Einführung Arie Hartog

Gebr. Mann Verlag Berlin, 2017, ISBN 978-3-7861-2778-9, 312 Seiten, 100 Farb- und 45
Schwarzweißabbildungen, Klappenbroschur, Format 24 x 17 cm, 49,00 € (D) / 59,00 SFR (CH)

Der 1938 in Ostpreußen geborenen, seit 1949 nach seiner Übersiedlung mit seinen Eltern in Krefeld lebende
und bis 2000 als Professor für Gestaltung und Farbgestaltung an der Hochschule Niederrhein lehrende
Bildhauer und Zeichner Hans Joachim Albrecht gehört zu den wenigen freien Künstlern, die Bücher
schreiben. Sein großzügig illustrierter Überblick über die Bildhauerei in Deutschland erschließt künstlerische
Haltungen, Positionen und Fragestellungen von nicht weniger als 250 Künstlern aus fünf Generationen von
Hans Arp über Michael Croissant, Heinz Breloh und Abraham David Christian bis Robert Schad, Dietrich
Klinge und Erwin Wurm. In seiner Darstellung lässt er die Vorstellung hinter sich, dass die Bildhauerei
zwischen 1900 und etwa 1960 als ein langsames Verschwinden des Gegenständlichen erzählt werden kann.
Er setzt statt dessen auf „ein Nachdenken über unterschiedliche Traditionslinien. Ausgangspunkt ist dabei
weniger die Begründung als das Entstehen und Fortbestehen einer Position durch Rückbezug“. An die Stelle
„einer Genealogie tritt die Verflechtung von diversen Traditionslinien im Werk eines Künstlers […]. Albrecht
hält […] an einer objektbezogenen Vorstellung von Bildhauerei fest, beschreibt aber von Fall zu Fall auch
Überschreitungen in neue Richtungen. Dadurch entsteht ein Bild der Geschichte der Bildhauerei in
Deutschland als ein vielseitig bestelltes, offenes Feld“ (Arie Hartog Seite 8).

Bei der Auswahl der vorgestellten Positionen hat sich Albrecht mehr an seiner lebenslangen Anschauung als
Bildhauer und an kollegialen Gesprächen orientiert als an literarischen Quellen. Dazu kommt natürlich auch
sein Verständnis von Qualität. Eine Skulptur, eine Plastik und ein Objekt hat in seiner Sicht ästhetische
Qualität, wenn es ihn trifft und angeht. „Dazu muss es eine bestimmte Reizschwelle übersteigen, das visuelle
und haptische Angebot muss mein Wahrnehmen und Denken lebhaft beschäftigen. Auf ihre Weise werden
auch Menschen ohne besondere Vorbildung von Kunstwerken angesprochen, falls sie Ihnen zusagen […].
Künstler vollbringen Erkenntnisleistungen, die in ihre Arbeiten eingehen. Danach geben die Werke vor, wer
als Künstler gelten kann. Natürlich, wenn ein Künstler »ausbricht«, gegen bisher geltende ästhetische oder
sonstige Normen verstößt, sind wir verstört. Aber diese Irritation ist nötig, sie fordert uns heraus, zu neuen
Ufern aufzubrechen. Diese Bereitschaft, sich auf Unbekanntes einzulassen, seine Polyvalenz, seine
Mehrdeutigkeit auszuhalten, wird allerdings durch Einübungen in anschauliches Denken
erleichtert.“ (Vergleiche dazu das Interview mit Hans Joachim Albrecht am 30.5.2007 in der Rheinischen
Post Online: http://www.rp-online.de/nrw/staedte/krefeld/nazis-und-moderne-kunst-kritik-war-nichterwuenscht-
aid-1.650850, abgerufen am 27.5.2017).

