hardcover gebunden, Format 23,5 x 16,5 cm, € 35,00
Der 1864 in Erfurt geborene und 1920 in München verstorbene Max Weber (vergleiche dazu den ausführlichen Wikipedia-Eintrag https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Weber) war nach Hans-Peter Müller „wahrscheinlich der letzte Universalgelehrte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der gleichzeitig als Ökonom, Jurist, Historiker, Politikwissenschaftler, manche sagen sogar als Philosoph, gelten durfte. Seine weitgespannten Interessen richten sich auf wirtschaftliche, rechtliche, historische und soziologische Studien von Antike, Mittelalter und Moderne … Weber setzt sich mit der Gesellschaftsgeschichte der okzidentalen Moderne auseinander und sucht die Frage zu beantworten, warum es nur im Westen in einer ganz spezifischen Weise zur Modernisierung gekommen ist. Warum geht der »take off« zu der Industriellen Revolution und der Entstehung des Kapitalismus, der politischen Revolution und der Heraufkunft der Demokratie sowie der kulturellen Revolution und der Genese des Individualismus nur von Europa aus? Woher kommt diese eigenartige und einzigartige Melange aus Kapitalismus, Demokratie und Individualismus, die uns auch heute noch fasziniert und vielleicht als der typische Teil des wesentlichen Erbes gelten darf?“ (Hans-Peter Müller S. 11 f.).
Weber steht bei seinem Versuch einer Antwort nach dem bis zum Wintersemester 2019/2020 an der Humboldt-Universität Allgemeine Soziologie lehrenden Hans-Peter Müller auf den Schultern von Karl Marx und Friedrich Nietzsche, ist aber kein Marxist, sondern ein guter Marxianer insofern gewesen, „als er methodisch die Hypothesen des Historischen Materialismus überprüft und sachlich, weil er den Kapitalismus als schicksalsvollste⟨⟩ Macht unseres modernen Lebens zu einem dominanten Thema seines Werkes erhebt“. Er ist auch kein Nietzscheanist, sondern ein guter Nietzscheaner, „insofern er methodisch dessen vernichtende Kritik aller Arten von »-ismus« – Materialismus, Historismus, Naturalismus, Evolutionismus und Positivismus – folgt und sachlich, weil er dessen Diagnose übernimmt: »Gott ist tot«“ (Hans-Peter Müller S. 20).
Nach Müller zielt Weber so auf eine »positive Kritik des Historischen Materialismus« ab wie er sich einer positiven Kritik des »Nietzscheanischen Prophetismus« verschreibt. „Er teilt Marxens Auffassung vom Marxismus als »stahlhartem Gehäuse« mit den notorischen Folgen von Entfremdung und Mechanisierung …; aber er weist … Marxens allzu einfache »Exit-Option« zurück: die revolutionäre Transformation vom »Reich der Notwendigkeit« im Kapitalismus ins »Reich der Freiheit« im Kommunismus … Weber teilt auch Nietzsches Vorstellung vom Nihilismus …; aber er weist“ auch Nietzsches Vorstellung einer voluntaristischen „Transformation vom »Reich der Mediokrität« ins »Reich distinguierter Nobilität« durch einige »Übermenschen« mit dem Willen zur Macht“ zurück. „Mit anderen Worten, Weber tritt in die Fußstapfen der Problemstellungen von Marx und Nietzsche, ohne indes ihre radikalen Problemlösungen teilen zu können. Weder der Kollektivismus des Sozialismus noch der Elitismus des Individualismus halten am Ende überzeugende Antworten für eine hoch differenzierte und komplexe Gesellschaft bereit. Vielmehr leistet er seine Kritik der bürgerlichen Gesellschaft einerseits über eine kritische Untersuchung des Kapitalismus, der die Grundpfeiler der modernen Gesellschaft ausmacht, und andererseits über eine kritische Reflexion bürgerlicher Moralität und christlicher Religion, deren Geist mehr und mehr aus der Kultur modernerer Gesellschaften entwichen ist. Kapitalismus und Religion sind die beiden zentralen Pfeiler des Untersuchungsdesigns“ (Hans-Peter Müller S. 21 f.). Dazu kommen abschließend die von Marx und Nietzsche inspirierten Thesen vom Freiheits- und Sinnverlust in der Moderne.
