Patmos Verlag, Ostfildern 2025, ISBN 978-3-84361593-8, 352 Seiten, Hardcover, Format 22,5 × 14,7 cm, € 36,00

Nach Martin Luther interpretiert sich die Heilige Schrift selbst: „Scriptura sui ipsius intepres“ (Vergleiche dazu Volker Leppin, Wie legt sich nach Luther die Schrift selbst aus? Luthers pneumatische Hermeneutik. In: https://bibliographie.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/112631/Leppin_385.pdf?sequence=1). Eugen Drewermann legt den Römerbrief im Sinne von Luthers Hermeneutik vom Ganzen der Bibel her aus und als Psychoanalytiker von einem hilfreichen Umgang mit den Widersprüchen zwischen Über-Ich und Es, zwischen Kultur und Natur, zwischen Entfremdung und Selbstidentität her: Um „die Verlorenheit des Ich inmitten einer zutiefst gott- und gnadenlosen Welt in ganzem Umfang zu ermessen, ist es unumgänglich, der Existenzanalyse zu folgen, die der Däne Søren Kierkegaard beispielhaft in seinem Essay über »Die Krankheit zum Tode« dem Phänomen der Verzweiflung als einem Missverhältnis der geistigen Einstellung zu sich selbst gewidmet hat. Viele Aussagen Pauli, die in ihrer theologischen Tradition einem unmittelbaren Zugang erratisch im Wege zu stehen scheinen, erweisen allererst im Ausgang von den Lebensfragen des menschlichen Daseins her die ihnen gebührende Aktualitäten und Unausweichlichkeit. Im Folgenden überstellen wir daher Paulus und seinen Römer-Brief nicht, gewissermaßen wie eine Stalagmitenprobe aus der Eiszeit einem Labor zur Klimaforschung, durch die 2000 Jahre des zeitlichen Abstands von damals in die Gegenwart heutiger Leser, sondern wir nehmen umgekehrt Menschen von heute bei der Hand und lesen mit ihnen die Ausführungen Pauli als Antworten auf die nach wie vor ungelösten Fragen und Probleme ihrer Existenz“ (Eugen Drewermann, Seite 58). 

Ungelöst ist die Frage, wie der Mensch ohne Wenn und Aber zu sich selbst, seinen Taten und Untaten stehen,  sich in seinem Dasein angenommen und von Grund auf berechtigt fühlen kann. Allein die Botschaft Jesu von einem Gott der Güte, der den Menschen absolut bejaht und ihm seine Schuld bedingungslos vergibt, kann ihn aus diesen Ängsten erlösen und die Fülle des Seins erfahren lassen. Eugen Drewermann legt den Römerbrief deshalb von der Paradies- und Urgeschichte (Genesis 2,4 b bis 11,9) ebenso aus wie von der Berufung Jeremias, der die überkomme Vorstellung des gerecht richtenden und strafenden Gottes nach der Einnahme Judas durch die Babylonier als endgültig erledigt ansah und sie ersetzte durch die Ansage eines von Grund auf neuen Bundes, der, anders als der alte, auf Stein geschriebene Bundesschluss am Sinai, nicht mehr der Ahndung menschlicher Verfehlungen bedurfte, sondern der das Versprechen der Vergebung aller Schuld  ganz und gar ins Herz des Menschen einschreiben würde (vergleiche dazu Eugen Drewermann, Seite 18 f.):

„Gott stößt die sich Verirrenden nicht von sich fort, im Gegenteil, er geht nach ihnen auf die Suche, um sie heimzuführen, und er gibt die sich-Verlierenden niemals verloren.

Jedoch! Indem Jesus Gott als ganz und gar »väterlich« und gütig zu den Menschen zurückbrachte, stieß er mit seinen Worten und Verhaltensweisen auf den heftigsten Widerstand der gesetzesstrengen Schriftgelehrten und der Hohenpriester in Jerusalem. Sich verurteilten Jesus als Gesetzesbrecher und Unruhestifter zum Tode und ließen dieses Urteil von der römischen Besatzungsmacht ausführen. Konnte er der verheißene Sohn Davids, der Messias, sein, wenn er, statt einen Gotteskrieg gegen die Heiden auszurufen, sich friedfertig und freundlich auf sie einließ, und jederlei Gewaltanwendung ausschloß? Für Paulus hat sich Christus am Karfreitag selbst als Opfer für die Sünden der gesamten Menschheit dargebracht, um sie in seinem Blute zu erlösen. Diese merkwürdig wirkende Auffassung, die aus dem priesterlichen Denken stammt und eine eigene Interpretation erfordert, hat Paulus bereits in dem feierlichen Ritual des Abendmahls in den Gemeinden kennengelernt; er hat sie nicht erfunden, wohl aber hat er sie konsequent zu Ende gedacht: Als der Erlöser aller Menschen von Schuldvorwürfen und von Strafvorstellungen ist Jesus durch den Tod am Kreuz von Gott als der Messias Israels, als Christus, eingesetzt und zu der rechten seines Throns erhöht worden (Röm 1,4)“ (Eugen Drewermann, S. 19).

