Sprechen
Essen
Schmecken
Saugen
Küssen
Lachen
Schmücken
Rauchen
Spucken
Kotzen
Edition Imorde. Instants, Band 4, Emsdetten/Berlin 2021, ISBN 978-3-942810-53-1, 248 Seiten, 86 meist farbige Abbildungen, Broschur, Format 20 x 13 cm, € 23 (D)
Gewöhnlich erhält der Mundraum mit seinem Geschmacks- und Tastsinn deutlich weniger Aufmerksamkeit als das Sehen. Dabei sichert das Universalorgan Mund im Ensemble mit Lippen, Zähnen, Zunge und Gaumen das Überleben, „weil durch ihn Nahrung und Luft in den Körper hineingelangen … Der Mund fungiert als Erfahrungsstelle, Eroszentrale, Zerstörungsmaschine und gleichzeitig als Sublimierungsinstanz, Intensitätsgenerator. In der feuchten Höhle wird gearbeitet, gekaut, auseinandergerissen, zermahlen, aufgeschlossen, geknetet – und stets sind das Fühlen und Schmecken beteiligt. Mag die Mundbetätigung des Speisens gewaltförmig erscheinen, sosehr ist es gerade die Befähigung zur Vermischung, die das Wahrnehmen – aisthesis – befördert. Die Haut, die feinen Nerven, die Beweglichkeit von Zunge und Lippen erfassen Objekte, nehmen sie auf, verleihen ihnen Charakter, führen sie weiter zur Einverleibung. Ich und Objekt werden eins … Ist der Mund leer, tritt eine weitere Funktion in Kraft, … [d]as Sprechen, die Matrix anthropologischer Verfasstheit“ (Gunnar Schmidt S. 5). Wenn aber der Mund seine Funktionen verliert und man nach einer Tumoroperation nicht mehr essen, sprechen und durch den Mund atmen kann, beginnt ein anderes Leben: Man muss sich dann ausschließlich durch eine Magensonde ernähren; das Sprechen wird durch eine Schreibtafel ersetzt und das Atmen durch einen Luftröhrenschnitt ermöglicht. Jetzt begreift man in der Tiefe, was man an seinem Mund gehabt hat.
Die von dem Intermedialitätsforscher und kulturellen Affektologen Gunnar Schmidt vorgelegte ›Ästhetik des Oralen‹ versteht sich als motivgeschichtliche Untersuchung von Indizienmaterial in literarischen Texten wie der Fallgeschichte des ›kleinen Johann‹ in Thomas Manns Roman ›Buddenbrooks‹ (vergleiche dazu http://literaturlexikon.uni-saarland.de/index.php?id=3135), in Filmen wie dem ›großen Fressen‹ von Marco Ferreri (vergleiche dazu etwa https://www.google.de/search?q=gro%C3%9Fen+Fressen%E2%80%B9+von+Marco+Ferreri&tbm=isch&ved=2ahUKEwjRwMLrg97yAhXCgaQKHRtUC0UQ2-cCegQIABAA&oq=gro%C3%9Fen+Fressen%E2%80%B9+von+Marco+Ferreri&gs_lcp=CgNpbWcQDDoFCAAQgAQ6BAgAEBhQ-pgYWKS5GGCNyRhoAHAAeACAAUWIAYMBkgEBMpgBAKABAaoBC2d3cy13aXotaW1nsAEAwAEB&sclient=img&ei=F5QvYZHZEsKDkgWbqK2oBA&bih=913&biw=1324), in Performances wie dem ›Erbrechen‹ von Millie Brown (vergleiche dazu etwa https://www.langweiledich.net/kunst-zum-kotzen/) und im weiteren Sinn als Beitrag zu einer Kulturtheorie des Oralen. Die drei Hauptkapitel Literatur, Film und Performance-Kunst und die Einzelbeiträge lassen sichtbar werden, welche mikrokulturellen Gegebenheiten und kulturelle Großthemen sich um die Oralität gruppieren: „Sinnkonstitution, Krankheit, Sexualität, Mythologie, Moral. Dabei wird auch deutlich, an welche Darstellungs- und Legitimitätsgrenzen die Künste geraten. Das Beieinander unterschiedlicher Medien liefert daher das Angebot für komparatistische Zugänge, aus denen sich Fragen nach den Repräsentationsformen und ihrer künstlerischen Aussagebefähigung ergeben … In den oralen Begegnungen mit Dingen und Menschen ist etwas vom Möglichkeitsreichtum und der Undurchdringlichkeit der humaneren Erfahrung zu erahnen: Lust, Grenzauflösung, Grenzbestimmung, Angst, Zerstörungswut, Abwehr, Verachtung, Regression, Produktion – und Tod“ (Gunnar Schmidt S. 8).
Dass Sigmund Freud für Schmidts Überlegungen mehr als eine Anregung gegeben hat, zeigt sich nicht nur im Abdruck seines bekannten Porträts mit der geliebten Zigarre in der rechten Hand (vergleiche dazu etwa https://shmh.de/de/max-halberstadt und https://de.wikipedia.org/wiki/Sigmund_Freud), sondern auch in Karl Abrahams Antwort auf einen nicht überlieferten Brief seines Lehrers, in dem dieser Abrahams ›Untersuchungen über die früheste prägenitale Entwicklungsstufe der Libido‹ kritisiert: Der Schüler nimmt sich darin die Freiheit, nicht nur auf den eigenen Widerstand bei der Bearbeitung gewisser Phänomene, sondern auch auf den seines Lehrers hinzuweisen: „›Mit ihrer Bemerkung zu meiner Arbeit – dass ich die hysterische Anorexie mehr hätte berücksichtigen sollen – sind Sie, lieber Herr Professor, ganz im Recht. Dass ich den Zustand nur gestreift, aber nicht genau untersucht habe, kann ich damit erklären, dass ich keinen derartigen Fall gründlich analysiert habe. Aber der tiefere Grund ist sicher ein persönlicher, ganz wie Sie Ihre Raucherleidenschaft als Hindernis für die Bearbeitung gewisser Fragen ansehen‹“ (Gunnar Schmidt S. 99 f). Schmidt resümiert: „Der suchthafte Genuss brachte Freud dazu, sich den Hysterikerinnen anzunähern, sie zu verstehen – und bildete gleichzeitig die mütterliche Sphäre der Ungeschiedenheit, der mystischen Vereinigung nach, an die das Verstehen nicht heranreichen durfte. Der Verlust der Einheit wäre – davon gibt Freud ein Zeugnis – allzu schmerzhaft“ (Gunnar Schmidt S. 100).
Wer sich gerne auf das Zusammendenken von scheinbar Gewohntem und übergreifenden Linien einlässt und sich dabei nicht an einer Vielzahl erklärungsbedürftiger Fachbegriffe stört, wird Schmidts orale Ästhetik mit großem Gewinn lesen. Vielleicht werden ihm dann bei der Lektüre nicht nur der Mund, die Augen und die Ohren, sondern auch die komplexen Gegebenheiten der späten kulturellen Moderne und vielleicht sogar das eigene Herz aufgehen.
ham, 1. September 2021