Band 213 der Reihe Theologische Bibliothek Töpelmann

Walter de Gruyter, Berlin/Boston, 2025, ISBN: 9783111608143, 372 Seiten, 1 Tabelle, Hardcover, gebunden, Format 23,4 x 16 cm, 99,95 €

Als der 1934 in Magdeburg geborene Eberhard Jüngel 1969 einen Ruf an die Evangelisch.theologische Fakultät der Universität Tübingen erhielt und n Ordinarius für Systematische Theologie und Religionsphilsosophie sowie Direktor des Instituts für Hermeneutik wurde (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Eberhard_J%C3%BCngel), lehrte Jürgen Moltmann schon zwei Jahre Systematische Theologie an der Eberhard-Karls-Universität (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Jürgen_Moltmann). 

Unter anderem deshalb finden sich in meinem 1968 begonnen  und 1973 abgeschlossenen Studienbuch zwar Einträge von Jürgen Moltmanns Vorlesungen über die Gotteslehre, die Eschatologie und die Ekklesiologie, aber nur ein dogmatisches Repetitorium von Eberhard Jüngel. Die im Sommersemester 2023 von der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg angenommene vorzügliche Dissertation von Hajo Kenkel zu Eberhard Jüngels Theologie der Liebe hätte mir in seinem Repetitorium  sicher geholfen, seiner Flucht „in immer steilere und höhere Abstraktionslagen“, seiner Beschwörung  der „Erfahrung mit der Erfahrung“, seiner trockenen „Versicherung, dass jede Theologie praktisch, ja sogar ›eminent praktisch‹ sei“ und seiner „Behauptung, dass der Glaube den Menschen ›handlungsfähig‹ mache“ (Michael Welker nach Hajo Kenkel, S. 185)  besser zu folgen. Aber zum Glück kommt die Dissertation des seit 1. Januar 2025 als Pfarrer in Frechen bei Köln amtierenden Welker-Schülers nicht zu spät (vergleiche dazu https://www.kirche-koeln.de/vor-gott-ist-kein-pfarrer-einen-deut-groesser-als-das-kleinste-kind-hajo-kenkel-von-superintendent-bernhard-seiger-in-die-1-pfarrstelle-in-frechen-eingefuehrt/).

Und so kann ich und so kann jeder andere, der sich auf Kenkels Durchgang durch Jüngels Theologie einlässt, verstehen, warum die göttliche und die menschliche  Liebe in Jüngels Verständnis von Theologie alternativlos über die Kreuzigung Jesu zur Lehre von der Trinität führt.

Wesentliche Gedanken zur Liebe finden sich nach Kenkel schon in der Paraphrase des Johannesprologs, die Jüngels Dissertation ‚Paulus und Jesus‘ abschließt: In dieser von seinem Doktorvater Ernst Fuchs beeinflussten Zusammenfassung greift er dessen Auslegung von Johannes 1,1 „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort“ auf. Sie führt zugleich die fundamentale Ordnung des Liebegeschehens vor Augen, die Jüngels weitere Forschungen durchzieht und begleitet:

»1. Am Anfang steht die göttliche Liebe, die sich gerade in der Liebe zum anderen, zum Menschen als Selbstliebe Gottes erweise. So sah Gott „gerade, indem er Ja zu Menschen sagt, Ja zu sich selbst […], weil er sich nicht zu lieben vermag, ohne den Menschen zu lieben. Im Anfang war er dieses Ja der Liebe“.

2. Die primäre anthropologische Entsprechung der göttlichen Liebe ist für Jüngel der Glaube. „ Der Glaube wiederholt […] das anfängliche Ja der Liebe“.

3. „In dieser Wiederholung wird der Mensch zur Geschichte der Liebe freigesprochen, indem ihm die Freiheit zum Wort der Liebe zugesprochen wird“ … Der Glaube befreit und bewegt den Menschen zu eigener Liebestätigkeit. .