Franz Bernhardt (1934 – 2013) wird von Albrecht den Künstlern nach 1945 zugeordnet, die die
Abbildfunktion von Bildwerken zurückstellen: Mit seinen »anthropomorphen« Zeichen „bringt er eine
weniger archaische als neuzeitlich zu empfindende Ursprünglichkeit zum Vorschein. Lange Reihen bilden
seine vieldeutigen Gestalten, die er aus einfachen Holzstücken zusammenheftet und verleimt, bevor er sie in
rostige, oft spitz und scharfkantig gezogene Fassungen aus Stahlblech steckt. Beim flüchtigen Überblick
assoziieren wir mit diesen gelblich-ocker-braunen Skulpturen eher ausgemusterte Geräte zum Räumen,
Roden oder Ackern als menschliche Formen. Sie könnten von Dorfschmieden und Stellmachern in
verflossenen Zeiten als äußerst große Schaufeln oder Stichel ohne übermäßigen Aufwand gefertigt sein.
Ebenso gut wären sie für bestimmte martialische Zwecke❲n❳ geeignet, als Schanzwerkzeuge für schwere
Erdarbeiten oder eventuell auch als Rammböcke […]. So verfasst liegen diese Konstrukte am Boden, hängen
und lehnen an Wänden, ohne Anspruch auf endgültige Platzierungen, sondern stets bereit zum
Stellungswechsel […]. Vage anthropomorphe Auslegungen mögen sich beim längeren Betrachten ergeben,
und irgendwann weckt die werkeigene Struktur Imaginationen von menschlichen Körperteilen, besonders
von Büsten und Köpfen. Unbeirrt hält Franz Bernhardt, gleichsam unter einem abgetragenen, aber immer
noch schützenden Mantel, der menschlichen Form eine Option zu überlegen frei“ (Hans Joachim Albrecht S.
87).

Werner Pokorny (geborenen 1949) erfindet nach Albrecht „Zeichen sachlichen Charakters. Anbindung und
Rückhalt sucht seine Skulptur über Verweise auf Gehäuse, Gefäße und allgemein auf Behälter, die
ununterbrochen von und für Menschen hergestellt werden. Und auch Bezüge zu menschlichen Körperteilen
(Hand) finden sich. Ohne praktische und maßliche Vorgaben kombiniert Pokorny zwei, drei abstrahierte
Motive (z. B. Haus + Rippe) in kubischen, balkenartigen Holz- und Stahlskulpturen, die seinen
bildhauerischen Einfall erfüllen. Die Ausgangsmotive seiner »Baukonstruktion« reduziert er auf kräftige
Bügel, vierkantige Rahmen und Gitter. Von einem Hausgiebel bleibt zum Beispiel nur ein bandförmiger
Umriss als getrepptes oder ringförmiges Zeichen übrig, und unvermittelt können vieleckige Aussparungen
die Wände rundlicher Gefäßformen durchbrechen […]. Wer das Typisieren und das ständige Modifizieren
seiner skulpturalen Komponenten genau verfolgt, wird vom Transformieren sprechen“ (Hans Joachim
Albrecht S.173). „In Deutschland erteilt Werner Pokorny, neben vielen anderen Künstlern, dem Glauben an
die klar ausgerichtete und fest verankerte Welt der Dinge eine deutliche Absage, obwohl er sich noch im
Bereich greifbarer Gegenstände bewegt. Die Wände seiner gefäßartigen Objekte durchlöchert er und
durchbricht sie mit kantigen Ausschnitten, und mit extremen Schräglagen spottet sein Haustypus jegliche
Statik“ (Hans Joachim Albrecht S.219).

Die 1960 geborene Eva-Maria Reiner gehört zu den jüngsten unter den besprochenen Bildhauern und
Bildhauerinnen. Sie präsentiert mit Hemdkragen, Manschetten, Futterstreifen und ausgesteiften Ärmeln ein
tadelloses Sortiment von Garderobe- und Schneiderstücken an quadratisch gerasterten Wänden.

Der 1968 in Lauffen am Neckar geborene und heute in Berlin lebende Hiromi Akiyama-Schüler Holger
Walter (vergleiche dazu http://www.holger-walter-atelier.de, abgerufen am 27.5.2017) ist für den Band
ebenso zu spät geborene wie die im selben Jahr in Offenbach am Main zur Welt gekommene und heute in
Wendlingen am Neckar lebende Anja Luithle (vergleiche dazu http://www.anjaluithle.de/de/, abgerufen am
27.5.2017), der 1971 in Cochem geborene und heute in Karlsruhe lebende Johannes Esper (vergleiche dazu
https://www.google.de/search?
q=johannes+esper&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwitvKbgkZDUAhXD6xQKHUiJC
7wQsAQIKA&biw=1656&bih=939, abgerufen am27.5.29017) und die 1976 in Żywiec, Polen geborene und
heute ebenfalls in Karlsruhe lebende Anna Kolodziejska (vergleiche dazu http://www.galerie-kugler.at/
artists/anna-kolodziejska-selected-works/, abgerufen am 27.5.2017). Warum Albrecht den Münchner
Holzbildhauer Rudolf Wachter (1923 -2011) in seinen Überblick aufgenommen hat und der 1955 in Karlovy
Vary, CZ geborene und heute in München lebende Werner Mally (vergleiche dazu http://
www.wernermally.de) fehlt, wird man ihn am besten selbst fragen müssen.

ham, 27. Mai 2017
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