„Wenn Paulus es als Rettung und Erlösung schildert, Christus begegnet zu sein, so spricht er, ohne es weiter zu thematisieren, innerhalb seines eigenen Erlebens von genau dem, was in den Evangelien als eine Vielzahl von Heilungswundern Jesu berichtet wird. Im Grunde gibt er damit jene Perspektive vor, die für das Selbstverständnis Jesu zentral war. Als er die Zwölf aussandte »zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel«, trug er Ihnen auf: »Geht und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt böse Geister aus (Mt 10,7-8).

Wie nahe Gott den Menschen ist, zeigt sich entsprechend diesen Worten an der Heilkraft, die von der Art ausgeht, wie man zu ihnen von Gott redet: Die Zuversicht in Gottes unbedingte Güte ist heilend in Bezug zu all den Krankheitsformen, die aus der Angst und Heimatlosigkeit der Gottesferne selbst hervorgehen. Gottes- verkündigung (Theologie) war in den Augen Jesu Seelenheilung (Psychotherapie), – beides war für ihn ein und dasselbe“ (Eugen Drewermann, S.170).

Für Drewermann stehen Psychotherapie und Seelsorge engsten beieinander. Mit „dem Vertrauen, das sie wechselseitig sich entgegenbringen, setzen Klient wie Therapeut die Zuversicht eines Behütetseins voraus, das jeden Menschen in der Begrenztheit seiner Zeit und Energie unendlich übersteigt. Die Sorge des Beraters, was nun wird, wenn sich sein Patient am Ende einer Stunde verabschiedet, findet insofern keine Antwort, es sei, man legt sie voll Vertrauen in die Hände dessen, der über alle von uns wacht. Einzig in diesem Glauben besitzt das Wagnis einer Psychotherapie eine gewisse Rationalität: der Therapeut, der in der Rolle einer mütterlichen oder väterlichen Fürsorge gefordert wird, kann die an ihn gestellten Hoffnungen real in keiner Form erfüllen, er kann indes mit seinem eigenen Vertrauen in eine mütterliche, väterliche Macht im Hintergrund auch seines Daseins gleichwohl sich so verhalten, dass er dem anderen symbolisch zum Repräsentanten und Vertreter dessen wird, wonach der Hilfesuchende mit aller Leidenschaft verlangt.

Und dies ist nun der Punkt, an welchem Paulus, anscheinend fast selbstverständlich, für den Umgang miteinander anempfiehlt, »beharrlich im Gebet« zu sein (Röm 12,12). Man mag und muss das so verstehen: Wenn jemand einen anderen in sein Herz schließt, bildet sich eine Verbundenheit, die sich darin bestätigt, voneinander nicht zu lassen. Jedem ist klar, dass Zeit und Raum viel zu begrenzt sind, um ein Versprechen dieser Art auch nur im Ansatz einlösen zu können; doch alle Liebe ist Verlangen nach Unendlichkeit; in ihren ganzen Wesen greift sie zu den Sternen. – Und so ist sie ein nicht endendes auf immer lebendes Gebet, flehentlich, fürbittend, umsorgen, dankend, stellvertretend; umfassend ebenso wie freilassend, verschmelzend, ebenso wie auch vereinzelnd, Verantwortung schenkend ebenso wie sie ermöglichend“ (Eugen Drewermann, Seite 179).

Wer sich freilich so verhält, „muss mit seinem Eintreten für Mitleid, Güte und Versöhnung den intensiven und den interessierten Widerstand all derer provozieren, die sich von einer Fortsetzung der bestehenden Verhältnisse Gewinn, Wachstum und Sicherheit versprechen und die jede Veränderung der Zustände, mit denen sie en gros zufrieden sind, mit Argwohn und Verärgerung belegen. Sie erklären schon den Willen zum Verhandeln und Verständigen für ein Signal der Schwäche und der Feigheit an einen Gegner, den man damit zu seinen Untaten nur noch mehr ermutige; feindliche Widerstände müsse man am besten gleich im Keim ersticken, so die Devise der stets Siegreichen; und dazu dient Ihnen die Strategie des Aufbaus steter Drohkulissen von Abschreckung, Stärke und Entschlossenheit – das sind in ihrer Sprache Wertbegriffe. Sie wissen wohl, dass mit dieser Einstellung jeder Konflikt nur eskalieren kann, doch macht das ihnen nicht viel aus, solange sie an ihre wirtschaftliche und militärische Überlegenheit als Garantie für ihren Endsieg un- erschüttert weiter glauben“ (Eugen Drewermann, Seite 191 f.).