Müller rekonstruiert und analysiert im Hauptteil seines Bandes zentrale Arbeiten Webers zur Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, zur Rolle der Protestantischen Ethik und der Stadt bei der Genese des Kapitalismus, zum Sinn der Werturteilsfreiheit, zu Wissenschaft und Politik als Beruf und zu Wirtschaft und Gesellschaft und fasst die Ambivalenzen der Moderne und der autonomen Lebensführung in seiner konzisen synthetischen Schlussbetrachtung wie folgt zusammen: Kapitalismus und Religion sind die zentralen Mächte, die die Lebensführung des modernen Menschen prägen. „Am Anfang umfasst und regelt die Religion fast alles, und heute scheint sie nur noch ein Glaubenssystem auf privater Grundlage zu sein. Der Kapitalismus im Verein mit Wissenschaft und Technik, bürokratischer Organisation und dem Berufsmenschentum drückt seinen Stempel vor allem den modernen Gesellschaften der Gegenwart auf und trägt maßgeblich dazu bei, die Säkularisierung und Entzauberung der Welt voranzutreiben, indem das gesellschaftliche Leben in wachsendem Maße seiner technisch-instrumentellen Rationalität unterworfen wird“ (Hans-Peter Müller S. 244 f.).
In der Folge wird 1. die Religion als zentrale Wertsphäre zunehmend aus dem Reich des Rationalen ins Irrationale verdrängt und nun erst die irrationale oder antirationale überpersönliche Macht schlechthin (vergleiche dazu und zum folgenden Hans-Peter Müller S. 245 ff.). In der kognitiven Dimension wird sie von der Wissenschaft abgelöst. In der evaluativen Dimension wird sie durch weltliche Modelle ersetzt. 2. Im Alltagsleben konkurriert sie mit rein mundanen Erfolgszielen wie Schulerfolg, Berufserfolg, Einkommenserfolg, Liebeserfolg, Sporterfolg, Freizeiterfolg, Erlebniserfolg und Ruhmeserfolg. Wenn im Alter Vorstellungen vom Paradies an den Rand treten, will man wenigstens ein möglichst langes gutes Leben haben. 3. Wirtschaft, Politik, Kunst, Liebe und Wissenschaft werden als Wertsphären in materialistischen Gesellschaften immer wichtiger; sie können unter Umständen je für sich »säkulare Sakralität« beanspruchen, nach ihren eigenen Wertstandards »Heiligtümer« schaffen und mit der Religion konkurrieren.
Die Gegensätze und latenten Spannungen zwischen der »Eigengesetzlichkeit« unterschiedlicher Lebensordnungen bewirken, dass sich die Werte und Regeln einer Sphäre nicht mehr ohne Verletzungen in eine andere übertragen lassen. „Wo der erotische Maßstab der reinen Liebe angelegt wird, ist die rationale Kalkulation von Gewinnerwartung und Rentabilität einfach fehl am Platze. Wer das doch tut, verwechselt Liebe mit Prostitution. Wo der religiöse Glaube, also das »credo non quod sed quia absurdum« … gefordert wird, ist es mit der »intellektuellen Rechenschaft« vorbei … In Webers Augen sind diese Wertkonflikte die unausweichliche Folge der Entstehung von unterschiedlichen Wertmaßstäben, Beurteilungskriterien und »letzten Wertungen« im Zuge der Ausdifferenzierung von spezifischen Lebensbereichen … Die Heterogenität der Werte ist gerade das spezifische Kennzeichen der Moderne, so dass es keinen übergreifenden Maßstab für die gegensätzlichen Werte geben kann … Das ist letztlich der Grund, warum sich Weber in »Der Sinn der Wertfreiheit« gegen mundane Beglückungsformeln wie »Fortschritt«, »Differenzierung«, »Produktivität« oder »soziale Gerechtigkeit« stemmt. Das, was einst die Religion zu stiften versprochen hatte, Versöhnung, Einheit, Harmonie und eine allgemeine Brüderlichkeitsethik, ist unter modernen Bedingungen nicht mehr zu haben. Keine Ideologie, auch der Sozialismus nicht, kann das leisten. Wo es dennoch … versucht wird, endet das Experiment meist in Zwang, Gewalt und Terror. Vom Paradies zum Gulag ist es manchmal nur ein kleiner Schritt“ (Hans-Peter Müller S. 247 f.).