Wenn Jüngel die Theologie seines Doktorvaters später dahingehend charakterisiert, dass es sich beim Glauben um eine Zwischenbestimmung der Liebe handelt, trifft dies in gleicher Weise auf seine eigene Theologie zu“ (Hajo Kenkel, S. 53). In seinem Aufsatz zu Karl Barths Analogieverständnis von 1962 geht Jüngel vor allem der Frage nach, wie sich christologisch eine theologische Anthropologie begründen lässt – wie kommt es zum Sein des Gott entsprechenden Menschen? –, wobei seine Antwort erneut im Liebesbegriff kulminiert. „Es ist das Ja der freien Liebe Gottes, dass der dreieinige Gott zu sich selber spricht, das er dann auch zu seinem Geschöpf spricht und das sich so seine Entsprechung schafft“… „Das Sein des Menschen gründet im Ja Gottes, sofern dieses allererst dergleichen wie ein ‚es ist‘ gewährt“. Statt von einer Entsprechung im Sein (analogia entis) spricht Jüngel darum lieber von einer Entsprechung im Werden bzw. Kommen“ (Hajo Kenkel, S. 55).

Nach seinem ersten von vier Radiovorträgen zum dunklen Wort vom Tode Gottes aus dem gleichen Jahr siegt Gott im Zeichen des Kreuzes und das heißt für Jüngel im Zeichen menschlicher Ohnmacht. „Gott siegt da, wo der ans Kreuz Geschlagene aus der Tiefe der Gottes Verlassenheit nach Gott schrie: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Was auf den ersten Blick wie ohnmächtige Gottverlassenheit erscheinen mag, ist für Jüngel letztlich Ausdruck von Gottes Macht der Liebe, denn Gott siege, indem er die, die Leid tragen, tröstet und die, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, satt macht. Das Himmelreich hat sich in das Elend der Welt hineinverwickeln lassen, Gott selbst hat sich in die menschliche Gottesferne begeben, als Jesus von Nazareth, sich an die Seite der Verachteten begab und ihre Sache zu der seinen machte. Gott in der Gottes Ferne –das heißt. Gott im Tod. Die Liebe will siegen, darauf ließ Jesus es ankommen. Liebe dient für Jüngel in diesem Zusammenhang als Begriff, der Macht und Ohnmacht zu einer strukturierten, wohlgeordneten Einheit verbindet. So habe Gott sich schon in Jesu Leben für immer mit der Geschichte der Liebe, mit ihrer Macht und ihrer Ohnmacht verbunden“ (Hajo Kenkel / Eberhard Jüngel, S. 69 f.).

Der Annahme, dass wir wissen, von wem in der Theologie die Rede sei, stellt Jüngel inseinem Opus Magnum Gott als Geheimnis der Welt die Frage entgegen: Wer oder was ist das – Gott? Als Antwort legt er den Satz aus dem ersten Johannesbrief „Gott ist Liebe“ (1. Johannes 4,8) unter anderem in der Auseinandersetzung mit Fichte, Feuerbach und Nietzsche aus und will dabei die neuzeitliche Entdeckung der weltlichen Nichtnotwendigkeit Gottes theologisch verarbeiten. „Fichtes Forderung, Gott überhaupt nicht zu denken“, habe „die Gottheit Gottes wahren“ sollen – nachdem Descartes die Existenz Gottes gerade im menschlichen „Ich denke“ begründet hatte. Sofern Existenz im Anschluss an Kant jedoch im „Ich denke“ begründet sei, negiere Fichte mit seiner Forderung, Gott nicht zu denken, zugleich die Existenz Gottes. Im Anschluss an Fichte bestreite auch Feuerbach die Existenz Gottes, halte am Gottesgedanken aber ausdrücklich fest. Im Gegenüber zu Descartes verfolge Feuerbach, damit jedoch das Anliegen, „nicht die Göttlichkeit Gottes, sondern die Göttlichkeit des Menschen“sicherzustellen… Während Descartes Gott bereits anthropologisch begründet hatte, nehme Feuerbach nun Abschied von der Theologie und überführe sie in die Anthropologie. Daraus habe Nietzsche wiederum „die einzig mögliche Konsequenz gezogen. Er sagt nicht mehr: Gott, […] sondern er sagt: Über-Mensch“ (Eberhard Jüngel nach Hajo Kenkel, S.120 f.).