Dass diese Grundhaltung dem Denken Jesu völlig entgegensteht, ist offenkundig. Insofern ist es konsequent, dass Paulus an einen totalen Neuanfang und eine Wiedergeburt im Sinne Jesu denkt: »Zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist, in gänzlicher Daseinsbejahung und innerer Heilwerdung«, sagt Paulus (Eph 4,24) und fasst damit das Hauptanliegen Jesu in einem einzigen Satz zusammen, dessen Inhalt er zu Recht konzentriert und konfrontiert sieht in der Frage nach dem Leben angesichts des Todes: welch eine Hoffnung gibt es in Anbetracht der physisch sicheren Tatsache unsere Sterblichkeit. „Wer sich derart, wie Jesus es getan hat und in seiner Nachfolge auch Paulus, gegen die ganze Welt stemmt, um diese von sich selber zu erlösen, benötigt eine Hoffnung, welche die Endlichkeit des Irdischen einträgt in die Unendlichkeit des Überirdischen und Göttlichen. Nur eine Hoffnung, die der Lebensfeindlichkeit eines Verzweifelten das Leben wiederschenkt, ist stark genug, das Todesurteil, das er über sich bereits gefällt sieht, in einen Freispruch umzukehren; nur sie füllt seine Leere aus, mit jenem Reichtum, den das Mitleid mit dem Leid der vielen, denen es ganz ähnlich geht, vermittelt. Eine solche Hoffnung, brachte Jesus vom Himmel mit auf die Erde, in dem er glaubte, an die Auferstehung“ (Eugen Drewermann S. 193 f.).

Für Paulus folgert daraus, dass Gott der bedingungslos Daseinsbejahende ist:  Er ist überzeugt, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Machthaber, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, auch keine sonstigen Einflüsse, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden können von der Liebe Gottes, die erfahrbar ist in Jesus Christus, unserem Herrn (Römer 8,33-39). Was ist uns dann aber Religion und wer ist uns, Christus?

„Religion, so sahen wir, – das ist die Sehnsucht nach Bejahung, Anerkennung und Bestätigung unseres durch nichts zu rechtfertigenden individuellen Daseins. Kein Stern am Himmel, kein Naturgesetz, kein Quantensprung im Energieaustausch kann uns erklären, warum und wozu wir sind, – all das hat uns ermöglicht und hervorgebracht, doch ohne uns zu meinem. Unser Verlangen aber strebt nach einer Seinsbegründung nicht in der Notwendigkeit mechanischer Kausalität, sondern in der Freiheit eines Willens, der möchte, dass es uns in dieser unserer unwiederholbaren Einzigartigkeit für eine kurze Zeit auf dieser Erde und dann für immer im Reich Gottes gibt. Deshalb ist Religion nicht einfach Schleiermachers Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, sie ist vielmehr die unstillbare und unendliche Bedürftigkeit nach einer Ewigkeitsbedeutung unseres individuellen Daseins, – nicht in der redseligen, wankelmütigen und launischen Beurteilung der Weltgeschichte, sondern in einem nicht-notwendigen, doch unbedingten Willen und Wohlwollen, das uns selbst als unbedingt notwendig in der Bedingtheit unseres Daseins allererst erschafft. Religion ist insofern ein Wissen um die Notwendigkeit eines personalen Gottes, der uns im Willen seiner Zuwendung und Liebe die nötige Notwendigkeit im Dasein zuspricht“ (Eugen Drewermann, Seite 257).

Im Ergebnis ist der Römerbrief des Paulus nach Drewermann „nicht anders auszulegen als ein … »Blick ins ewige Licht«, als Zeugnis einer »Gnadenfülle«, die den Mut uns schenkt, die Gnadenlosigkeit der Welt zu überwinden, als »Band«, das alles, was geschieht, in »Liebe« eingebunden hält, indem sie möchte, daß wir sind und niemals davon lassen wird. In dieser Liebe leben wir, und alles: daß wir sind und was wir sind, ist Gnade“ (Eugen Drewermann, Seite 284). „Die Sehnsucht nach Unendlichkeit kann sich, im Wissen um die Endlichkeit unseres Daseins, nur erfüllen mit dem Blick zum Himmel, auf daß mit Pauli Worten, »wie Christus auferweckt ward von den Toten durch den Machterweis des Vaters, so auch wir in (völliger) Lebenserneuerung wandeln werden« (Röm 6,4). Einen solchen Wandel, der die ganze Welt verwandelt, schenkt und ermöglicht uns allein durch Jesus Christus Gottes Gnade. Das zu bezeugen und den Leser noch in Jahrtausenden davon zu überzeugen, war und bleibt Sinn und Absicht des Schreibens Pauli an die römische Gemeinde und damit an uns selbst“ (Eugen Drewermann, Seite 289).

ham, 18. August 2025

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