C.H.Beck Paperback, Verlag C.H. Beck. München 2024, ISBN 978-3-406-81457-0, 126 Seiten, Klappenbroschur, Format 20,5 x 12,5 cm, € 16,00
Wer wie der in Basel Philosophie lehrende Gunnar Hindrichs nicht dem Krieg, sondern dem Frieden das Wort reden will, muss in der sich als „Kriegszivilgesellschaft“ verstehenden gegenwärtigen Gesellschaft zur Seite treten und darauf hoffen, dass er überhaupt gehört wird. „Denn ein Kennzeichen des Krieges der ›Zeitenwende‹ besteht darin, dass in ihm die Zivilgesellschaft selber sich angegriffen sieht. Darum identifiziert sie sich mit der angegriffenen Partei und neigt dazu, sich nicht identifizierende Stimmen als Parteigängerinnen der gegnerischen Kriegspartei zu versehen. Das ist ebenso wirksam wie eigentümlich. Denn eigentlich sind das Zivile und der Krieg Gegensätze. Diesen Unterschied verwischt die Selbsteinberufung der Zivilgesellschaft. Sie weiß sich jetzt als Kriegspartei, als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln – sie weiß sich als Kriegszivilgesellschaft“ (Gunnar Hindrichs, Abseits des Krieges, S. 8).
Wenn Olaf Scholz am 22. April 2024 beim Festakt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft zum 300. Geburtstag von Immanuel Kants dazu geraten hat, dessen Schrift ›Zum ewigen Frieden‹ gerade jetzt aufs Neue in die Hand zu nehmen, weil der Friede auch heute noch und heute wieder notfalls mit Krieg ›gestiftet‹ werden muss, missversteht er Kant (vergleiche dazu https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/reden/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-festakt-zum-300-geburtstag-von-immanuel-kant-am-22-april-2024-in-berlin-2272896 und Gunnar Hinrichs, Zum ewigen Frieden. In: Merkur Nr. 902, 78. Jahrgang, Juli 2024, S. 50). Mit einer Kriegsführung um des Friedens willen hat die Schrift des Königsbergers nichts zu tun. „Vielmehr verlangt sie, unter der Perspektive eines Zustands zu arbeiten, in dem das Prinzip der Selbsterhaltung außer Kraft gesetzt wird […]. Wahrhaft gestiftet wird der Friede erst dann, wenn kein selbstisches Ziel mehr verfolgt wird“ (Gunnar Hindrichs a. a. O. S. 55). Der „ewige Friede“, den Scholz anstrebt, ist anders ausgerichtet und konnotiert. „Ihm zufolge ist der ewige Friede der noch zu stiftende ewige Friede eines weltweiten Liberalismus […]. Die militärische Bestimmtheit jener Stiftung gehört zu dieser Lage. Sie verlangt den Krieg als Fortsetzung der globalen Friedensordnung mit anderen Mitteln“ im Weltinnenraum des Kapitals (Gunnar Hindrichs a. a. O. S. 57; Micael Hardt / Anton Negri).
Hindrichs braucht deshalb für seine Argumentation gegen den Krieg mehr als einen Anlauf. Er beschreibt den Krieg in nicht weniger als zehn Aspekten und beleuchtet ihn dann unter den Stichworten Weltgeschichte, Recht, Macht, Befreiung, Selbsterhaltung, Helden, Institutionen, Angst, Religion und Militarismus. Unter den zehn Gesichtspunkten führen neun in Aporien. „Die Weltgeschichte mündet in Resignation; das Recht mündet in Schicksal; die Macht mündet in Bosheit; die Befreiung mündet in Herrschaft; die Selbsterhaltung mündet in Selbstverstümmelung; das Heldentum mündet in Rechthaberei; die Institution mündet in Ausgesetztsein; die Angst mündet in Vernichtung; und die Religion mündet in Gewalt. Der zehnte Gesichtspunkt artikuliert die allgemeine Vergesellschaftungsform all dieser Aporien: den Militarismus mit seiner Erstickung menschlichen Miteinanderhandelns“ (Gunnar Hindrichs, Abseits des Krieges, S. 109).
Hindrichs hat in seinem Kapitel „Religion“ daran erinnert, dass der in der hebräischen Bibel berichtete Auszug aus der ägyptischen Sklaverei ein Auszug ohne Gewalt, ein Auszug auf Hoffnung und ein Auszug in die Freiheit war. Damit wurde der Exodus „zum Vorbild neuzeitlicher Revolutionen. Und das zeigt: im Kern geht es hier statt um interreligiöse Gewalt um den revolutionären Kampf. Legt man das frei, dann bildet der Monotheismus keine Religion des Krieges mehr. Stattdessen spricht er von der Transzendenz der Freiheit und ihrem Kampf“ (Gunnar Hindrichs S. 95). Letztlich dient auch Hindrichs’ Darstellung des Krieges seiner Überwindung und dem erhofften Frieden, auch wenn von ihm wenig die Rede ist.
„Dass man vom Frieden nicht spricht und dennoch vom Krieg nicht schweigt, beruht einfach darauf, dass die Friedensrede rasch in Kitsch mündet. Nur theologisch lassen sich ohne Scham Worte sprechen wie ›Wolf und Lamm sollen weiden zugleich, der Löwe soll Stroh essen wie ein Rind, und die Schlange soll Erde essen‹ und ›Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen‹. Holt man sie aus der theologischen Rede heraus, in der sie unlösbar mit dem Ersten und Letzten verbunden sind, werden sie sentimental.
Aus diesem Grund scheint das Nein des Antimilitarismus die äußerste Möglichkeit sinnvoller Rede über den Krieg zu bilden. Allerdings bedeutet das nicht, dass man gar keine Aussage über seine Perspektive treffen könnte. Wir haben ja gesehen, dass der Militarismus das Miteinanderhandeln radikal ausschaltet. Seine Verneinung verneint daher diese Ausschaltung ebenfalls radikal. Und hieraus ergibt sich die Perspektive des Antimilitarismus: er geht auf die radikale Möglichkeit freien Miteinanderhandelns. Das ist nicht wenig. Denn es erteilt einerseits Auskunft über seine Vollzugsform und antizipiert andererseits die Lebensform, zugunsten derer sein Vollzug die bürgerliche Gesellschaft mit ihrem Schatten zu überwinden sucht: beides geht an die Wurzeln des Miteinaderhandelns […].
Hier blitzt auf, was es mit der Idee des Friedens auf sich haben könnte: sie umrisse den Geltungsbereich freien Miteinanderhandelns. Mehr lässt sich wohl nicht sagen. Aber es bildet einen neuen Abschlussgedanken. In ihm wären die Fluchtlinien einer Weltgeschichte zusammengeführt, die ihre Zukunft nicht vergisst, sondern aus der Verneinung der militaristischen Gegenwart entwirft. So würde die zerbrochene Weltgeschichte der Resignation, deren unbewältigten Wiedergänger der Zeitenwendekrieg darstellt, durch eine Weltgeschichte der Antizipation überwunden“ (Gunnar Hindrichs S. 111 f.).
ham, 8. Juli 2024