Im Zentrum von Jüngels Überlegung steht dann Schellings Frage, warum überhaupt Seiendes sei und nicht vielmehr nichts. Anthropologisch bedeutet dies zunächst., dass allem Seienden die Möglichkeit des Nichtseins innewohne (vergleiche dazu und zum Folgenden Hajo Kenkel, S. 123 f.). Die Möglichkeit des Nichtseins entsichere den Menschen und führe auf diese Weise zu einer „Erfahrung mit der Erfahrung“, die in sich jedoch ambivalent sei. Sie könne „als Angst konkret sein und wäre dann eine fundamentale Bedrohung des Seins“… Sie könne „aber auch als Dank konkret sein …, insofern das Seiende als aus dem Nichtsein heraus vor diesem Bewahrtes, … als Schöpfung erfahren wird. Doch sei auch „[d]ie Tatsache, dass überhaupt Seiendes ist und nicht vielmehr nichts […] in sich ambivalent und schließ[e] nicht aus, dass das Seiende vom Nichts vernichtet werden könnte“ …  Wenn es angesichts der Möglichkeit des Nichtseins dagegen zu einer „Erfahrung der Bewahrung der Bejahtheit des Seins“ komme, den ist genau das geschehen, was theologisch ein Wunder genannt zu werden verdient“ (Hajo Kenkel / Eberhard Jüngel, S. 123 f.).

Die Erfahrung der Möglichkeit des Nichtseins muss nach Jüngel in die Rede von Gott eingehen (vergleiche dazu und zum Folgenden Hajo Kenkel, S. 124 f.). Pointe christliche Rede von Gott sei, dass Gott nicht nur oberhalb des Gegensatzes von Sein und Nichtsein, sondern inmitten dieses Gegensatz Gott ist. Inmitten des ambivalenten Erfahrungszusammenhangs der Welt offenbare sich Gott. Der christliche Glaube gehe von dem Vorurteil aus, dass Gott im Wort vom Kreuz als dem Evangelium für alle Menschen definitiv zur Sprache kommt. Gottes Selbstoffenbarung im Menschen Jesus und der darauf antwortende Glaube sind für Jüngel der die Bedingung der Möglichkeit  wahrer Rede von Gott. Der Rede vom Sein Gottes gehe das kommende Sein Gottes voraus. Gott spricht, der Mensch entspricht. „Die dem göttlichen Sein entsprechende und in diesem begründete Erzählung, die zugleich die Bestimmtheit des göttlichen Seins offenbare, bringt Jüngel im Anschluss an den ersten Johannesbrief nun mit einem Wort auf den Begriff: Liebe.

 Gottes Seins zu erzählen, kann und darf nichts anderes bedeuten, als Gottes Liebe zu erzählen. Der Satz „Gott ist Liebe“ muss also alle Rede von Gott… begleiten können, wenn diese Gott entsprechen soll“ (Hojo Kenkel / Eberhard Jüngel., S. 127).