Wenn man Weber folgt, droht in der westlichen Moderne der Verlust von Freiheit und Sinn. „Die kapitalistische Wirtschaft und der bürokratische Anstaltsstaat weben an einer gigantischen Verwaltungsmaschinerie, die ein neues stahlhartes »Gehäuse der Hörigkeit« errichten, welches die Freiheit ernsthaft bedroht. Der Säkularisierungs- und Entzauberungsprozess entwertet das kollektiv verbindliche religiöse Weltbild des Christentums als Prägeinstanz individueller Lebensführung und setzt an seine Stelle eine fragmentierte Kultur, die Ausdruck der modernen Erfahrung der Zerrissenheit ist. Die Fortschritte in Wissenschaft und Kunst vermehren zwar unser Wissen von Natur, Gesellschaft und Mensch, ohne jedoch das »mystische Haben« des metaphysischen Erklärungsversprechens zu teilen …: dass die Welt ein sinnhaft geordneter Kosmos sei … Auf der einen Seite steht der Zuwachs an Wachstum, Wohlfahrt und Bequemlichkeit, aber nur um den Preis, in einer gigantischen Wirtschafts- und Verwaltungsmaschinerie als Rädchen im Getriebe gefangen zu sein – daher der drohende Freiheitsverlust. Gegen globalen Kapitalismus, Massengesellschaft und Bürokratie und Massenüberwachung hat der Einzelne kaum eine Chance. Folgerichtig erscheinen Freiheit und Unabhängigkeit als reine Illusion eines kultivierten Individualismus. Auf der anderen Seite bleibt die stets bohrende Frage: Wozu das Ganze? … Was … macht Sinn? Am Ende vielleicht nichts, daher der drohende Sinnverlust … Das aber ist eine Botschaft, der nur Stoiker einen kultivierenden Restsinn abzugewinnen vermögen. Das Gros der Menschheit würde wohl … Nietzsches Botschaft des Nihilismus zustimmen. Paradoxerweise scheint sich dem modernen Menschen die Vision des heiligen Franziskus ins Gegenteil verkehrt zu haben. Franz von Assisi, arm wie eine Kirchenmaus, konnte stolz von sich sagen: »Nihil habentes, omnia possidentes!« Wir heute scheinen den Satz umgekehrt zu haben: »Omnia habentes, nihil possidentes!«“ (Hans-Peter Müller S. 248 f.).
Letztendlich kann es bei der Eigenlogik pluralistischer und antagonistischer moderner Wertsphären kein gemeinsames Wert- und Moralsystem mehr geben. Jeder muss nach seiner Façon selig werden – „eine Lösung, die ja schon der religiöse Individualismus des asketischen Protestantismus als »moralische Pflicht« vorschreibt, nämlich dass jeder seinen Weg zu Gott zu finden habe. Schließlich ist Weber … äußerst skeptisch, ob und inwieweit überhaupt eine moralisch inspirierte, sinnvolle individuelle Lebensführung noch möglich ist. Nachdem das »Pathos der christlichen Ethik« an ihr Ende gekommen ist, bleibt nur die Perfektibilität von Mensch und Gesellschaft“ (Hahns-Peter Müller S. 249 f.) Aber ein Blick zurück in die Entwicklung der Kulturen zeigt die Vergeblichkeit auch dieser Idee. „Das ist – im Großen und Ganzen – Webers Botschaft, denn auch die Idee des Berufsmenschentums, die er in der »Protestantischen Ethik« genetisch entwickelt, erfährt am Ende eine ambivalente, ja abwertende Einschätzung, wie die Rede von den »Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz« erweist“ (Hans-Peter Müller S. 250).
ham, 16. November 2020