Unter der vom Osterglauben her möglichen Voraussetzung, dass sich Gott mit dem gekreuzigten Jesus und dessen Leben identifiziert, kommt für Jüngel Gott nur als derjenige in den Blick, der die Gottlosigkeit  und Gottverlassenheit der ganzen Welt stellvertretend erleidet. Die christologisch gedeutete Geschichte Jesu führt hin zu einer neuen Deutung der Lehre von der Dreieinigkeit. Anders als in der metaphysischen Tradition wird Gott nicht mehr als einer gedacht, der nicht leidet und nicht leiden kann und auch nicht als einer, der das Leid verherrlicht, sondern als einer, der Tod und Leben in sch vereinigt und die Liebe ist. Als Vater, Sohn und Heiliger Geist ist Gott nicht nur Liebender und Geliebter, sondern das Ereignis der Dahingabe, das die Liebe selber ist. Gott ist Liebe. Gott selbst ist das komplexe Geschehen der Liebe, die Einheit von Agape und Eros zugunsten der Agape. Gott ist treu in seiner Hingabe. „Der Begriff des trinitarischen Gottes, der Liebe ist, impliziert  … die ewige Novität, der gemäß der ewige Gott sich selber Zukunft ist. Gott und die Liebe werden niemals alt. Ihr Sein ist und bleibt im Kommen … Insofern sei  Gott das kontinuierliche Geschehen dieser Liebe … Gott ist die Macht der Liebe… Liebe ist der Grund des menschlichen Lebens. Das göttliche Wirken beginnt nicht erst in der Welt, vielmehr kommt die Welt im Sinne göttlicher Schöpfung als Ausdruck der überfließenden Liebe Gottes in den Blick. Die göttliche Liebe lässt sich also nicht auf ein Geschehen reduzieren, mit dem sich Gott gegen weltliche Lieblosigkeit richtet bzw. diese erleidet. Sie überwindet nicht primär die Beziehungslosigkeit der Sünde, sondern schafft überhaupt erst die Möglichkeit zur Gemeinschaft, indem sie der Welt und den Menschen ihr Sein gibt. A priori, also vor jeder möglichen menschlichen Erfahrung und Tat, erscheint Liebe so als die die Welt und Menschen positiv qualifizierende Größe“ (vergleiche dazu Hajo Kenkel S. 145 f.).

„ Mithilfe kreuzes – und trinitätstheologischer Überlegungen gewinnt Jüngel, ein komplexes Gottes- verständnis, das der der Ambivalenz menschlicher Wirklichkeitserfahrung nicht sprachlos gegenübersteht, sondern inmitten von Ungerechtigkeit, Misstrauen und Lieblosigkeit des Vertrauen auf die göttliche Liebe eindrücklich zur Sprache bringt. Wie die göttliche Liebe im Glauben erfahrbar wird und welche Konsequenzen sich daraus für eine Glaubenspraxis menschlicher Liebe bzw. für eine theologische  Anthropologie und Ethik ergeben, lässt sich seinem Hauptwerk aber nicht entnehmen“ (Hajo Kenkel, S. 327).

Der in Lüdenscheid geborene Kenkel will diese Lücke in seiner pfarramtlichen Praxis auszufüllen helfen. So erzählt er in seiner bei seiner Investitur gehaltenen Predigt über die im Brief an die Römer angemahnte geschwisterliche Liebe von von seinem Allein- und Ausgebrannten in seiner Heidelberger Zeit und von einem Gespräch mit einem deutsch-iranischen Mädchen. Da, so Kenkel, wo Liebe gebrannt habe, können Sie auch erlöschen. „Manchmal könne er für eine gute Idee ›richtig rödeln‹ und manchmal fielen ihm kleinste Aufgaben sehr schwer. Er sei in einer Heidelberger Gemeinde tätig gewesen, in der er viel allein gewesen sei. ›Ich fühlte mich kraftlos und leer‹. In einer Jugendgruppe habe er sich mit einem deutsch – iranischen Mädchen intensiv unterhalten: ›Das hat mich begeistert‹. Da, wo es in die Tiefe geht. Dafür schlägt mein Herz‹. Das Kreuz stehe für Gott, der uns aufrichtig liebt. Und das wiederum steht am Anfang und am Ende unseres Glaubens. Wir können nur weitergeben, was wir selbst empfangen haben“ (Hajo Kenkel nach Stefan Rahmann, „Vor Gott ist kein Pfarrer einen Deut größer als das kleinste Kind“. In: https://www.kirche-koeln.de/vor-gott-ist-kein-pfarrer-einen-deut-groesser-als-das-kleinste-kind-hajo-kenkel-von-superintendent-bernhard-seiger-in-die-1-pfarrstelle-in-frechen-eingefuehrt/).

ham, 7. April 2025

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